Ob dem auf dem NATO-Gipfeltreffen am 19. November 2010 in Lissabon
verabschiedeten Neuen Strategischen Konzept (NSK) der Allianz bis zu
seinem Verfallsdatum eine längere Lebensdauer beschieden sein wird als
seinem Vorläufer - beschlossen 1999 und nach dem 11. September 2001
bereits obsolet - ist eine akademische Frage. Aber womöglich eine von
geringer Relevanz, folgt man dem Urteil kritischer Beobachter, die das
NSK bereits zum Zeitpunkt seiner Verkündung für „überholt" hielten. So
Jochen Bittner und Peter Dausend in der Zeit. Und tatsächlich
lässt das NSK bei näherer Betrachtung erhebliche Zweifel an den
kollektiven analytischen und konzeptionellen Fähigkeiten des Bündnisses
sowie an seinem Vermögen, eine zukunftsfähige Sicherheitspolitik zu
betreiben, aufkommen. Das betrifft zentrale Aspekte des NSK wie die
Orientierung auf ein europaweites Raketenabwehrsystem, das Verhältnis zu
Russland, die Abrüstung (eingeschlossen die Nichtweiterverbreitung von
Kernwaffen) sowie künftige Out-of-Area-Einsätze.
Stichwort - Raketenabwehrschild. US-Präsident Barack Obama hatte die
Pläne seines Amtsvorgängers George Bush jr., in Polen und in Tschechien
ein Abwehrsystem gegen ballistische Raketen zu installieren, fallen
gelassen und damit eine wesentliche Voraussetzung für das Zustandekommen
des neuen Start-Vertrages zur weiteren nuklear-strategischen Abrüstung
mit Russland geschaffen. Russland hatte diese Pläne als potenzielle
Gefährdung seiner nuklearen Vergeltungsfähigkeit im Falle eines Angriffs
und damit als grundsätzliches Vertragshindernis interpretiert. Obwohl
diese Interpretation angesichts der russischen Arsenale und der
begrenzten technischen Möglichkeiten heutiger Raketenabwehrsysteme
reichlich überzogen war, bewegte sie sich im Rahmen der traditionellen
nuklearen Abschreckungslogik, der auch Obamas Schritt letztlich Rechnung
trug.
Mit dem NSK hat die NATO aus den amerikanischen Raketenabwehrplänen ein
Joint Venture gemacht: Laut NSK soll nunmehr NATO-weit „die Fähigkeit
zur Verteidigung unserer Völker und Territorien gegen ballistische
Raketenangriffe" entwickelt und dabei „aktiv nach Kooperation ... mit
Russland" gestrebt werden. Mit einem Zeithorizont bis über das Jahr 2020
hinaus soll für geschätzte bis zu 20 Milliarden Euro ein gestaffeltes
Raketenabwehrsystem errichtet werden. Den Anfang soll bereits 2011 die
Dislozierung seegestützter US-Systeme zum Abfangen von Kurz- und
Mittelstreckenraketen geringer Reichweite, unter anderem vom Typ Aegis,
im Mittelmeer machen. Ab 2015 sollen noch in Entwicklung befindliche
leistungsfähigere US-Abwehrraketen vom Typ SM-3 hinzukommen, unter
anderem stationiert in Rumänien. Ab 2018 schließlich sollen auch in
Nordeuropa stationierte US-Systeme mit stark verbesserten Fähigkeiten in
Dienst gestellt werden, insbesondere gegen Mittelstreckenraketen großer
Reichweite (bis 3.000 Kilometer).
Die neue strategische Orientierung der NATO auf bündnisgebietsweite
Raketenabwehrfähigkeiten wirft eine Reihe von grundsätzlichen Fragen
auf.
Zunächst: Gegen welchen Feind gilt es? Nicht gegen Russland, das laut
NSK nicht mehr als Gegner betrachtet wird, mit dem man vielmehr
kooperieren will. Aber konkret hat sich die NATO in Lissabon zum Feind
nicht geäußert - angeblich auf Betreiben der Türkei, weil die mit diesem
Feind eine gemeinsame Grenze hat. Frankreichs Präsident Sarkozy war am
Rande der Tagung allerdings nicht so feinfühlig und sprach es klar aus:
„Iran." Allerdings: Dass Iran jetzt oder in absehbarer Zeit über eine
relevante Fähigkeit verfügt oder verfügen könnte, europäische Staaten -
zum Beispiel die Bundesrepublik - mit ballistischen Raketen anzugreifen,
behaupten derzeit nicht einmal NATO-Geheimdienste; allenfalls gibt es
in einschlägigen Medien ein „Hintergrundrauschen" in dieser Richtung.
Weiter: Vor einer strategischen Entscheidung pro Raketenabwehr wäre eine
Klärung der Frage zu erwarten gewesen, unter welchen Annahmen, die
Fähigkeit dazu unterstellt, ein Angriff auf NATO-Europa für Iran jemals
eine sinnvolle sicherheitspolitische oder militärische Option sein
könnte. Diese Frage hat bei der Entscheidungsfindung in der NATO aber
offenbar keine Rolle gespielt. Nur am Rande erwähnt sei in diesem
Zusammenhang die Anmerkung russischer Experten, wonach Iran immerhin
zwischen 60 und 70 Prozent seiner Wirtschaftsbeziehungen mit Europa
abwickelt.
Vor allem aber: Überhaupt nicht zu verstehen ist, warum die in den
vorhandenen ballistischen Raketenarsenalen der USA, Frankreichs und
Großbritannien materialisierte Fähigkeit zu massiver Vergeltung im Falle
eines Angriffs nicht jetzt und in Zukunft Iran hinreichend abschrecken
sollte. Was nach gängiger amerikanischer, ja NATO-Grundüberzeugung
während des gesamten Kalten Krieges funktioniert hat, sollte im Falle
Iran nicht ausreichen? Vielleicht weil die Iraner - im Unterschied zu
den Akteuren im Kalten Krieg - grundsätzlich Hasardeure sind, gegen die
jede Zusatzsicherung in Gestalt einer Raketenabwehr nur hilfreich sein
kann? Das wollen uns ja manche Politiker und Medien immer wieder gern
weiß machen - meist dann, wenn der iranische Präsident Mahmud
Ahmadinedschad einmal mehr eine seiner zugegebenermaßen unsäglichen
UNO-Reden gehalten hat. Doch darüber hinaus müssten für iranischen
Irrationalismus im außen- und sicherheitspolitischen Bereich belastbare
Belege erst noch erbracht werden. Die sollten dann aber möglichst nicht
die Qualität der von den USA weiland im UNO-Sicherheitsrat vorgelegten
„Beweise" für den irakischen Besitz von Massenvernichtungswaffen haben.
Im Übrigen sollte der Westen, wenn ihm wirklich an einer Beilegung des
Konflikts mit Iran gelegen ist, aufhören, das Land wie einen Paria oder
wie potenzielle Verfügungsmasse zu behandeln und Beziehungen auf
Augenhöhe anbieten und anstreben. Für scheinbar antagonistische
Beziehungsgefüge gibt es eine historisch einzigartig erfolgreiche Formel
- Wandel durch Annäherung.
Um zugleich nicht missverstanden zu werden: Hier wird kein Plädoyer für
eine Verewigung der nuklearen Abschreckung gehalten, die im
Versagensfalle für weite Teile der Welt, wenn nicht global zum
Sterbeglöcklein werden könnte. Hier wird lediglich die Sinnhaftigkeit
einer Raketenabwehr für Europa auf den Prüfstand gestellt - und zwar im
Koordinatensystem westlichen Sicherheitsdenkens.
Apropos Sinnhaftigkeit: Auch die Frage der technischen Realisierbarkeit
ist bei der jetzigen NATO-Entscheidung ausgeklammert worden. Seit den
60er Jahren und insbesondere seit Ronald Reagans Strategic Defense
Initiative (SDI) von 1983 geistern entsprechende Visionen und Planungen -
verbunden weniger mit bereits entwickelten, häufiger mit exotischen
Technologien - immer wieder durch die amerikanischen und
NATO-Sicherheitsdebatten, ohne dass es ein einziges wirklich
funktionssicheres System bis heute gäbe. Auch was die amerikanischen
Patriot-Abfangraketen von Israel aus während der Irakkriege gegen
veraltete russische Scud-Raketen an Treffern abgeliefert haben, wird
nicht umsonst nicht offensiv als Erfolgsstory vermarktet. Auf dieses
Dilemma gab es schon einmal eine tragfähige, Abrüstung stimulierende
Antwort: Begrenzung der Raketenabwehrrüstung durch den ABM-Vertrag
zwischen den USA und der Sowjetunion. Diesen Vertrag hat die
Bush-Administration bekanntlich 2002 einseitig aufgekündigt. Seine
Revitalisierung wäre eine sinnvolle Option, und dann gehörte die Frage,
wie man die Grundidee des ABM-Vertrages gegenüber anderen Staaten mit
Verfügungsgewalt über ballistische Raketen wie etwa China und Nordkorea
produktiv machen könnte, auf die Tagesordnung.
Nach dem bisher Gesagten komplettiert es den höchst zweifelhaften
Eindruck, den die NATO-Orientierung auf eine europaweite Raketenabwehr
hinterlässt, dass man auch der Finanzierung der Idee in Lissabon keine
weiteren Überlegungen widmete. NATO-Generalsekretär Anders Fogh
Rasmussen hatte im Vorfeld den Ball extrem flach gehalten und von
lediglich 200 Millionen Euro Kosten gesprochen, dabei allerdings das
Kleingedruckte unterschlagen: Nach Experteneinschätzungen fallen diese
Kosten allein für die Dislozierung, Vernetzung und den Unterhalt bereits
vorhandener Systeme (Aegis und andere) an. Neuentwicklung, Anschaffung,
Stationierung und Unterhalt künftiger Systeme sind in Rasmussens
Schätzung nicht enthalten. Daher kann man mit dem stellvertretenden
Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktiuon, Gernot Erler, einer Meinung
sein: „Wie man ein solches System angesichts der Sparzwänge, die auch
vor dem Verteidigungshaushalt nicht halt machen, realisieren will, ist
mir ein Rätsel."
So könnte der sinnvollste Aspekt an der NSK-Orientierung auf
Raketenabwehr letztlich in der erklärten Einladung an Russland liegen,
ein solches System kooperativ zu realisieren und damit den Kalten Krieg
zwischen beiden Seiten endgültig zu beenden sowie das Tor zu einer neuen
Ära sicherheitspartnerschaftlicher Beziehungen aufzustoßen. Ob das aber
eine realistische Erwartung ist?
Wird fortgesetzt.