Der Staat in Afrika – Das fremde Monster

Die Debatte über afrikanische Entwicklungswege – seien sie sozialistisch, seien sie kapitalistisch oder irgendwie alternativ – kommt immer wieder auf die Rolle des Staates bzw. der politischen Ebene zurück. An seinen Schwächen krankten sowohl der sozialistisch-etatistische wie der neoliberal-kapitalistische Entwicklungsweg. Ersterer, weil der Staat die Rolle als Agentur der Akkumulation produktiven Kapitals nicht ausfüllen konnte, letzterer, weil der Staat nicht in der Lage war, die institutionellen Grundlagen funktionierender Märkte herzustellen. Es kann daher nicht überraschen, dass die Entwicklungsdebatte sich heute auf die Rolle des Staates zuspitzt, wobei, wie die Diskussion um das Konzept des Neopatrimonialismus zeigt, selten nach den historischen Ursachen des beklagten Staatsversagens gefragt wird. Der afrikanische Staat versagt nicht wegen angeblich oder tatsächlich korrupter bzw. unfähiger ‚Eliten’ – Mkandawire verteidigt die nachkolonialen Regierungen mit Recht gegen diesen Pauschalvorwurf (2001, S. 300 f) –, sondern deshalb, weil er eine der vorkolonialen afrikanischen Produktionsweise fremde Erscheinung war. Die Bedeutung der historischen Verankerung staatlicher Institutionen für die Effizienz moderner Verwaltungen scheint auch empirisch nachweisbar: „Jüngere empirische Forschungen zeigen, dass die Geschichte der Staatsentwicklung eines Landes ein wichtiger Erklärungsfaktor der gegenwärtigen wirtschaftlichen Entwicklung ist. (Es kann gezeigt werden,) …dass die staatlichen Traditionen, gemessen an den historischen Erfahrungen mit staatlichen Einrichtungen, eng und positiv mit der Qualität der modernen staatlichen Institutionen und dem Zuwachs der realen Pro-Kopf-Einkommen im Zeitraum 1960-1995 zusammenhängen. Bezogen auf Afrika (wird gezeigt) …, dass Länder, in denen es zentralisierte vorkoloniale Staaten gegeben hatte, heute bessere öffentliche Güter wie Erziehung, Gesundheit und Infrastrukturen bereitstellen (Nunn, S. 26/27).


Die historisch entstandenen Institutionen Afrikas haben heute eine widersprüchliche Funktion: Sie sichern das Überleben der Menschen unter denkbar widrigen Umständen, behindern damit aber gleichzeitig die Ausbreitung kapitalistischer Produktionsbeziehungen und erschweren die Durchsetzung afrikanischer Interessen im globalisierten Kapitalismus. Afrika fand sich nach der Unabhängigkeit in einer Welt von ‚Nationen’ wieder, in der Stärke und Durchsetzungsfähigkeit des Staates (nach innen wie nach außen) bestimmen, ob die unabwendbare Integration in die Weltwirtschaft im Interesse der jeweiligen Länder gestaltet werden kann. Damit hatten die afrikanischen Staaten von Anfang an schlechte Karten. Die „Zwangsgeburten“ der nachkolonialen Staaten (Tetzlaff/ Jakobeit 2005, S. 117) hatten als einzige Legitimität nach innen den Befreiungskampf. Ansonsten waren ihre Verfassungen, ihre Grenzen, die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung, die regierenden Eliten, die Wirtschaftsräume, die historische Identität Ergebnisse der kolonialen Intervention. Sie waren Kunstprodukte nach innen wie nach außen und standen den historisch gewachsenen afrikanischen Institutionen als Fremdköper gegenüber. Im Kern, so die hier vertretene These, beruhen die afrikanische Einmaligkeit und die Schwierigkeit Afrikas im Weltkapitalismus auf dem Zusammenprall von unvereinbaren Institutionen. In diesem Konflikt zeigten die afrikanischen Institutionen eine ungeheure Anpassungsfähigkeit gegenüber einer feindlichen Natur und Umwelt, wozu auch der Kolonialismus und der Einbruch des kapitalistischen Weltmarkts gehören. Angesichts der damit verbundenen Belastungen überrascht nicht der Entwicklungsrückstand Afrikas, sondern die Tatsache, dass diese 48 Länder nicht zerbrochen sind, dass sie überlebt haben. Die Einmaligkeit Afrikas sind auch seine Kraft und Kreativität im Überlebenskampf. Damit gerieten die afrikanischen Institutionen in eine Art Teufelskreis: Da sie bei der Lösung der Überlebensprobleme so effizient waren, konnten sie sich nicht bzw. nicht schnell genug modernisieren, d.h. an die Herausforderungen des Weltmarkts anpassen.


Die vielen Darstellungen der afrikanischen ‚bad governance’ und das Konzept des Neopatrimonialismus beschreiben die Schwäche der Staaten im Milieu des modernen, internationalisierten Kapitalismus, erklären sie aber nicht. Die in einer arbeitsteiligen Volkswirtschaft notwendige Kooperation auf gesamtgesellschaftlicher Stufenleiter ist in Afrika mit Unberechenbarkeiten konfrontiert, weil der Staat hier seine Kernfunktionen (Herstellung von physischer und Rechtssicherheit, Bereitstellung und Finanzierung von Infrastrukturen, Herstellung Sozialer Sicherheit, Interessenvertretung und Durchsetzung nach außen) nicht bzw. nur unzureichend ausüben kann. Dies entzieht ihm die für seine Stabilität und Handlungsfähigkeit notwendige Legitimität gegenüber der Gesellschaft. Es ist aber zu erklären, warum der Staat nur in Afrika solche Schwierigkeiten hat und welche speziellen, für die kapitalistische Entwicklung Afrikas relevanten Folgen dies hat. Ohne in Einzelheiten gehen zu können, wird der Staat hier abkürzend als „jene gesellschaftliche Organisation bezeichnet, die über eine institutionalisierte Zentralgewalt mit fungiblem Apparat von ausreichender Stabilität und territorialer Erstreckung verfügt und die in einer durch antagonistische Klassenverhältnisse strukturierten Gesellschaft das Gewaltmonopol ausübt.“ (Hagen 1990, S. 429) In dieser Definition werden sowohl die von Max Weber beschriebenen äußeren Merkmale (Herrschaft von Menschen über Menschen, Gewaltmonopol, Staatsgebiet, Verwaltung) aufgenommen, als auch die von Marx herausgearbeitete Verflechtung mit der Produktionsweise: „Das materielle Leben der Individuen, …, ihre Produktionsweise und die Verkehrsform, die sich wechselweise bedingen, ist die reelle Basis des Staats und bleibt es auf allen Stufen, auf denen die Teilung der Arbeit und das Privateigentum nötig sind … Die unter diesen Verhältnissen herrschenden Individuen müssen, abgesehen davon, dass ihre Macht sich als Staat konstituieren muß, ihrem durch diese bestimmten Verhältnisse bedingten Willen einen allgemeinen Ausdruck als Staatswillen geben, als Gesetz …“ (Marx/Engels 1846/1972, S. 311). Im vorkolonialen Afrika war eine solche Herrschaftsform weitgehend unbekannt. Dies heißt nicht, dass es dort keine oder nur marginale Traditionen der Staatenbildung gegeben habe. Zwar gab es staatenlose Gesellschaften, es gab aber auch schon sehr früh große und prosperierende Staatengebilde. Frobenius: „Aus den Berichten der Seefahrer vom 15. bis zum 17. Jahrhundert geht ohne jeden Zweifel hervor, dass das vom Saharawüstengürtel gen Süden sich erstreckende Negerafrika damals noch in der vollen Schönheit wohlgebildeter Kulturen blühte.“ (1933, S. 13) Die neuere historische Forschung zeigt, dass Afrika südlich der Sahara große und einflussreiche politische Gebilde hervorgebracht hat (Ki-Zerbo 1981). Diese Staaten waren aber kaum mit der Produktion des materiellen Lebens verbunden, eigneten sich weder systematisch Teile des Mehrprodukts an noch hatten sie eine Funktion bei der Organisation von Produktion und Austausch. Die vorkolonialen afrikanischen Staaten waren der Produktionsweise äußerlich. „Nur dort, wo die Befehlsgewalt der Herrschenden sich auch auf die Aneignung der Arbeit der Herrschaftsunterworfenen erstreckt, und das heißt, wo Klassenherrschaft vorliegt, macht es Sinn von staatlicher Herrschaft zu reden. Die beiden Prozesse sollten daher definitorisch mit einander verkoppelt werden: ohne Klassenbildung keine Staatsbildung. “ (Hauck 2001, S. 52) Als zentrale afrikanische Besonderheit – anders als in Asien und Lateinamerika – „ist hervorzuheben, dass es in Afrika – von einigen Ausnahmen wie Äthiopien abgesehen – keine endogenen staatlichen Traditionen gibt.“ (Hyden 2006, S. 54) Dies hat für die ökonomische Entwicklung Afrikas und den durch die koloniale Eroberung angestoßenen Prozess der modernen Staatenbildung bis heute einschneidende Folgen. Die kapitalistische Produktionsweise ist in Afrika mit Gewalt eingedrungen, fand und findet dort aber institutionelle Bedingungen vor, die auf der Grundlage einer ganz anderen Produktionsweise entstanden waren.76 Auch den Kolonialverwaltungen war es nicht gelungen, die Masse der Produzenten, nämlich die Bauern, einzubinden: „Anthropologen und Historiker sind sich über die Bedeutung des verbreiteten ‚Escapismus’ im alten und im kolonialen Afrika einig“, schreibt Bayart (1989, S. 43). Auch dem nachkolonialen Staat ist dies nicht gelungen. Man mag darüber streiten, ob – wie Hyden meint – die Bauernschaft bis heute wirklich „uncaptured“ geblieben ist. Tatsache bleibt, dass ihre Einbindung lose ist, sie den Staat nicht wirklich braucht. „Der postkoloniale Staat ist für die peasants-Gesellschaft keine Notwendigkeit. Er ist ihr ‚aufgesetzt’, d. h. die Bedingungen für seine Existenz ergeben sich nicht aus Zwängen der Gesellschaft (…). Auch ist er halbautonom – autonom gegenüber den Bauern (weil er seine Revenuen bzw. Renten vom Ausland bezieht). Daher liegt ein Hauptproblem des ‚peripheren Staates’ in den Handlungsgrenzen des Staates (…). Aber erst feste Abhängigkeitsverhältnisse der Surplus-produzierenden Klassen könnten den Staat mächtig machen, d. h. vor allem die Unterwerfung der bisher „uncaptured peasantry“ (…) (Tetzlaff/ Jakobeit 2005, S. 77). Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum ‚Staatsversagen’ in Afrika so einschneidende Konsequenzen für den Entwicklungsprozess hat. Auch in anderen Teilen der Welt haben sich korrupte Eliten der Einrichtungen des Staates bemächtigt, ohne dass dies die Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise dauerhaft behindert. Denn diese Systeme, so korrupt sie auch sein mögen, müssen die wirtschaftliche Entwicklung bei Strafe des Untergangs fördern; andererseits hängen die wirtschaftlichen Akteure von produktionsorientierten Leistungen der Verwaltungen ab, können ohne diese nicht überleben. Anders in Afrika. Einerseits können die regierenden Eliten nach wie vor gut leben, ohne sich mit der Organisation der Produktion und der systematischen Abschöpfung des Mehrprodukts (Besteuerung) abmühen zu müssen. Die afrikanischen Ökonomien hängen vom Weltmarkt ab, d. h. sie finanzieren sich über Außenhandelsabgaben und die Aneignung von Teilen des Mehrwerts, der in den weltmarktorientierten Produktionsinseln insbesondere des Bergbaus erzeugt wird. Zwar werden auch Steuern eingetrieben, aber die Mehrheit der Produzenten kann sich der Besteuerung entziehen. In den letzten Jahrzehnten ist die Entwicklungshilfe als staatliche Finanzierungsquelle hinzugekommen. Weder müssen die die Staatsgewalt innehabenden Eliten in die Wirtschaftstätigkeit der Bevölkerungsmehrheit eingreifen (z. B. um diese zu besteuern), noch benötigen die Produzenten des ländlichen und informellen städtischen Raums den Staat zum Überleben. Um es überspitzt zu sagen: Weder braucht der afrikanische Staat die Masse der Produzenten, noch brauchen die Produzenten den Staat. „Vom Standpunkt des individuellen Produzenten ist der Staat strukturell überflüssig.“ (Hyden 1983, S. 7)


Die koloniale Herrschaft, die sich weitgehend der existierenden ‚traditionellen’ Autoritäten bediente, hatte diese mit völlig neuen Inhalten gefüllt, ohne dass aber die alten ganz verschwunden wären. Das die afrikanischen Traditionen der Pluralität und der Verwandtschaft vertretende Häuptlingstum („chefferie“) wurde durch das Eindringen der damit eigentlich unvereinbaren europäischen bürokratischen Herrschaftsprinzipien deformiert. Die Verbindung unvereinbarer Herrschaftsprinzipien hat zu einer „verallgemeinerten Disfunktion“ (Coquery-Vidrovitch 1992, S. 113) geführt: „Der Chef von heute, sei es der sogenannte ‚traditionelle’, sei es der moderne Beamte, erscheint im wahrsten Sinne des Wortes als ein ‚Monster’, d. h. wie die, noch dazu schlecht ausgeführte und schlecht verstandene, Kombination von zwei Herrschaftsformen, die doch ursprünglich keinerlei Gemeinsamkeiten hatten (ebd. S. 126).


Hinzu kommt ein ‚kulturelles’ Problem, das seltsamerweise nur selten thematisiert wird: das Sprachproblem. Die Entwicklung der afrikanischen Sprachen wurde durch den Kolonialismus unterbrochen. Sie wurden aus dem ‚modernen’ Sektor, der notwendigerweise verschriftlicht ist, fast vollständig verdrängt. Regierung, formeller Sektor und Volk sprechen – im wahrsten Sinne des Wortes – verschiedene Sprachen. In 34 Staaten des Subsaharischen Afrika sind ausschließlich eine oder zwei Kolonialsprachen offizielle Amtssprache. In wenigen ist neben der Kolonialsprache auch eine afrikanische Sprache Amtssprache wie das Swahili in Teilen Ostafrikas. Aber selbst dort sind im Regierungsapparat Kolonialsprachen vorrangig, u.a. weil alles Schriftliche in diesen verfasst ist.


Obwohl die Kolonialmächte – explizit oder implizit – sich der traditionellen Herrschaftsstrukturen bedienten, diese zwar veränderten, aber nicht beseitigten, bewirkten sie den Aufstieg einer neuen Führungsschicht. Die „évolués“ oder „educated“ waren jene Afrikaner, die auf ‚weißen’ Schulen gelernt hatten, und zwar in der jeweiligen Kolonialsprache. Es waren nur teilweise Angehörige der traditionellen Oberschicht – es gab Schulen für Häuptlingskinder, es kam aber auch vor, dass die traditionellen Herrscher sich den Schulen verweigerten. In vielen Teilen Afrikas hatten die Missionare mit ihrem Angebot am Anfang nur bei gesellschaftlich marginalisierten Personen und Außenseitern Erfolg.77 In weiten Teilen des ländlichen Afrika beherrscht der Lehrer oder ein anderer ‚Intellektueller’ die jeweilige Kolonialsprache, nicht aber der lokal einflussreiche chief, headman oder roi. Lesen und Schreiben, unabdingbare Zivilisationstechniken, werden in der Kolonialsprache gelernt. Obwohl in den letzten Jahren stellenweise dazu übergegangen wurde, zumindest in den ersten Jahren der Grundschule die jeweilige nationale Sprache zu verwenden, setzt jede höhere Bildung die Beherrschung der Kolonialsprache voraus. „Die am meisten verbreitete Praxis war es, im Bildungssystem europäische Sprachen zu verwenden, fast überall in der Sekundarstufe, aber überwiegend auch in der Grundschule.“ (Simpson 2008, S. 7)


Obwohl die Kolonialsprachen – mit Ausnahmen wie Swahili oder Kinyaruanda – das wichtigste Kommunikationsmittel der Verwaltung sind und zudem Unterrichtssprache, werden sie nur von einer Minderheit der Bevölkerung beherrscht: Nur etwa 20 % (bis zu 30 % nach einer anderen Quelle)78 der afrikanischen Bevölkerung sprechen eine europäischen Sprache (Mabe 2004, S. 577). Die Tatsache, dass alle ‚modernen’ Aktivitäten in einer Sprache abgewickelt werden, die die große Mehrheit der Bevölkerung nicht oder nur rudimentär beherrscht, wird merkwürdigerweise in der Entwicklungsdebatte kaum thematisiert. Alles Schriftliche erfordert die Beherrschung der Kolonialsprache, einschließlich der Nutzung von Computer und Internet. Diese ist aber für die Bevölkerung eine Fremdsprache, die im täglichen Umgang nicht benutzt wird. In diesem Zusammenhang wird im übrigen deutlich, dass der für ganz ASS mit gut 60 % angegebene Alphabetisierungsgrad kaum realistisch sein dürfte: Wenn z. B. in Sambia angeblich 68 % der erwachsenen Bevölkerung lesen und schreiben können, aber nur 28 Prozent Englisch sprechen und verstehen, dann stimmt irgendetwas nicht mit der Statistik. Zwar gibt es Alphabetisierungskurse auch in den Nationalsprachen, diese spielen aber in der schriftlichen Praxis (mangels Lesestoff) nur eine marginale Rolle. Selbst in Ländern, in denen eine afrikanische Sprache dominiert – so das Swahili in Tansania –, wird diese durch die Verfassung nicht anerkannt (Simpson 2008, S. 18). Afrikanische Sprachen gelten als kulturell minderwertig bzw. rückständig, Aufstieg und Modernität sind mit der Kolonialsprache verbunden.


Die Vertreibung der afrikanischen Sprachen aus dem Entwicklungsprozess kann weder mit der herrschenden Sprachvielfalt noch mit der Gefahr ethnischer Zersplitterung erklärt werden, wie viele Einzelfalluntersuchungen zeigen: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Multilingualität und Konflikten (Simpson 2008). Es ist im Gegenteil so, dass die Gleichsetzung von Nation und Kolonialsprache – ein Beispiel ist der künstlich hergestellte Zusammenhang zwischen ‚Ivorität’ und Französisch in der Côte d’Ivoire (Simpson 2008, S. 21) – zur Delegitimierung des Prozesses der Nationenbildung beiträgt, weil dies die Mehrheit der Bevölkerung faktisch ausschließt und die Sache der Nation zur Sache der ‚evolués/educated’ erklärt. Obwohl nur selten thematisiert, dürfte der Sprachpolitik eine große Bedeutung im Prozess der Verankerung des Staates (und der modernen Institutionen) in der Gesellschaft zukommen: „Der Gebrauch der afrikanischen Sprachen ist eine zentrale Bedingungen bei der Wiederherstellung der afrikanischen kulturellen Identität im Kontext der Entwicklung. Die afrikanischen Sprachen sind die Hauptpfeiler des Gebäudes der afrikanischen Gesellschaft als historisches Produkt.“ Eine „Afrikanisierung“ und Dekolonisierung des Entwicklungsprozesses und seine Verankerung in der Gesellschaft erfordern die Aufwertung der afrikanischen Sprachen als zumindest gleichberechtigtes Kommunikationsmittel (Kayenze 2006, S. 451 ff).


Im Ergebnis seiner eklatanten Funktionsmängel und der kulturellen Entfremdung wird der afrikanische Staat von der großen Mehrheit der Bevölkerung „als gewalttätig, unberechenbar, korrupt, funktional unzuverlässig und alltäglich schikanös (wahrgenommen) – ein bewaffnetes Monster, dem man besser aus dem Wege geht.“ (Tetzlaff/Jakobeit 2005, S. 118) Das mögen viele Menschen in Asien oder Lateinamerika ähnlich sehen. Die afrikanische Einmaligkeit ist die Tatsache, dass die Mehrheit der Bevölkerung auch in der Lage ist, diesem „Monster“ tatsächlich aus dem Weg zu gehen. Wenn die Preise der cash crops zu niedrig sind, konzentriert man sich auf den Anbau von lokalen Nahrungsmitteln, bei Krankheit gibt es den Heiler, bei Konflikten kann auf traditionelle Mechanismen und Institutionen der Konfliktregelung zurückgegriffen werden, in sozialen Notlagen hilft die „extended family“ oder eine andere Kleingruppe. Man kann überleben ohne den Staat und seine Einrichtungen – wenn auch immer schlechter. Denn dieses ‚informelle’ Überleben ist mit der Veränderung der natürlichen Umwelt, der Erschöpfung von Boden und Wasser, dem Eindringen der Weltwirtschaft, dem Zugang zu weltweiten Medien, dem raschen Bevölkerungswachstum, der Veränderung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern und Altersgruppen usw. prekär geworden. Die Afrikaner wissen wie die Europäer die Vorteile der Geldwirtschaft, eines funktionierenden Gesundheits- und Bildungssystems, sauberen Wassers, stabiler Einrichtungen der materiellen Infrastruktur, moderner landwirtschaftlicher Produktionsmethoden, sozialer Sicherheit ohne Rückgriff auf repressive Kleingemeinschaften, individuelle Freiheit und Unabhängigkeit von den ‚Alten’, Selbstbestimmung der Frauen, usw. durchaus zu schätzen. Der Ausweg in informelle Strukturen wird nur deswegen gesucht, weil der moderne Staat bislang nicht in der Lage war, die erforderliche existenzielle Sicherheit zu produzieren. Staatsversagen einerseits und Rückzug in traditionelle oder auch moderne endogene, staatsferne und kleinräumige Strukturen andererseits bilden einen Teufelskreis, der jene Situation produziert, die jedem mit Afrika Vertrauten auffällt: Die Dinge scheinen nicht zueinander zu passen (Grill 2005). Da Wirtschaft und Gesellschaft eben nicht mehr ‚traditionell’ sind, da die moderne Welt via Medien selbst im abgelegensten Dorf präsent ist, werden die verschiedenen Elemente von Tradition und Moderne pragmatisch integriert. Und: Es funktioniert irgendwie, „Africa works“. Aber es funktioniert schlecht. Die ‚hybriden’, Tradition und Moderne, formelles und informelles mischenden Institutionen sichern recht und schlecht das Überleben. Sie sind aber nicht geeignet, Afrikas Interessen in der Weltwirtschaft durchzusetzen und leistungsfähige Produktionsstrukturen aufzubauen. Das ist auf mittlere Sicht lebensgefährlich, wie eindringlicher als ökonomische Wachstumsraten und Sozialindikatoren die Ausbreitung der HIV/ AIDS Pandemie zeigt. Nur die Legitimierung und die Integration des modernen Staates und seiner Institutionen in die Gesellschaft werden den Afrikanern die für wirtschaftlichen Fortschritt und das Überleben in der kapitalistischen Weltwirtschaft notwendigen Rahmenbedingungen bereitstellen können. Der nachkoloniale Staat, der auch im Ergebnis des Befreiungskampfes entstanden war und durch diesen eine gewisse Legitimität erlangt hatte, hat diese unter dem Druck des kapitalistischen Weltmarkts und seiner Einrichtungen wieder eingebüßt. Der Preisverfall afrikanischer Exportprodukte, der Ausbruch der Schuldenkrise und die Demontage des Staates durch die Strukturanpassungspolitik haben dessen ohnehin auf schwachen Beinen stehende Legitimität untergraben, indem ausgerechnet jene Elemente (wie Subventionen für die Modernisierung der Landwirtschaft und Sozialleistungen) demontiert wurden, die geeignet waren, der Masse der Bevölkerung eine gewisse Überlebenssicherheit zu gewähren. Die Folge waren der Rückzug in die Informalität und die Flucht vor dem Zugriff des Staats.


Der afrikanische Staat wird nur dann die notwendige Regulierungskompetenz nach innen und nach außen erlangen, wenn er von der Mehrheit der Bevölkerung als legitim und nützlich akzeptiert wird, d. h. wenn er Überlebenssicherheit garantiert. Angesichts der historischen Rolle des afrikanischen Staates und der Erfahrungen der nachkolonialen Periode ist nicht zu erwarten, dass ein paar demokratische Reformen wie die Einführung von Mehrparteiensystemen ausreichen, um dieses Vertrauen herzustellen. Bei aller Kritik an der gegenwärtigen Entwicklungspolitik scheint jedoch, dass dort inzwischen einige Kernprobleme Afrikas erkannt und zumindest ansatzweise berücksichtigt werden: Unterstützung nicht bei der Demontage, sondern beim Aufbau von Institutionen, Stärkung von Ansätzen der demokratischen Teilhabe, Rückgriff auf afrikanisches institutionelles know how, Stabilisierung sozialer Einrichtungen des Gesundheits- und Bildungswesens durch langfristigere Finanzierungs- und Fördermaßnahmen. Dem stehen jedoch weiterhin rigide Privatisierungs- und Deregulierungskonzepte entgegen, was z. B. in den Verhandlungen über die weitere Öffnung der afrikanischen Märkte im Rahmen des Cotonou- Abkommens und der Doha-Runde der WTO zum Ausdruck kommt. Afrika muss – anders als andere Kontinente – die Institutionen erst entwickeln, die notwendig sind, um in einer globalisierten kapitalistischen Weltwirtschaft nicht nur zu überleben, sondern die eigenen legitimen Interessen durchzusetzen. „Wozu die anderen Völker der Erde Jahrhunderte Zeit gehabt hatten, sollte in Afrika in Jahren und wenigen Jahrzehnten bewältigt werden: die Integration in eine sehr dynamische Weltordnung, die man nicht aktiv mitgestaltet hatte, aber von der man als abhängige Peripherie ein integraler Teil sein wollte und musste, um zu überleben, um Rückstände aufzuholen, um – zusammengefasst – die Modernisierung an Haupt und Gliedern einzuleiten und zu beschleunigen.“ (Tetzlaff/Jakobeit 2005, S. 120) Gegenwärtig besteht die Gefahr, dass unter dem Eindruck steigender Rohstoffeinnahmen und höherer Wachstumsraten die institutionelle Besonderheit Afrikas wieder in Vergessenheit gerät. Denn was vielen Praktikern der Entwicklungspolitik mehr oder weniger bewusst ist, wird auf der Ebene der internationalen Beziehungen ignoriert. Hier wird nach wie vor die Fiktion aufrechterhalten, als verfügten die afrikanischen Staaten in den Verhandlungen mit TNK, Internationalen Organisationen und anderen Staaten über die gleiche Verhandlungsmacht wie der Rest der Welt, als ginge es nur darum, dass die Regierungen eine „bessere“ Politik machen. Afrika muss seine Institutionen transformieren, um national und international handlungsfähig zu werden. Dazu braucht es Zeit, gezielte Unterstützung beim Aufbau von Organisationen und langfristige, verlässliche und berechenbare finanzielle Hilfe. Der afrikanische Staat muss der Bevölkerung zeigen können, dass er in der Lage ist, das Überleben seiner Bürger im Rahmen moderner materieller und sozialer Infrastrukturen zu gewährleisten. Das wichtigste öffentliche Gut in Afrika ist Überlebenssicherheit. Solange die modernen Institutionen, solange der afrikanische Staat diese nicht herstellen können, werden sie in ihrer Steuerungskapazität nach innen wie nach außen beschränkt bleiben. Nur als legitim betrachteten, steuerungsfähigen Staaten wird es gelingen, die Chance der günstigeren internationalen Rahmenbedingungen zu nutzen, um einen endogenen und nachhaltigen Entwicklungsprozess in Gang zu setzen.

76 Endogene Prozesse der Staatenbildung und der sozialen Differenzierung wurden unterbrochen.

77 Klassisch geschildert in: Chinua Achebe, Okonkwo oder Das Alte stürzt, 1958

78 Simpson 2008, S. 9; im Jahre 2000 sprachen in Sambia 1,7 % der Bevölkerung Englisch als erste und 26,3 % als zweiten Sprache, wenn auch in zunehmendem Maße: 1980 konnten dies nur 5 % der Bevölkerung (Simpson 2008, S. 295).


Aus Jörg Goldberg, Überleben im Goldland – Afrika im globalen Kapitalismus, Köln 2008. Mit freundlicher Genehmigung des PapyRossa-Verlages