NATO: Expansion im Tarnanzug

Auf ihrem Gipfeltreffen vom 19./20. November in Lissabon beschloss die NATO ein neues strategisches Konzept. Wozu sie es braucht, ist jedoch schwer ersichtlich. Weder enthält es eine stimmige Lageanalyse noch wegweisende neue Orientierungsmarken für die Zukunft der Allianz. Zwischen den Mitgliedstaaten strittige Fragen werden damit nicht geklärt, sondern mit Kompromissformeln überdeckt. Der Eindruck entsteht, dass eine kostspielige internationale Megainstitution, die sich nicht gerade überschwänglicher Popularität erfreut, versucht, ihre Anliegen wieder in das Zentrum politischer Aufmerksamkeit zu rücken. Dafür spricht nicht zuletzt der fast anderthalb Jahre dauernde, sorgsam organisierte Diskussionsvorlauf des Gipfels.

Kein Thema hat darin breiteren Raum eingenommen als die Klage über den vermeintlichen Unwillen europäischer Gesellschaften, für ihre eigene Sicherheit einzustehen. So behauptete der amerikanische Verteidigungsminister Robert Gates vor Offiziersanwärtern in Washington: „Die Entmilitarisierung Europas hat sich zum Hindernis für Sicherheit und dauerhaften Frieden im 21. Jahrhundert entwickelt.“ Der Grund: „Große Teile der Öffentlichkeit und der politischen Klasse stehen militärischer Gewalt und den damit einhergehenden Risiken ablehnend gegenüber“[1] – ein Satz, dem sich lange nachsinnen lässt. In die europakritische Kerbe schlägt auch NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen: „Insbesondere die EU-Mitglieder der NATO müssen aufhören, die globale Finanzkrise als Entschuldigung dafür anzuführen, dass sie bei den Verteidigungsausgaben die transatlantische Kluft weiter anwachsen lassen.“[2] Und eine meinungsbildende deutsche Tageszeitung prophezeit gar den Untergang Europas als global player der Sicherheitspolitik, wenn es seine Rüstungsanstrengungen nicht drastisch erhöht oder zumindest bündelt.[3]

Gegen Alarmismus und Panikmache dieser Art hilft ein Blick auf die Realität globalen Rüstens. In einer einzigen Zahl ausgedrückt: 1531 Mrd. oder anderthalb Billionen US-Dollar betrugen laut Statistik die Ausgaben für Streitkräfte, Kriegswaffen und militärisches Gerät weltweit 2009.[4] Nie zuvor wurde eine solche Summe eingesetzt. Im Wirtschaftsteil der Zeitungen wäre bei derartigen Zahlen von einem Allzeithoch die Rede, nominal wie inflationsbereinigt. Nach der Abschwungphase im Gefolge des ausklingenden Kalten Krieges sanken die Weltmilitärausgaben Mitte der 90er Jahre auf einen Tiefststand. Seither steigen sie aber wieder kontinuierlich an. 2010 werden sie höher liegen als im Vorjahr, und 2011 werden sie wiederum ansteigen. Die Bundesrepublik verzeichnet moderate Anstiege. Andere Länder kommen auf jährliche Zuwachsraten im zweistelligen Prozentbereich. 

Aussagekräftiger als absolute Zahlen ist ein Blick auf das Verteilungsmuster. Der Löwenanteil der Rüstungsausgaben entfällt auf ein einziges Land, die USA. Die rund vier Prozent der Menschen auf der Erde, die Bürger der Vereinigten Staaten sind, bestreiten 43 Prozent der globalen Aufwendungen für militärische Zwecke (661 Mrd. US-Dollar). Schon 64 Prozent, also fast zwei Drittel, sind es unter Einschluss der übrigen 27 Mitgliedstaaten des westlichen Bündnisses (987 Mrd. US-Dollar). Und nimmt man den Begriff des Westens einen Augenblick lang nicht geographisch, sondern politisch, das heißt bezieht man die vier Länder ein, die als sogenannte security provider außerhalb des NATO-Vertragsgebiets einen ersten Fuß in die Tür der Allianz gesetzt haben – Australien, Neuseeland, Japan, Südkorea –, dann erhöht sich der westliche Anteil am Weltrüstungsaufkommen auf 71 Prozent (1082 Mrd. US-Dollar).

Es verbleiben knapp 30 Prozent vom Gesamtvolumen, die auf die übrigen 160 Staaten entfallen. Darunter Russland, Amerikas globaler Widerpart von einst und immer noch die zweite nukleare Großmacht. Darunter mit China und Indien die bevölkerungsreichsten Länder der Erde. Darunter die Golfanrainer, die dank ihrer Ölerlöse seit jeher als die zahlungskräftigsten Nachfrager auf den internationalen Waffenmärkten auftreten. Diese 160 Staaten, der „Rest“, repräsentieren rund 85 Prozent der Weltbevölkerung.

Offensichtlich ist das eine andere Art asymmetrischer Struktur als diejenige, die uns stets zuerst vor Augen steht, wenn von neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen gesprochen wird. Sie illustriert, in welchem Ausmaß das gegenwärtige internationale System das Gewicht und den Stellenwert des militärischen Instrumentariums der Sicherheitsvorsorge überzeichnet. Sie veranschaulicht darüber hinaus, dass die krass disproportionale Rüstungsaktivität einer Minderheit der Staatengemeinschaft die Schieflage verantwortet. Es ist dieselbe Gruppe von Staaten, die im Vergleich zu jedem denkbaren Konkurrenten über einen komfortablen Vorsprung an militärischer Stärke verfügt, jedoch schon in minimalen Abstrichen eine inakzeptable Einbuße ihrer Überlegenheit erblickt.

Wie aber erklärt sich, dass die westliche Welt mit der NATO als Kern sich hinter derart hohen Rüstungsmauern verschanzt? Ist sie stärker bedroht als die übrigen Staaten? Hat sie deshalb ein größeres Sicherheitsbedürfnis? Oder hortet sie Waffenmacht, um ihren ordnungspolitischen Gestaltungsanspruch zu unterstreichen und gegebenenfalls durchzusetzen?

Von der Verteidigung zur Intervention

Natürlich gibt die NATO in ihrem neuen strategischen Konzept darauf keine Antwort. Sie hat sich immer schon schwer getan, militärische Operationen jenseits des klassischen Verteidigungsauftrags und außerhalb der Bündnisgrenzen plausibel zu begründen. Das Wortungetüm der „nicht unter Artikel 5 fallenden Krisenreaktionseinsätze“aus dem Vorgängerdokument vom April 1999,[5] mitten im Kosovokrieg verkündet, kommt im neuen Konzept nicht mehr vor. Längst bedienen sich die Repräsentanten der Allianz geschmeidigerer Parolen. Eine der beliebtesten lautet: Risiken müssen auf Distanz gehalten und Gefahren für das Bündnis dort bekämpft werden, wo sie entstehen. Nur wer diese Überzeugung teilt, wird auch der Ansicht zustimmen, dass die Bundeswehr am Hindukusch unsere Sicherheit verteidigt.

Erstaunlicherweise fragt niemand, wie dieselbe Parole in paschtunischer Lesart klingt. Gefahren bekämpfen, wo sie entstehen? Afghanen, die unter keiner fremden Besatzung leben wollen, könnten den Schluss ziehen, ihre Sicherheit werde am wirksamsten am Brandenburger Tor oder am Rhein-Main-Flughafen verteidigt. Mit Verteidigung, so viel steht fest, hätte weder das eine noch das andere zu tun. Verteidigung bedeutet Abwehr eines bewaffneten Angriffs auf ein eigenes Rechtsgut. Einmischung und Eingriff in Rechtsgüter anderer heißen nicht Verteidigung, sondern Intervention.

Seitdem vor zwei Jahrzehnten die traditionelle Aufgabe entfallen war, gegen bewaffnete Angriffe auf das Gebiet von Mitgliedstaaten gewappnet zu sein, experimentiert die NATO mit militärischen Interventionen. Eine Erfolgsgeschichte ist daraus nicht geworden. Schon die Stationierungsdauer in den Zielländern spricht eine deutliche Sprache. In Afghanistan stehen alliierte Streitkräfte seit neun Jahren, im Kosovo seit elf, in Bosnien seit 15 Jahren. Am Hindukusch ist die Hoffnung auf den militärischen Sieg zerstoben. Auf dem Balkan kam mehr als Gewaltunterbindung nicht zustande. Bosnien und das Kosovo sind auf dem Papier souveräne Staaten, de facto aber immer noch Quasi-Protektorate. Funktionierende Staatswesen sehen anders aus. Wird Krisenbewältigung am langfristigen Ziel eines selbsttragenden Friedens gemessen, hat sich das militärische Instrument als stumpfes Schwert erwiesen. 

Markenzeichen verdeckter Kampf

Und wie nun weiter? Um zu verstehen, wohin die NATO geht, muss man wissen, welche Richtung die Führungsmacht vorgibt. Zum Markenzeichen amerikanischer Auslandsaktivitäten entwickelt sich zunehmend der verdeckte Kampf. Er kann auf ein weit gespanntes Netz überseeischer Stützpunkte zurückgreifen. Kaum vorstellbare 860 Militärbasen rund um den Erdball unterhalten die USA, verteilt auf mehr als 90 Länder; die Hälfte davon wurde erst während der Bush-Administration errichtet. Von dort aus operieren Spezialkräfte in derzeit 75 Staaten mal mit, meist ohne Wissen der betreffenden Regierungen. Neben Afghanistan und dem Irak zählen dazu Länder wie Mexiko, Bolivien, dieUkraine, Somalia, der Jemen, Saudi-Arabien und der Iran. Der Auftrag lautet, so die „New York Times“ am 25. Mai d. J. unter Berufung auf das zustän-

dige Einsatzkommando in Tampa/Florida, militante Gruppen „zu unterwandern, zu stören, abzuwehren oder zu vernichten“. Aufwuchs, Ausrüstung und Infrastruktur der unkonventionellen Antiterrorkrieger machen inzwischen den größten Wachstumsfaktor im US-Streitkräftehaushalt aus.

Darüber schwindet nicht nur das Rechtsempfinden, sondern auch das Risikobewusstsein. Die Fähigkeit zu unterscheiden, welche Fragen militärische Antworten vertragen und welche nicht, nimmt ab. Angriffe der CIA mit unbemannten Flugkörpern auf grenznahe Ziele in Pakistan zur selektiven Tötung verdächtiger Personen sind inzwischen so sehr Routine, als hätte der Amtswechsel im Weißen Haus gar nicht stattgefunden. Die Anzeichen mehren sich, dass auch andere NATO-Staaten daran mitwirken. Das würde bedeuten: Das Bündnis legt sich gerade mit einer Atommacht an.

Auf derselben Linie mangelnder Selbstbescheidung liegt der Brüsseler Hang, immer neue politische, ökonomische und technologische Tätigkeitsfelder an sich zu ziehen – erst Energiesicherheit, jetzt Cyber-Sicherheit. Was hat man darunter zu verstehen? Sollen Kommandokräfte ausschwärmen, wenn das Öl aus den Pipelines wieder einmal nur tröpfelt? Oder Killer-Drohnen aufsteigen, um lästige Hacker außer Gefecht zu setzen? Und welcher Einfall käme dann als nächstes? Vielleicht die Währungssicherheit, die zu „verteidigen“ wäre, wenn kommerzielle Konkurrenten am Weltmarkt ihre Exportgüter durch niedrige Wechselkurse subventionieren?

Wie weiter in Brüssel und Berlin ?

Einer betagten Lady wie der NATO – 61 ist sie inzwischen – ein zeitgemäßes Kleid anzupassen, dürfte so schwer doch nicht sein. Die Verantwortlichen sollten einmal wieder den Nordatlantikvertrag zur Hand nehmen, die Gründungsakte ihrer Wertgemeinschaft, und die UN-Charta dagegenhalten. Eine überraschende Entdeckung wäre ihnen gewiss: Beide Dokumente sind aus demselben Stoff, sprechen dieselbe Sprache. Sie legen die Priorität auf die zivile vor der militärischen Konfliktlösung und binden das Überschreiten der Gewaltschwelle an strikte Bedingungen. In Zeiten globaler Terrordrohung – ob durch Selbstmordtäter oder durch Schurkenstaaten – sei dies ein überholter Standpunkt, so die Kritiker. Sie mögen sich umsehen in der Konfliktrealität von heute und fragen, ob der schnelle Griff zu den Waffen die tückischen neuen Gewaltformen wirklich bezwingt. Oder nicht vielmehr erst schürt. 

In Deutschland wird das saloppe Strategiekonzept an den gerade wieder einmal restrukturierten Streitkräften kaum spurlos vorübergehen. Mit der Mahnung, „Auslandseinsätze müssten für die Bundeswehr künftig zur Selbstverständlichkeit werden“,[6] hat Minister Guttenberg den Kurs bereits justiert. Wer oder was die Sicherheit der Bundesrepublik gefährdet, wer oder was unsere Verbündeten bedroht – das sind die entscheidenden Fragen. Doch das Verteidigungsministerium hält sie mit dem jüngsten, wenngleich nicht mehr ganz frischen, Sicherheitsweißbuch der Bundesregierung offenbar bereits für abschließend beantwortet.[7] In der Tat trifft das Weißbuch an unauffälliger Stelle eine überaus einleuchtende Feststellung: „Die in vielen Teilen der Welt beobachteten Aufrüstungstendenzen und die übermäßige Akkumulation von Rüstungsgütern können negative Auswirkungen auf die regionale Stabilität und mittelbar auch auf Deutschland haben.“[8] Der Satz ist kritisch gemeint, doch selbstkritisch leider nicht.

 

 


[1] So am 23.2.2010 auf einem Seminar an der National Defense University. 

[2] Am 21.6.2010 in Brüssel auf der Jahreskonferenz der Security & Defence Agenda.

[3] Lothar Rühl, Mehr Gemeinsamkeit oder Untergang – Europäische Sicherheit in Zeiten des Sparens, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 2.11.2010.

[4] SIPRI Yearbook 2010, Armaments, Disarmament and International Security, New York 2010, S. 177.

[5] Das Strategische Konzept des Bündnisses vom 24.4.1999, Ziffern 29, 41, 43, 49, 54.

[6] Jörg Lau und Tina Hildebrandt, Hat Minister zu Guttenberg vorschnell geurteilt? In: „Die Zeit“, 3.12.2009.

[7] Vgl. Bundesministerium der Verteidigung, Leitlinien zur Ausplanung der neuen Bundeswehr, 30.6.2010, S. 1.

[8] Bundesministerium der Verteidigung (Hg.), Weißbuch 2006 zur Sicherheit Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin 2006, S. 25.

 

(aus: »Blätter« 12/2010, Seite 9-12)