Wege aus der Krise - Grenzen und Dynamik des Kapitalismus

Tagung des Jenaer Zentrums für interdisziplinäre Gesellschaftsforschung

Kapitalismuskritik hat an der Uni Jena ein Zentrum. Eine Tagung Anfang Juni bestätigte, was 2009 das Erscheinen des Buchs „Soziologie – Kapitalismus – Kritik / Eine Debatte“ versprach. Die Autoren Klaus Dörre, Stephan Lessenich (Foto: links auf der Suche nach dem Ausweg) und Hartmut Rosa, eine Soziologieprofessoren-Boy-Group aus dem Westen, gründeten das „Jenaer Zentrum für interdisziplinäre Gesellschaftsforschung“. JenZiG versammelte nun zur Tagung „Wege aus der Krise / Dynamiken & Grenzen des Kapitalismus“ Wissenschaftler, Gewerkschafter und Politiker – von Allen J. Scott über Horst Schmitthenner bis Andrea Ypsilanti und Matthias Machnig.

Claus Offe, der auf dem legendären Soziologentag 1968 mit dem Disparitäten-Theorem die Kapitalismuskritik erneuerte, konstatierte vier Jahrzehnte später ein „Erklärungsdefizit bei so viel objektiver Dramatik“ und eine „Krise ohne Konflikt“. Der Finanzmarktkapitalismus taumelt, aber Klassenkonflikte sind stillgestellt: „Wir sind Opel“ rufen einträchtig Kapital und Arbeit, Linke und Rechte.

Reale Utopien zur Mobilität, die entwickelte Audi-Vorstandsmitglied Werner Widuckel. Offenbar ist der Kapitalismus, „der alte Schlawiner“ (PeterLicht), der schon viele von Linken ausgestellte Totenscheine überlebte, revolutionärer als bisherige Sozialismusversuche: Aus Krisen geht er gehäutet und modernisiert hervor. „Pathologisches Lernen“ nannte das Andreas Freytag, Mitverfasser des „Jenaer Aufrufs“ zur Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft.

Die Jenaer Tagung machte ein factum brutum deutlich: Während der Kapitalismus einige Jahrhunderte auf dem Buckel hat, war der nach dem Zweiten Weltkrieg begonnene Realsozialismus nach nur vier Jahrzehnten am Ende. Gewerkschaftsvordenker Frank Gerlach rügte, daß die Wende 1989 in der Diskussion fehlte und erinnerte an den Wirtschaftstheoretiker des Prager Frühlings Ota Šik. Sogar Planung kann der Kapitalismus erfolgreicher: Michael Krätke verwies darauf, daß Indien gerade seinen 11. Wirtschaftsplan umsetzt.

Jens Wissel gab zu bedenken, was die Brüsseler Krisennächte Anfang Mai, als in Telefonaten und Hinterzimmern Obama, Trichet und Sarkozy vis-à-vis einer (fast) nichts sagenden Bundeskanzlerin heilige Prinzipien der Währungsunion außer Kraft setzten und dann Blitzgesetze dazu durch’s Parlament gepeitscht wurden, demokratietheoretisch bedeuten: „Wenn die Drohung der Finanzindustrie, daß sie uns alle mitreißen kann, stimmt, dann ist Demokratie strukturell unmöglich.“

Wer sich aus den Jenaer Kontroversen um Wolfgang Streecks Analyse „Re-Forming Capitalism“ oder Anita Engels Referat über CO2-Märkte und klimaneutrales Autofahren mit der Arktik-Tankkarte von JET in eine linke Andacht unter Gleichgesinnten mit der den Generalstreik predigenden Lucy Redler verirrte, erkannte, daß es auch linke „Wachturm“-Untergangspropheten gibt, die sich von den konkreten, höchst unterschiedlichen Problemen der Gegenwartskapitalismen in Deutschland, Frankreich, Japan oder USA nicht beirren lassen.

Zuerst in:
UNZ - Die linke Zeitung für Politik, Arbeit, Soziales und Kulturelles in Thüringen; 20. Jg., Nr. 12/2010 - 2. Juni-Ausgabe