Porajmos

Der NS-Völkermord an den Sinti und Roma

in (10.07.2010)

Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden Hunderttausende Roma und Sinti als „Zigeuner“ verfolgt, deportiert und ermordet. Entsprechend dem Begriff Shoah, der Bezeichnung für den nationalsozialistischen Massenmord an Jüdinnen und Juden, wird der NS-Massenmord an den Roma und Sinti Porajmos genannt. Nach 1945 wurden die Verbrechen verschwiegen, Sinti und Roma wurden nicht als „aus rassistischen Gründen Verfolgte“ eingestuft. Erst 1982 erkannte Bundeskanzler Helmut Schmidt den NS-Völkermord an den Sinti und Roma offiziell als solchen an.


Der Porajmos begann nicht erst mit den Deportationen in die Vernichtungslager, sondern hatte seinen Ursprung in den Städten und Gemeinden in Deutschland. Tief verwurzelte antiziganistische Einstellungsmuster radikalisierten sich nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten. Die schon im Kaiserreich begonnene Sondererfassung von sogenannten Landfahrern und Zigeunern durch die Bayrische Landfahrerzentrale wurde fortgesetzt und verschärft. An der Verfolgung der Sinti und Roma waren die unterschiedlichsten Behörden beteiligt – besonders auf kommunaler Ebene. Die Kontrolle von „Landstreichern“ und „Obdachlosen“ lag in den Händen der Verwaltungspolizei, doch auch Ordnungs- und Kriminalpolizei waren Teil der Verfolgungsbehörden. Die Lebensweisen von Sinti und Roma wurden als „asozial“ stigmatisiert und kriminalisiert.

Radikalisierung der Verfolgung


Bereits im Frühjahr 1933 wurden in einigen Teilen Deutschlands die bestehenden Gesetze und Verordnungen, die sich gegen „Zigeuner“ richteten, verschärft. Ein erster Versuch, die unterschiedlichsten Verordnungen und Regeln zu vereinheitlichen, stellte die am 18. März 1933 rechtswirksam gewordene „Vereinbarung der Deutschen Länder über die Bekämpfung der Zigeunerplage“ dar. Diese Vereinbarung war von unterschiedlichen Polizeibehörden der Länder schon in der Weimarer Republik entwickelt, aber nicht umgesetzt worden. Ziel war ein Austausch von Daten und Informationen, der Entzug von Wandergewerbescheinen sowie die Ausweisung ausländischer und staatenloser „Zigeuner“. Am 6. Juni 1936 trat der reichsweite „Erlass zur Bekämpfung der Zigeunerplage“ in Kraft. Dieser Erlass hatte die ständige Kontrolle von Sinti und Roma zur Folge. Dies zeigte sich in der Zwangseinweisung „verwahrloster Zigeunerkinder“ in die Einrichtungen der Fürsorgeerziehung. Roma und Sinti über 16 Jahren wurden zur Arbeit gezwungen und in Arbeitshäusern interniert. Dieser Erlass brachte zwar keine inhaltlichen Neuerungen, radikalisierte jedoch die rassistische Auslegung, wer „Zigeuner“ sei.
Eines der ersten „Zigeunerlager“ wurde im Frühjahr 1936 in Berlin-Marzahn eingerichtet. Anlässlich der Olympischen Spiele sollte Berlin von Sinti und Roma „gesäubert“ werden. Auf Grundlage des Erlasses vom 6. Juni 1936 wurden im Raum Berlin Razzien durchgeführt. Sinti und Roma wurden von Polizei und SA-Einheiten zusammengetrieben und interniert. 1937 begann dann reichsweit die Internierung von Sinti und Roma nach rassenideologischen Kriterien. Auch auf dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalen wurden solche „Zigeunerlager“ errichtet oder schon bestehende Lagerplätze umfunktioniert. Die Lager dienten der Festsetzung der Sinti und Roma, der Ausbeutung durch Zwangsarbeit und später als Sammellager und zur Vorbereitung der Deportationen in die KZs und Vernichtungslager.

Ideologie des Antiziganismus

Die ideologische Voraussetzung für die Stigmatisierung und Verfolgung von Sinti und Roma stellten antiziganistische Vorurteile und Stereotypen dar. Der Göttinger Historiker Moritz Grellmann schuf mit seinem Buch „Historischer Versuch über die Zigeuner“ Ende des 18. Jahrhunderts die Grundlage für die Rassifizierung des Antiziganismus. Mit dem Aufkommen des Sozialdarwinismus und des völkischen Denkens wurden Roma und Sinti als „minderwertig“ und „fremdrassig“ angesehen. Die auch in Deutschland rezipierte Forschung des italienischen Kriminalbiologen Cesare Lombroso stigmatisierte sie zudem als „angeboren kriminell“ und „asozial“. An diese rassistischen Vorstellungen knüpfte die NS-Rassenideologie direkt an. Doch nicht nur in der „Wissenschaft“ waren solch antiziganistische Vorstellungen vertreten. Das Bild der dreckigen, bettelnden und stehlenden „Zigeuner“ war tief in der Gesellschaft verwurzelt. Sinti und Roma waren einer kontinuierlichen Ausgrenzung ausgesetzt. Anders als bei Jüdinnen und Juden hatte es keinerlei Emanzipation von Roma und Sinti gegeben; sie waren auch vor 1933 einer polizeilichen Sondererfassung ausgesetzt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden.
Anknüpfend an das rassistische Zigeunerbild lieferte die in der Medizin und der Biologie weit verbreitete „rassenbiologische Erbforschung“und „Rassenhygiene“ die ideologische, pseudowissenschaftliche Grundlage und Vorarbeit für den Massenmord an den Sinti und Roma. Bereits von dem 1933 erlassenen „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das die rechtliche Grundlage für die Zwangssterilisation und die Ermordung von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in den Euthanasieprogrammen bildete, waren Sinti und Roma betroffen.
Grundlegend für die Stigmatisierung als „erbminderwertig“ und „artfremde Rasse“ waren vor allem die „Untersuchungen“ und die „Forschung“ der Rassenhygienischen und erbbiologischen Forschungsstelle unter der Leitung des „Zigeunerforschers“ Robert Ritter. Als Direktor der Forschungsstelle betrieb er „rassenhygienische Untersuchungen an Zigeunern“. Ab 1936 wurden Sinti und Roma durch die Forschungsstelle erfasst und als „stammechte Zigeuner“ bzw. „Zigeunermischlinge“ klassifiziert. Es wurden Stammbäume erstellt, um die „Rassenzugehörigkeit“ zu bestimmen. Dabei griffen die „Zigeunerforscher“ auf Unterlagen von Polizei, Einwohnermeldeämtern, Fürsorge- und Gesundheitsämtern sowie der Kirche zurück, welche die Materialien bereitwillig zur Verfügung stellten. Mitarbeiter der Forschungsstelle, so auch Ritters Assistentin Eva Justin, waren als sogenannte „fliegende Arbeitsgruppen“ unterwegs, um in den „Zigeunerlagern“ und später auch in den KZs die Familienverhältnisse der Roma und Sinti auszuforschen. Insgesamt erfasste die Rassenhygienische Forschungsstelle ca. 30.000 Roma und Sinti im „alten Reichsgebiet“, in der „Ostmark“ und dem „Sudetenland“. Dabei wurde in der rassistischen Klassifizierung deutlich schärfer vorgegangen als bei Jüdinnen und Juden.
Mit den „Nürnberger Rassegesetzen“ wurden Sinti und Roma schließlich auch als „artfremde Rasse“ aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen. Zwar wurden sie in den „Rassegesetzen“ nicht explizit genannt, doch wurden sie in den von Wilhelm Stuckart und Hans Globke verfassten Kommentaren zu den Gesetzen den Juden gleichgestellt. Sie waren somit einer doppelten Verfolgung ausgesetzt: Einerseits als „Asoziale“ und „Erbkranke“ im Sinne der Rassenhygiene, andererseits als „Artfremde“ und „Minderwertige“ im Sinne des völkischen Rassismus.

Deportationen und Vernichtung


Mit dem Beginn des Vernichtungskrieges im Osten und den damit einhergehenden Siedlungsplänen der Deutschen veränderte sich auch die Situation der Roma und Sinti. Am 22. September 1939 wurde auf einer von Reinhard Heydrich, dem mit der Vertreibungsaktion beauftragten Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), einberufenen Konferenz beschlossen, alle im „Großdeutschen Reich“ lebenden „Zigeuner“ in die besetzten Gebiete in Polen zu deportieren. Mit dem „Festsetzungserlass“ vom 7. Oktober 1939 wurde allen „Zigeunern“ verboten, ihren Aufenthaltsort zu verlassen. Mit dem Erlass begann eine erneute Welle von Festnahmen und Einweisungen in Konzentrationslager. Am 27. April 1940 ordnete Heinrich Himmler die Deportation von fast 3.000 Roma und Sinti aus dem Westen Deutschlands ins besetzte Polen an. Um die Deportationen zu organisieren, wurden Sammellager in Hamburg, Köln und Stuttgart eingerichtet. In Köln wurden Sinti und Roma aus dem Ruhrgebiet und dem Rheinland auf dem Messegelände in Deutz interniert. Am 21. Mai wurde das Sammellager aufgelöst, die seit Tagen sich dort befindenden Menschen wurden vom Bahnhof Deutz-Tief aus ins besetzte Polen deportiert. Aus Österreich wurden im November 1941 5.000 Roma und Sinti ins Getto von £ódz deportiert. Den Höhepunkt der Deportationen aus dem Reichsgebiet in die Gettos und Vernichtungslager im Osten stellte Himmlers „Auschwitzerlass“ vom 16. Dezember 1942 dar. Alle noch im Reichsgebiet verbliebenen „Zigeuner“, ca. 10.000 Personen, sollten nach Auschwitz deportiert werden.
In Auschwitz-Birkenau wurde Anfang 1943 das sogenannte Zigeunerlager errichtet, in das Roma und Sinti aus ganz Europa gebracht wurden. Im „Zigeunerlager“ herrschten wie auch in den anderen Teilen des Lagers katastrophale Bedingungen. Unter den im KZ Auschwitz internierten Roma und Sinti befanden sich ungewöhnlich viele Kinder. Der SS-Arzt Josef Mengele führte an Roma- und Sinti-Kindern verschiedene medizinische Experimente durch. Aufgrund der Mangelernährung und der katastrophalen hygienischen Bedingungen kam es im „Zigeunerlager“ zum Ausbruch der äußerst seltenen Krankheit Wasserkrebs, die besonders Kinder und Jugendliche befiel. Mengele ließ zur Erforschung der Krankheit extra eine weitere Krankenbaracke errichten. Die erkrankten Kinder wurden zu Menschenversuchen missbraucht, ein Teil von ihnen wurde medizinisch versorgt und bekam zusätzliche Nahrung, um den Zusammenhang von Krankheitsverlauf, Lebensumständen, Ernährung und ärztlicher Pflege zu dokumentieren. Andere Kinder wurden auf Mengeles Befehl hin umgebracht, um an ihnen pathologische Untersuchungen durchzuführen. Der SS-Arzt begann seine anthropologisch-rassische „Zwillingsforschung“ an Roma- und Sinti-Kindern. Insbesondere eineiige Zwillinge weckten sein Interesse. Die von Mengele zu Untersuchungszwecken ausgewählten Kinder bekamen eine „Sonderbehandlung“, er gewährte ihnen bessere Nahrung, Süßigkeiten und Spielzeug. Die Kinder wurden in einem gesonderten Block untergebracht. An etlichen führte Mengele zugleich entsetzlichste Experimente durch; dabei wurden die Kinder verstümmelt und vergiftet. Die meisten starben unter qualvollen Schmerzen. Die wenigen, die nicht an den Experimenten starben, wurden auf Mengeles Befehl ermordet.
In der ersten Hälfte des Jahres 1944 wurden alle noch als arbeitstauglich erachteten sowie für sogenannte medizinische Versuche vorgesehenen Roma und Sinti in Konzentrationslager im „Reichsinneren“ – Buchenwald, Flossenbürg, Mauthausen und Ravensbrück – deportiert. Am 16. Mai 1944 versuchte die SS schließlich, das sogenannte Zigeunerlager zu liquidieren. Der Versuch scheiterte zunächst jedoch am Widerstand der verbliebenen Roma und Sinti. In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wurden die 2.897 noch lebenden Roma und Sinti in den Gaskammern von Auschwitz ermordet.

Massenmord in den besetzten Ländern


Mit der Zerschlagung Jugoslawiens durch die Achsenmächte setzte auch auf dem Balkan eine massive Verfolgung von Juden und Roma ein. Besonders in dem von Deutschen besetzten Serbien und dem formal unabhängigen Staat Kroatien unter der faschistischen Ustascha kam es zu massenhaften Ermordungen. In Kroatien gab es mehrere „Zigeunerlager“ und Gettos, in denen Roma interniert wurden. Tausende starben allein im „Zigeunerlager“ in Jasnov; die genauen Zahlen wurden nie ermittelt. Schätzungsweise wurden bis zu 90.000 Roma von der Ustascha umgebracht. In Serbien waren sogenannte Einsatzgruppen aktiv, die aus Polizei, Wehrmachts- und SS-Einheiten bestanden und hinter der Front unter dem Deckmantel der „Partisanenbekämpfung“ Massaker an tausenden ZivilistInnen begingen. In Serbien wurden ebenso zahlreiche Konzentrationslager errichtet, in denen – neben Juden und Jüdinnen – Roma eingesperrt und ermordet wurden. Auch aus Ungarn, aus Tschechien und aus den anderen von Deutschland besetzten Gebieten wurden Roma und Sinti in die Gettos und Vernichtungslager deportiert.

Fazit

Während des Nationalsozialismus wurden zirka 500.000 Roma und Sinti ermordet, unzählige weitere wurden Opfer von Zwangssterilisation, Verfolgung und Deportation in Arbeitshäusern und Konzentrationslagern. Um ihre Anerkennung als Verfolgte mussten die überlebenden Roma und Sinti lange kämpfen. Der Porajmos fand auch in den Dörfern und Städten statt, die Stigmatisierung und Ausgrenzung waren die Grundlage für Verhaftungen, Deportationen und Ermordung. Die Täter der „Zigeuner“-Verfolgung blieben straflos. Robert Ritter wurde 1947 Leiter der städtischen Fürsorgestelle für Nerven- und Gemütskranke in Frankfurt am Main, Eva Justin wurde Kriminalpsychologin, ebenfalls in Frankfurt, und auch Joseph Mengele konnte sein Leben in Freiheit fortsetzen.

 

Aus: Lotta - antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen, Nr. 39, Sommer 2010, http://projekte.free.de/lotta