Zwischen den Fronten humanitärer Interventionen

Michael Walzers gerechter Krieg, pazifistische Kritik und Konvergenzen des Konträren

Als Anfang Mai 2008 der Zyklon „Nargis" weite Teile Myanmars verwüstete und das Militärregime des Landes die angebotene internationale Hilfe zunächst ausschlug, ohne selbst in der Lage zu sein der eigenen Bevölkerung schnell zu helfen, kamen Forderungen auf, es nicht beim Angebot der Hilfe zu belassen, sondern sie gleich selbst und notfalls militärisch durchzusetzen (Richter 2008; Crispin 2008). Ein solches Vorgehen wäre ein Paradebeispiel für eine humanitäre Intervention gewesen: Staatsversagen führt zu einer Katastrophe, die das Eingreifen ausländischer Mächte nach sich zieht. Im vorliegenden Fall ist diese Option, außer von Frankreich, nicht ernsthaft erwogen worden. Dennoch, nicht nur von Naturgewalten ausgelöste und durch menschliches Versagen verstärkte, sondern vor allem auf massiven Menschenrechtsverletzungen beruhende humanitäre Katastrophen lassen regelmäßig den Ruf nach einer militärischen Lösung laut werden. Im Für und Wider dieser Option konstituiert sich eine zentrale Debatte über den legitimen Einsatz militärischer Staatsgewalt gegenüber souveränen Staaten, die aufgrund ihres moralischen Charakters und den immanenten Widersprüchen des Themas kontrovers geführt wird (Iser 2006). Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden zunächst die Konzeption des gerechten Krieges von Michael Walzer skizziert. Daran anschließend wird deren Kritik von pazifistischer Seite anhand der Positionen von Robert Holmes und Olaf Müller kurz umrissen. In der abschließenden Problematisierung der Debatte und ihrer Argumente wird der Frage nach möglichen Konvergenzen und strukturellen Divergenzen beider Positionen nachgegangen.

Die Position Michael Walzers

Die Anwendung legitimer staatlich-militärischer Gewalt im internationalen System bedarf eindeutiger und nachweisbarer Anlässe, die es interventionsbereiten Akteuren ermöglichen, mit den angemessenen Mitteln die Souveränität eines Staates durch eine humanitäre Intervention mit dem Ziel außer Kraft zu setzen, massive Menschenrechtsverletzungen zu beenden. Walzer beschäftigen folgende Fragen: „Erstens, was sind ihre Anlässe? Zweitens, welche sind die bevorzugten Akteure? Drittens, wie sollten die Akteure auf den Anlass reagieren? Und viertens, wann ist es an der Zeit, die Intervention zu beenden?" (Walzer 2007: 238; vgl. Walzer 2003: 82-97).1

Ausgehend vom klassischen Völkerrecht und dem darin festgeschriebenen Interventionsverbot in souveränen Staaten setzt Walzer die Bedingungen für eine die Souveränität verletzende Intervention folgendermaßen fest: Nur massive Menschenrechtsverletzungen wie beispielsweise ethnische Säuberungen oder gezielte Massaker an einer hilflosen Bevölkerung („acts that shock the conscience of humankind") können einen Einsatz rechtfertigen (Walzer 2007: 237).2 Diese Definition einer Interventionserlaubnis möchte Walzer jedoch nicht auf einer fixen Skala verortet wissen, da diese der Vielzahl konkreter Einzelfälle in Staaten verschiedener Ausprägung nicht gerecht wird und ein Interventionsgebot aufstellen würde, das nach einer von liberal-demokratisch geprägten Staaten weit ausgelegten Menschenrechts- und Legitimitätsdefinition zu einer drastischen Steigerung von Interventionen führen könnte (vgl. Bluhm/Geis 2004: 425). In Verkennung der kommunitaristischen Herangehensweise Walzers an die Frage politischer Souveränität, die durch partikulare Gemeinschaften der pluralistischen internationalen Staatenwelt unterschiedlich konstituiert wird, wurde ihm von utilitaristischer Seite vorgeworfen, menschenrechtsverletzende Staaten zu legitimieren (siehe etwa Doppelt 1978; Luban 1980). Es liegt jedoch in Walzers Intention, nicht allein ein philosophisches Prinzip wie den Rechtsutilitarismus zur Interventionsbegründung heranzuziehen, da so eine Aufweichung seines restriktiven Interventionsmodells unvermeidlich scheint, sondern auf Basis des Konzept einer minimalen Moral an der größtmöglichen Selbstbestimmung politischer Gemeinschaften festzuhalten, die nur in den eben geschilderten Ausnahmefällen von bestimmten Akteuren temporär ausgesetzt werden darf (Walzer 1980).

Die Frage nach den eine Intervention durchführenden Akteuren wird hinsichtlich der Möglichkeiten von Uni- oder Multilateralismus und nach den tatsächlichen Handlungsmotiven beantwortet. Den Idealfall stelle eine multilaterale Intervention im Rahmen eines vorher für entsprechende Krisensituationen entworfenen UNO-Mandats dar, das eine breite internationale Legitimation sicherstellen kann. Diese Möglichkeit schätzt Walzer jedoch aufgrund der UNO-Struktur als unwahrscheinlich ein. Er erkennt im unilateralen Handeln ein höheres Verwirklichungspotential, da so eine multilaterale Abstinenz nicht automatisch Interventionen ausschließt. Ein militärisch starker Staat mit guten Chancen, Menschenrechtsverletzungen zu beenden, sollte intervenieren. Das Recht auf Intervention kommt insofern für Walzer einer Verpflichtung sehr nah, da die Existenz eines intervenierenden Staates nicht auf dem Spiel stehe. Die Interessenlage des Staates und mithin seine Motive für (oder gegen) eine Intervention müssten jedoch beachtet werden, da die minimale Moral als Legitimation zwar notwendig, aber nicht hinreichend ist: „Ein reiner moralischer Wille existiert im politischen Leben nicht, und es sollte nicht notwendig sein, diese Art der Lauterkeit vorzugeben" (Walzer 2007: 243). Diese realistische Sichtweise politischer Praxis, die interne und externe Interessenlage eines Staates als Faktoren der Entscheidungsfindung berücksichtigt und als mögliche Gründe für eine humanitäre Intervention anerkennt, macht Interventionen in den gegebenen Ausnahmefällen plausibel. Die „Opfer von Massakern oder ,ethnischen Säuberungen' sind sehr glücklich, wenn ein angrenzender Staat oder eine Koalition von Staaten mehrere Gründe hat, sie zu retten. Es wäre dumm, die Multiplizität als moralisch verhindernd zu erklären" (ebda.: 243f).3

Die Intervention selbst könne nicht ohne die Anwendung von den zur Verfügung stehenden kriegerischen Mitteln, also auch Bodentruppen, durchgeführt werden, will sie ihre Ziele nicht verfehlen. In kritischer Bezugnahme auf den Bosnienkonflikt erteilt Walzer der Strategie des peacekeeping eine Absage, da dies Konfliktparteien bestenfalls räumlich trennt, nicht jedoch die Konfliktlage entschärfen kann, da der Aggressor nicht entwaffnet wird. Auch die Konzentration auf den Luftkrieg, der durch den Einsatz zielgerichteter Fernlenkwaffen („gezielte Tötung") die Verluste des Invasors minimieren soll, ist aufgrund der dadurch in Kauf genommenen zivilen Opfer („Kollateralschäden") bei Weiterbestehen des innerstaatlichen Terrors nichts weiter als die beelzebubsche Austreibung des Teufels. Nichtkombattanten müssen geschützt, Soldaten können im Bedarfsfall Gefahren ausgesetzt werden.4 Spekulativ erläutert Walzer einen weiteren möglichen Vorteil des Einsatzes von Bodentruppen: Durch Stationierung großer Heereskontingente an der Grenze des betreffenden Staates wird eindeutig der Wille zu einer Invasion mit möglichen eigenen Verlusten bekundet und so der Druck deutlich erhöht, das aggressive innerstaatliche Verhalten zu beenden. Im Fall des Kosovokonflikts wäre so wahrscheinlich das Bombardement, die anschließenden Flüchtlingsströme und damit die Dramatisierung und Emotionalisierung zu vermeiden gewesen, wenn eine kampfbereite NATO-Truppe an der Grenze zum Kosovo gestanden hätte.

Die zuletzt gestellte Frage nach der Dauerhaftigkeit einer Intervention ist nicht so eindeutig wie die vorherigen zu beantworten. Das Ziel, ein Massaker oder ethnische Säuberungen zu stoppen, legitimiere lediglich einen zeitlich mit der Erreichung dieses Ziels zu beendenden Einsatz, da territoriale Integrität und politische Souveränität, wenn schon verletzt, so doch als essentielle Konstanten der internationalen Staatenwelt wiederhergestellt werden müssen. Walzer konzediert, dass durch das alleinige Beenden der akuten Krisensituationen weder deren Ursachen noch die Möglichkeit von Vergeltung seitens der vorher Unterdrückten gebannt ist, vor allem in ethnisch gemischten Territorien. In solchen Gebieten, wie auch in den weiteren Fällen großflächiger Tötungen, wie in Kambodscha oder im Fall so genannter failed states, sei es notwendig, eine temporäre Besatzung mit dem Minimalziel zu errichten, die Bedingungen für zivilen Wiederaufbau und Koexistenz zu schaffen. Den Rahmen dafür bilden entweder eine Treuhandschaft, also direkte Ausübung politischer Gewalt durch den Okkupanten oder ein Protektorat unter Übergabe der politischen Macht an Einheimische bei Gewährleistung von Sicherheit und des reibungslosen Ablaufs ergebnisoffener politischer Selbstbestimmung. Die Gefahr für die Besatzer, in einen für sie nicht mehr zu kontrollierenden Konflikt zu geraten, sieht Walzer als Hauptgrund für die Negation einer Intervention, wenn keine anderen Anreize, beispielsweise ökonomischer Art, Staaten zu einer Intervention bewegen. Als Minimalziel einer Besatzung bleibt jedoch, neben der Beendigung einer humanitären Katastrophe, die Herstellung stabiler politischer Verhältnisse entscheidend, auch wenn über die konkreten Bedeutungen und Inhalte dieser Verhältnisse laut Walzer weitgehend Unklarheit herrscht.

Diese Grundlagen sind integraler Bestandteil legitimer humanitärer Interventionen. Die Verletzung einer Grundlage mache den gerechten Charakter des Gesamtkomplexes zwar fragwürdig, erfordert aber nicht zwingend den Abbruch einer schon begonnenen Intervention. Am Beispiel des Irak-Krieges schätzt Walzer die von der US-Regierung vorgebrachten Anlässe als nicht ausreichend für die Legitimation eines Angriffs ein, stellt jedoch klar, dass der einmal begonnene Feldzug angesichts der autoritären Führung Saddam Husseins dennoch gewonnen werden musste (Walzer 2004). Die Notwendigkeit der Schaffung funktionierender politischer Institutionen nach der Besetzung des Landes sei ebenfalls nicht durch die illegitimen Ausgangsbedingungen des Konflikts zu negieren. In der politischen Praxis behalten die aufgestellten Bedingungen also ihre Gültigkeit.

Über diese Überlegungen zu humanitären Interventionen hinaus gehen Walzers Vorstellungen, dass Opfer von Menschenrechtsverletzungen in tyrannischen Staaten gegenüber interventionsfähigen Staaten oder internationalen Organisationen das Recht auf Rettung genießen und dass für diese Staaten oder Organisationen ein System von „correlative obligations" besteht (Walzer 2007: 251-263). So schreibt er: „[...] mein Ziel ist es, eine bessere, nicht eine perfekte internationale Gesellschaft zu imaginieren. Eine Gesellschaft, deren individuelle Mitglieder mit Hilfe des Rechts vor Massaker und Hunger geschützt wären wie vor damit jeweils einhergehenden Ereignissen und Bedingungen, wie ethnischen Säuberungen und Seuchen, wäre weitaus besser als alles, was wir heute kennen. In der Tat wäre es eine bedeutende Leistung, die Rechte durch die Spezifizierung der entsprechenden Verpflichtungen aussagekräftig und effektiv zu gestalten." (ebda.: 259)

Vor allem vor dem Hintergrund eines „Rechts auf Rechte" verstärkt Walzer diese Sicht in der Zurückweisung des Arguments, der Begriff der Menschenrechte sei ideologisch und diene lediglich der Umsetzung imperialistischer Machtpolitik im neuen Gewande, mit Menschenrechtsorganisationen als Speerspitze (Walzer 2007: 252; vgl. Baudrillard 2004). Da imperialistisches Verhalten auch ohne eine vermeintliche Pseudo-Grundrechtsdebatte legitimiert wurde und wird, ist dieser Vorwurf laut Walzer nicht sehr hilfreich in der Behandlung akuter Konfliktextreme, da der Menschenrechtsbegriff heute hauptsächlich in kritischer und nicht apologetischer Absicht verwendet würde. Der Mangel an oder das Versagen von rechtsstaatlichen Institutionen, die Menschenrechten erst effektiv zum Durchbruch verhelfen, sei der Hauptgrund für die Missstände des globalen Systems und daher bestehe für alle Menschen gleichermaßen Anspruch auf einen Rechtsstaat, der nicht nur nicht Massaker, Vertreibung oder Versklavung an der eigenen Bevölkerung verübt, sondern auch aktiv die Verhinderung von Hungersnöten oder Pandemien betreibt. Von diesen fünf Katastrophen betroffene und damit von ihrem Heimatstaat um das Recht auf Leben gebrachte Menschen gewinnen dafür das Recht auf Rettung durch diejenigen Staaten, die dazu fähig sind.5 In den ersten drei Fällen ist die für Walzer angemessene Reaktion eine militärische humanitäre Intervention. In Behandlung der letzten beiden ist aufgrund des häufig diffuseren Täterprofils die Ausübung ökonomischen Drucks über internationale Institutionen wie den IWF oder WTO oft plausibler.

Pazfistische Kritik: Robert Holmes und Olaf Müller

Von pazifistischer Seite werden weniger die vorgebrachten moralischen oder theoretischen Annahmen zur Rechtfertigung eines Militäreinsatzes zurückgewiesen als vielmehr die Objektivierbarkeit der Interventionsanlässe in Frage gestellt. Darüber hinaus werden die Realität der Kriegseinsätze als den Zielen widersprechend beschrieben, die institutionalisierten Gewaltpotentiale der militärisch-industriellen Komplexe vor Augen geführt und auch die Begründungen der Interventionen ex post als unhaltbar dekonstruiert.

Nach Robert Holmes erlaubt staatliche Souveränität keinesfalls die Verletzung von Menschenrechten auf eigenem Territorium. Daraus jedoch den Schluss zu ziehen, diese notfalls von außen mit Militärgewalt durchzusetzen, schießt (wortwörtlich) über das Ziel hinaus (Holmes 2006). Zunächst sei die Feststellung schwierig, welches Ausmaß Menschenrechtsverletzungen annehmen müssen, um legitimierend zu wirken. Ein verlässliches Wissen darüber, welche Taten wann und wo das „Gewissen der Menschheit schockieren", ist aufgrund prekärer, parteiischer oder geheimdienstlicher Informationslage ebenfalls schwierig herzustellen. Weiterhin sei das moralische Motiv für Militäreinsätze zwar Nothilfe, die Intention jedoch die Durchsetzung politischer oder wirtschaftlicher Interessen, ohne die es nicht zum Einsatz käme. Auch sind die mit jeder militärischen Auseinandersetzung in Kauf genommenen zivilen Opfer durch nichts zu rechtfertigen. Holmes kritisiert die einseitige Fokussierung auf den Opferstatus der zu rettenden Menschen, während die von professionellen Kriegsmaschinerien durchgeführte blutige Kriegsführung selbst außer Acht bleibt:

„Die idealistische Annahme eines - bildlich gesprochen - auf einem weißen Pferd einreitenden engagierten Retters, der die Unterdrückten befreit, hat wenig Bezug zur tatsächlichen Welt, in der Gewalt von Regierungen mit enormer militärischer Macht auf Kosten vieler unschuldiger Leben angewandt wird, in den meisten Fällen im Dienste ihrer eigenen Interessen." (ebda.: 157)

Die humanitären Absichten zusammen mit möglichen Präventivmaßnahmen erlauben jeden Krieg, und nur „Phantasielosigkeit und logische Ungeschicklichkeit begrenzen die Ausweitung dieses Einsatzes auf praktisch jeden gewünschten Bereich" (ebda.: 159). Interessengeleitete Interventionen, die als nicht-intendierte Konsequenz Menschenrechtsverletzungen beenden, werden von Holmes aufgrund der Missbrauchsmöglichkeiten abgelehnt.

Die postulierten Ziele einer Militäraktion würden durch diese selbst jedoch nicht automatisch erreicht und teilweise sogar konterkariert. So hat die Bombardierung Serbiens die Unabhängigkeit des Kosovo forciert, nicht jedoch Slobodan Milosevics Sturz bewirkt. Dieser wurde durch innerserbische Proteste erreicht. Einsätze humanitärer Hilfsorganisationen werden durch die Verletzung der für diese Arbeit unabdingbaren Neutralität erschwert, auch wenn Aufbauhilfe im Rahmen von zivil-militärischer Zusammenarbeit (CIMIC) durchaus einen logistisch notwendigen Anfang darstellen kann. In Afghanistan hat das US-Militär durch die Verteilung von Hilfsgütern durch Soldaten die Trennung zwischen unparteiischer Hilfe und politischer Zielstellung vermischt und zusätzlich die Auslieferung der Hilfen an die Bedingung geknüpft, militante Afghanen zu verraten. Diese Vorgehensweise wurde u.a. von „Ärzte ohne Grenzen" heftig kritisiert, als die Organisation 2004 aus Afghanistan abzog (Calas/Salignon 2004; Gall 2004).

Zuletzt kritisiert Holmes die Schaffung einer allgemeinen Gewaltbejahung durch die Aufweichung pazifistischer Positionen mit Hilfe von zwar moralischen, aber abstrakten Argumenten:

„[...] militärische Intervention wird nicht nur faktisch manchmal zu einem Krieg führen, sondern angesichts ihrer humanitären Ratio eine Prima-facie-Begründung dafür bieten. [...] Das Ergebnis ist, dass eine humanitäre Intervention ein trojanisches Pferd darstellt, welches in die Moraldebatte zwischen Pazifisten und Militaristen gerollt worden ist. Darin verborgen ist eine logische Begründung für den Krieg selbst." (Holmes 2006: 153f.)

Folgerichtig lehnt Holmes den Begriff „humanitäre Intervention" für die Beschreibung eines militärischen Eingreifens ab und schlägt dafür den Begriff der „gewaltsamen humanitären Intervention" vor, da dieser den letztlich interessegeleiteten Militäreinsätzen die moralische Verbrämung entziehe. Humanitäre Intervention bezeichnet für ihn schlicht eine neutral und gewaltlos durchgeführte Nothilfe.

Ein weiterer Kritikpunkt von pazifistischer Seite betrifft die Legitimation von Interventionen ex post. Anhand der theoretischen Analyse kontrafaktischer Konditionale und der Beschreibung des Ablaufs des Kosovokonflikts weist Olaf Müller solche Apologien zurück (Müller 2006). Die Kritik kontrafaktischer Konditionale der Form „Keine friedliche Handlungsweise hätte die humanitäre Katastrophe so sehr verkürzen (und abmildern) können, wie es der tatsächlich geführte Kriegseinsatz vermocht hat" (ebda.: 226), richtet sich zunächst auf die fehlende Verifikationsmöglichkeit solcher Aussagen, da die beschriebene Alternativentwicklung zwar näherungsweise durch das vergleichen vorhandener Fakten mit gegebenen Möglichkeiten beschrieben werden könne, aber dennoch spekulativ bliebe. Weiterhin hänge das Selbstverständnis wie auch die Beurteilung dieser Aussagen von den moralischen Dispositionen des die Aussage treffenden Individuums ab, so dass die ohnehin fragile Objektivität nachträglicher Begründungen weiter erodiert. So werden bei der Frage nach der Gerechtigkeit des Bombenkrieges gegen Deutschland im Zweiten Weltkrieg „[e]in britischer Patriot und ein deutscher Antifaschist [...] zu anderen Resultaten [gelangen] als patriotische Deutsche oder internationalistische Briten - oder als ein schweizerischer Pazifist frei von Rigorismus" (ebda.: 247).

Der Kosovo liefert Müller ein Beispiel der Schwierigkeiten und möglichen Fehldeutungen von ex post Legitimationen. Nachdem die von der OSZE zur Kontrolle des Waffenstillstands zwischen Serben und Kosovoalbanern eingesetzte Kosovo-Verifikationsmission (KVM) weitere Gewalttaten nicht verhindern konnte und im Januar 1999 bei einem Dorf 40 tote Albaner entdeckt wurden, „war [schnell] die Rede von einem Massaker" (ebda.: 251). Die folgende Radikalisierung beider Seiten führte zum Abzug der KVM und dem Beginn der NATO-Bombardierung im März. Während der NATO-Kampagne kam es zu Ermordungen großen Stils an Kosovoalbanern durch Serben, wie es umgekehrt nach dem Ende des Luftkrieges und während der Stationierung der KFOR zu Racheakten an Serben kam (OSZE 1999: Teil 3, Kap. 5; Rüb 1999: 173). Folglich könne die Aussage, dass der NATO-Einsatz das Leid vieler weiterer Menschen verhindert hat, so nicht gelten, da sich in Gefolge dessen das Leid zunächst massiv steigerte. Auch der Einsatz von Bodentruppen hätte an dieser Situation nicht viel geändert, da eine kämpfende Armee für anderweitige Einsätze beschränkt handlungsfähig ist und selbst die Racheakte der Kosovoalbaner nicht verhindert werden konnten, als bereits KFOR-Truppen im Kosovo standen.

Nach Müller hätte es so weit nicht kommen müssen, wenn die Handhabung der KVM umsichtiger gewesen wäre. Die durch den Leiter der KVM vorgebrachte Titulierung der 40 Toten als Opfer eines Massakers, ohne eine unabhängige forensische Untersuchung abgewartet zu haben, führte zum Generalverdacht gegen Serben und heizte die ohnehin gespannte Lage an (Müller 2006: 253).6 Eine von Müller vorgeschlagene „Ideale Verifikationsmission" müsste folgende Dinge umfassen: Eine aus Polizisten, Medizinern und Dolmetschern bestehende Einheit, die in allen Fällen nach rechtsstaatlichen kriminologischen Ermittlungsstandards vorgeht und die Ergebnisse, durch private Spenden finanziert, in allen relevanten Sprachen veröffentlicht. Durch gezielte Schocks sozialer In- und Exklusionsmechanismen auf ethnischer oder nationaler Ebene soll so ein intrafraktioneller Diskurs zu den eigenen Verfehlungen und damit deren Überwindung erreicht werden. Die 2005 erfolgte Veröffentlichung von Videos des Massakers in Srebrenica im serbischen Fernsehen habe eine solche Wirkung gehabt, so dass die Bedingungen der innerserbischen Debatte nachhaltig verändert wurden (ebda.: 259).

Abschließend formuliert Müller ein kontrafaktisches Konditional, dem ein Befürworter des Kosovoeinsatzes zustimmen müsste, wenn er die vorgeschlagenen zivilen Polizeimaßnahmen ablehnt: „Hätte die NATO keine Bomben auf Ziele im Kosovo und in Serbien abgeworfen, sondern stattdessen die KVM auf gangbare Weise optimiert, dann wären mehr als die 10.000 Kosovo-Albaner ermordet worden, die im Nebel des tatsächlichen Kriegs ermordet worden sind" (ebda.). Die alternativlose Bejahung dieses Satzes stellt für Müller dem Zustimmenden ein Armutszeugnis aus, da er sich konstruktiven Handlungsoptionen verschließt, „schnelle, pessimistische Induktionsschlüsse liebt und [...] die Freiheit der Menschen unterschätzt, das Böse einfach nur bleiben zu lassen" (ebda.: 258). Anstatt also einseitig militärische Optionen ins Spiel zu bringen, deren Legitimation zwar aus der Idee humanitärer Interventionen stammt, die in der politischen Auseinandersetzung jedoch häufig den Weg des geringsten (phantasielosesten) Widerstands markieren, können Pazifisten mit konstruktiven Vorschlägen auf die Möglichkeiten ziviler Konfliktregelungen verweisen, deren Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft seien.

Fazit

Die hier skizzierten Positionen hinsichtlich humanitärer Interventionen, einerseits Michael Walzers Befürwortung des Einsatzes staatlicher militärischer Gewalt in Extremfällen, andererseits die pazifistische Ablehnung solcher konfrontativer Mittel, rekurrieren scheinbar auf unterschiedliche Interpretationen der Handlungsoptionen internationaler politischer Praxis: Ein pragmatisches Verständnis plädiert für die möglichst limitierte Anwendung von Militärmitteln in Grenzfällen, während ein gewaltskeptisches Modell maximal den Einsatz von Polizeimitteln zulässt. Beide Interpretationen sehen die Gefahr des expansiven Charakters staatlicher Militärgewalt und fordern den Schutz von basalen Menschenrechten ein. Hinsichtlich der Anlässe und mögliche Folgen einer Intervention besteht jedoch Inkompatibilität. Walzer macht das allgemeine Wissen über krasse Menschenrechtsverletzungen zum moralischen Ausgangspunkt einer durchaus vielfältig motivierten Intervention und hält am Verantwortungsprinzip des Intervenierenden fest, gerade auch bezüglich unvorhersehbarer Entwicklungen nach dem eigentlichen Militäreinsatz. Von pazifistischer Seite werden dagegen die häufig intransparente Informationslage und vor allem die Unwägbarkeit eines Einsatzes ins Feld geführt, die jede Militäraktion unter den Generalverdacht eines Abenteuers im Namen lediglich wirtschaftlicher Interessen stellen, nur notdürftig mit dem Mantel des Humanitären verdeckt und an das Wahlvolk verkauft.

Analytisch kann mit Müller festgestellt werden, dass der NATO-Einsatz 1999 eine suboptimale, überzogene Handlungsvariante darstellte, während mit Walzer gesagt werden kann, dass die Besetzung Kambodschas durch Vietnam kaum durch reine Polizeiaktionen zu bewerkstelligen war. Folglich ergibt sich bei Inanspruchnahme beider Positionen eine größere Untersuchungstiefe bei potentiellen Interventionen, jedoch ist eine handlungsanleitende Synthese aufgrund genannter Widersprüche unwahrscheinlich. Dennoch ist in der politischen Praxis und öffentlichen Auseinandersetzung ein konstruktiver Dialog beider Positionen geboten, vor allem vor dem Hintergrund der jederzeit möglichen Radikalisierung nationaler Sicherheitspolitik im Rahmen von „preemptive strikes" und einer Rüstungssteigerung bisher unbekannten Ausmaßes, deren Gewaltpotential, jenseits klassischer, dem Realismus verpflichteter Machtpolitik, jedenfalls nicht durch gerechte Militäreinsätze legitimiert werden kann (BICC 2009: 12-17). Gegenüber seinen hier behandelten Pendants erweist sich allerdings Walzers Position bei akuten Problemlagen durch die kritische Anerkennung des „schmutzigen" Geschäfts der Politik, selektiv anzuwendender Militärmittel und der Pflicht zur Stabilisierung angesichts unterschiedlicher Konflikte und Gewaltstufen als anschlussfähiger für politische Entscheidungsnotwendigkeiten. Für pazifistische Positionen stellt Walzer eine differenzierte Herausforderung dar, da seine Konzeption nicht einfach als militaristische Realpolitik abgetan werden kann.

Anmerkungen

1          Hier wie in den folgenden Zitaten aus englischen Werken wurden die Übersetzungen durch den Autor vorgenommen.

2          Hilfe zur Selbsthilfe kann nach Walzer jedoch immer geleistet werden, sei es durch diplomatischen Druck oder wirtschaftliche Sanktionen (vgl. Walzer 2007: 238).

3          Erfolgreiche unilaterale humanitäre Interventionen fanden nach Walzer statt durch Indien in Ost-Pakistan, Vietnam in Kambodscha und Tansania in Uganda (Walzer 2007: 240).

4          Diesbezüglich war der Luftangriff bei Kundus illegitim. Eine größere Gefährdung für deutsche Soldaten scheint in der Debatte ebenfalls illegitim, nach Walzer folglich ein Paradox.

5          Eine Konkretisierung solcher Vorstellungen stellt die „responsibility to protect" (R2P) dar, ausgearbeitet von der International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS 2001). Deren Ideen finden auf internationaler Ebene ihren Niederschlag in der auf dem UN-Weltgipfel von der Generalversammlung angenommen Resolution (UN 2005: 30), welche staatliche Souveränität unter die Prämisse von „good governance" stellt.

6          Die Untersuchung durch Ärzte fand nach Beginn der NATO-Offensive statt. Diese kamen - aufgrund nicht mehr verifizierbarer Erstuntersuchungen und Transportbedingungen der Leichen nach Pristina - zu einem uneinheitlichen Ergebnis (Rainio/Lalu/Penttilä 2001).

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Alle Internetquellen wurden zuletzt am 24.02.2010 überprüft.


 

aus: Berliner Debatte INITIAL 21 (2010) 2, S. 116-122