Editorial

Liebe Antifas, Freundinnen und Genossinnen, liebe LeserInnen!

Wir freuen uns, in so vielen Ländern aus Osteuropa Antifaschist_innen gefunden zu haben, die bereit waren, uns für diese Ausgabe über die politische Situation zu berichten, in der sie leben. In vielen Städten und Regionen gibt es zum Glück antifaschistische Szenen, in denen antirassistische Fussballfans, Umweltschützer_innen, Squatter_innen oder klassische Antifas zusammenkommen.

 
Wir sind uns bewußt, dass ihre Situation mit der unseren – auch wenn sich einige Phänomene ähneln – nicht zu vergleichen ist. Das betrifft insbesondere die massive potenziell tödliche Gewalt, der unsere Mitstreiter_innen ausgesetzt sind, als auch der hohe staatliche Druck, der teilweise auf ihnen lastet.

Noch während wir die ersten Artikel einplanten, sagten einige unserer russischen Autor_innen ab. Sie müssten sich um verschwundene und verhaftete Freunde kümmern, Zeit zum Artikel schreiben bliebe ihnen nicht. Hintergrund ist der Protest gegen die Abholzung eines Waldes in der Nähe der Moskauer Nachbarstadt Chimki. Die Baufirmen setzten lokale Neonazi-Schläger und die extrem rechte Hooligan-Gruppe »Gladiators« (Moskau) gegen die Aktivist_innen ein.

Nachdem es am 28. Juli 2010 zu Protesten in Chimki gekommen war, wurden die russlandweit bekannten Aktivisten Alexey Gaskarov und Maxim Solopov in Untersuchungshaft genommen. Nicht weil sie vor Ort angetroffen wurden, sondern weil die beiden zu den wenigen Sprecher_innen der antifaschistischen und antiautoritären linken Bewegungen in Moskau und in Russland gehören, die in der Öffentlichkeit auftreten. Beide stehen seit langem an der Spitze neonazistischer Tötungslisten im Internet.

Noch bis in die Endredaktion hinein erreichten uns neue und schockierende Berichte. Hier einige Beispiele: In der russischen Stadt Pushkin wurden am 14. August die als Antifas bekannten Unterstützer_innen des FC Karelien Discovery von ca. 100 neonazistischen Hooligans angegriffen. »Die Nazis kamen nicht, um sich zu prügeln, sondern um zu töten«, berichtete ein Antifaschist. Auf Fotos und Videos im Internet ist der Angriff mit Messern, Handäxten und Schusswaffen gut dokumentiert. Zu sehen ist, dass die anwesende Polizei nichts unternimmt und die Antifaschist_innen minutenlang um ihr Leben kämpfen mussten.

Ein ähnlicher Vorfall aus der Ukraine einen Tag später: Am 15. August 2010 griffen nach dem Spiel von Arsenal Kiew gegen Volyn Lutsk Neonazis die antirassistisch orientierten Fußballfans von Arsenal an. Letztere hatten während des Spiels Banner entrollt, die sich mit den inhaftierten russischen Antifas Alexej und Maxim solidarisierten. Direkt nach dem Schlusspfiff wurden sie von 50 Neonazis angegriffen. Auch hier waren die Angreifer mit Messern und Schlagringen bewaffnet, ein bewusstlos auf dem Boden liegender Antifaschist erhielt erst Messerstiche in den Brustkorb und dann in den Rücken.

Bei beiden Vorfällen ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sich einer der Angreifer je vor Gericht verantworten muß. Unsere Solidarität wird hier allemal benötigt und wir hoffen, dass unser Schwerpunkt Osteuropa nur der Beginn eines kontinuierlichen Austausches ist.

Von Jock Palfreeman, einem Antifaschisten, der in Bulgarien im Gefängnis sitzt, weil er angegriffenen Sinti und Roma zur Hilfe kam (AIB #87), erhielten wir einen Brief aus dem Gefängnis. Er berichtete aus der jüngsten Vergangenheit von häufigen tödlichen Angriffen auf Roma, Molotow-Cocktail-Attacken auf Gaypride-Marches und von einer niedergebrannten Synagoge. Die abschließenden Worte in Jocks Brief mögen für uns pathetisch klingen, doch bringen sie den inneren Antrieb vieler politischer Aktivist_innen (nicht nur) aus Osteuropa auf den Punkt – seien es Umwelt- oder Schwulen- und Lesbenaktivist_innen, Antifas oder bürgerliche Menschenrechtler_innen:

»My loss is my loss – their victory is a loss for all«

Einigen Abonnent_innen haben wir diesmal eine Ausgabe unserer Schwesterzeitschift »Lotta« aus NRW als Appetizer beigelegt.

Ausdrücklich empfehlend weisen wir noch auf die Konferenz »Antifaschistisches Familientreffen Manometer« hin, die vom 1. bis 3. Oktober in Kassel stattfindet. Infos und Anmeldung unter: www.manometer-familientreffen.org

Aus der Redaktion

Das AIB verwendet einen Unterstrich »_« zwischen männlicher und weiblicher Form eines Wortes als geschlechtsneutrale Schreibweise. Also z.B. »Leser_innen«. Damit wollen wir deutlich machen, dass neben männlichem und weiblichem Geschlecht noch andere Geschlechtsidentitäten existieren und diese ebenfalls in unseren Texten sprachlich darstellen. Ausgenommen sind hiervon Gruppen und Personen, die aufgrund ihrer Ideologie explizit für eine strikt zweigeschlechtliche Gesellschaft - bis hin zum Vernichtungwillen Personen uneindeutigen Geschlechts gegenüber, eintreten. Gastbeiträge können von dieser Konvention abweichen.

Das Titelfoto dieser Ausgabe stammt von brusher (fotolia.com).