Europa noch immer ein „Herrenhaus“

Über 50 Jahre Europäische Gleichstellungspolitik

in (22.07.2010)

Die letzten 50 Jahre Europäischer Gleichstellungspolitik als Erfolgsgeschichte zu erzählen, wäre unangemessen. Die Römischen Verträge, die am 1. Januar 1958 in Kraft getreten sind, markieren den Ausgangspunkt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die dann zur Europäischen Union mit inzwischen 27 Mitgliedsstaaten erweitert wurde. Obwohl die Europäische Gemeinschaft nur „Gründungsväter" hat, wird auch die Europäische Gleichstellungspolitik 52 Jahre alt. Denn der Art. 119 in den Römischen Verträgen, zur Lohngleichheit zwischen allen Geschlechtern, bildet hierfür den Ausgangspunkt. 

Dieser Artikel fand seinen Weg in das Vertragswerk aus wettbewerbspolitischen Überlegungen und weniger aus feministischer Gesinnung. Es war vor allem die französische Regierung, die den Passus zum Schutz ihrer sozialen Errungenschaft durchgesetzt hat. Kein Mitgliedsstaat sollte durch billige Frauenlöhne einen Wettbewerbsvorteil gegenüber einem anderen Staat mit geringer Frauenerwerbsbeteiligung und entsprechend weniger billigen Arbeitskräften haben. Obwohl der Art. 119 dem zentralen Ziel der Wirtschaftsfreiheit in einem gemeinsamen Markt untergeordnet war und ist - und obwohl er durch eine Reihe weiterer Verträge ergänzt wurde - ist er bis heute nicht verwirklicht. In dem halben Jahrhundert von der EWG bis zur EU hat sich das Leben der Frauen in Europa in vieler Hinsicht gewandelt. Nicht immer und keinesfalls in allen Ländern zum Positiven. Das „Herrenhaus Europa" brachte für Frauen Gestaltungsmöglichkeiten ebenso wie Beschränkungen und auch konservative Rückschläge. 

 

Dass in der Gleichstellungspolitik innerhalb der EU Mitgliedsstaaten erhebliche Diskrepanzen bestehen, zeigt eine im Februar 2008 veröffentlichte Vergleichsstudie von 30 Ländern - neben den 27 Mitgliedsstaaten wurden Island, Liechtenstein und Norwegen einbezogen. In keinem Land der EU ist die Gleichstellung wirklich erreicht, das zeigt sich besonders mit Blick auf den Gender-Pay-Gap. Frauen verdienen seit Jahren EU-weit durchschnittlich 17 % weniger als Männer; Deutschland nimmt mit der Entgeltdifferenz von 23,2 % einen der letzten Rangplätze ein. 

 

Die Debatten um die Umsetzung der Europäischen Gleichbehandlungsrichtlinien erscheinen endlos. (Nicht nur) die deutsche Politik tut sich unter dem Druck der Wirtschaftsverbände schwer damit, den Politikansatz der EU in konkrete Schritte umzusetzen. Das zeigen die Schwierigkeiten, in Deutschland ein Antidiskriminierungsgesetz durchzusetzen, das erst 2006 in Kraft trat oder gar ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft, das noch immer aussteht. 

 

Mit der Lissabon-Strategie zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit Europas haben sich die Regierungschefs das Ziel gesetzt, für die gesamte EU die Erwerbsquote von Frauen von 55% im Jahre 2000 auf 60% bis zum Jahr 2010 zu erhöhen. Das Jahr 2010 schreiben wir bereits, die Quote ist nicht erfüllt. Nach wie vor gibt es in der EU einen geschlechterspezifisch geteilten Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Innerhalb der gesamten EU haben sich die Erwerbschancen von Frauen im Laufe der 53 Jahre nicht wirklich verbessert, obwohl ca. 60% der neu geschaffenen Erwerbsarbeitsplätze durch Frauen besetzt wurden. Seit den 1970er Jahren sind immer mehr Frauen lohnabhängig beschäftigt. Das Arbeitszeitvolumen, das von ihnen geleistet wird, sinkt jedoch. Die Unternehmen beantworten die verstärkte Nachfrage der Frauen nach bezahlter Arbeit mit kostensenkenden Flexibilisierungs- und Prekarisierungsstrategien. Der quantitative Zuwachs an Frauenarbeitsplätzen geht auf Kosten von Qualität und eigenständiger Existenzsicherung. Frauen arbeiten verstärkt auf den unteren Segmenten des Arbeitsmarktes, in Teilzeitarbeitsverhältnissen, als Saisonarbeiterinnen, Heimarbeiterinnen, Dienstbotinnen, als Billiglohnkräfte und in anderen prekären Arbeitsverhältnissen, bis hin zu den unbezahlten „mithelfenden Familienangehörigen", besonders in der Landwirtschaft, aber auch im Handel und im Handwerk. Frauen sind in den einzelnen EU-Ländern unterschiedlich von der Flexibilisierung betroffen, aber in allen Ländern stärker als Männer. Negative Auswirkungen hatten und haben besonders die schlecht qualifizierten Arbeitskräfte zu tragen. Die Mittel zur Förderung von Um- und Weiterqualifizierungsmaßnahmen wurden EU-weit jedoch gekürzt. 

 

Die Situation wurde in den meisten EU-Ländern durch die neoliberale Globalisierung, Arbeitsplatz- und Sozialabbau, Prekarisierung und zunehmende Erwerbslosigkeit härter. Für Frauen aus den osteuropäischen Ländern hat der Prozess von der staatlich kontrollierten Wirtschaft zur „freien Marktwirtschaft" zu erheblichen Verlusten geführt. Die wirtschaftliche Situation in diesen Ländern führt zur Verarmung und Ausgrenzung von Frauen, ethnischen Minderheiten und Rentnerinnen. Sie sind es, die von Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, Erwerbslosigkeit, dem Zerfall der sozialen Sicherungssysteme und dem Abbau der Kinderbetreuung besonders betroffen sind. Die positive Beeinflussung des Übergangsprozesses gestaltet sich besonders in den Ländern, die durch Krieg verwüstet worden sind, schwierig.

 

In fast allen EU-Ländern ist die Erwerbslosigkeit der Frauen höher als die der Männer. 2007 lag die Erwerbslosenquote EU-weit bei 7,1%; Frauen waren mit 7,8% dabei. Sie haben beim Zugang zu qualifizierten Ausbildungsplätzen immer noch die schlechteren Karten. Und das, obwohl die schulischen Leistungen der jungen Frauen oft besser sind als die der Männer. Auch an den Universitäten ist es den Frauen gelungen, die Männer zu überrunden; in Deutschland sind 60% der Hochschulabgänger weiblich. An der Tatsache, dass Frauen auf zu wenige Ausbildungsgänge und Studienfächer konzentriert sind, hat auch das zentrale „Programm zur Förderung der Chancengleichheit in der Beschäftigung und der beruflichen Bildung" der Europäischen Gemeinschaft wenig geändert. Mädchen werden oft bereits bei der Berufswahl auf die mögliche „Alternativrolle" in der Familie hingewiesen. 

 

Die Jugenderwerbslosigkeit, die sich in vielen Ländern zu einem der größten sozialen Probleme entwickelt hat, ist vor allem ein Frauenproblem. Europaweit sind 15,3% der Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren erwerbslos, zwei Drittel sind weiblich. Besonders betroffen sind ausländische Jugendliche und da wiederum die jungen Frauen. 

 

In allen EU-Ländern (mit Ausnahme der skandinavischen Länder) ist die Zunahme von Frauenerwerbstätigkeit auf die Zunahme von Teilzeitarbeit zurückzuführen. Im Jahr 2009 nahm die Zahl der Vollzeitstellen allein in Deutschland um 360000 ab, die Zahl der Teilzeitstellen legte hingegen um 270000 zu; 95% der Teilzeitjobs werden durch Frauen ausgeführt. Drastisch zugenommen hat der Anteil der Mini-Jobs. 

 

Die Senkung der Produktionskosten durch das Einsparen von Lohnnebenkosten hat nicht nur Folgen für die öffentlichen Haushalte. Sie zwingt Frauen faktisch überproportional zur Annahme von „Erwerbsarbeit um jeden Preis". Die Zunahme der prekären Beschäftigungsverhältnisse verhindert darüber hinaus eine Aufhebung des geschlechtsspezifisch geteilten Arbeitsmarktes, hemmt die berufliche Entwicklung der Frauen und verzögert eine Übernahme von Familienpflichten durch Männer in der Kleinfamilie. Frauen in Führungspositionen sind EU-weit eine Seltenheit. Nach der Lissabon-Strategie soll das Zwei-Verdiener-Modell das Alleinernährer-Konzept ablösen. Die modernisierte Variante des Alleinernährerkonzepts oder der Versorgerehe ist jedoch ein in Vollzeit beschäftigter Mann und eine teilzeit- oder geringfügig beschäftigte Frau. In allen EU-Staaten beeinflusst die Kinderzahl die Erwerbstätigkeit der Frau, nicht jedoch die des Mannes. Fehlende Rahmenbedingungen und Vorurteils-, Einstellungs- und Verhaltensstrukturen sind offensichtlich in den meisten Mitgliedsstaaten der EU zu finden. Geschlechtergerechtigkeit bedarf auch eines Umdenkens in den Köpfen.

 

Gisela Notz ist als Sozialwissenschaftlerin und Autorin freiberuflich tätig. Sie lebt in Berlin.