„Soviel Abrüstung war noch nie in der NATO", jubelte
Bundesaußenminister Guido Westerwelle zum Abschluss des Paktgipfels in
Lissabon Ende November vergangenen Jahres. Dass die NATO sich jetzt
ebenfalls dem Ziel eines weltweiten Abbaus der Atomwaffen verpflichten
wolle, so Westerwelle gegenüber der Financial Times, sei
„wirklich revolutionär". Westerwelle suggerierte damit, die NATO habe
sich praktisch die Vision des US-Präsidenten Barack Obama von einer
kernwaffenfreien Welt zueigen gemacht. Dem Vernehmen nach wird sich der
Nordatlantikpakt sogar ein neues Gremium geben - einen
Abrüstungsausschuss. Doch der Blick auf das in Lissabon verabschiedete
Neue Strategische Konzept (NSK) der NATO und sein Umfeld dämpft nicht
nur jeden Anflug von Optimismus in Sachen atomare Abrüstung, sondern
gibt vielmehr zu der Befürchtung Anlass, dass die Abrüstungsrhetorik des
Paktes nicht viel mehr ist als eben Rhetorik.
Das ist im vorliegenden Fall keine Bagatelle, denn Experten sind sich
darüber einig, dass das internationale Regime zur Nichtweiterverbreitung
von Kernwaffen (Nonproliferation Treaty - NPT) nur am Leben zu erhalten
sein wird, wenn die Kernwaffenstaaten - drei der vier wichtigsten sind
die NATO-Länder USA, Frankreich, Großbritannien - ihrer Verpflichtung
zur nuklearen Abrüstung aus Artikel VI des NPT endlich so energisch
nachkommen, dass dies für so genannte Schwellenländer tatsächlich zu
einer politisch-moralischen Hürde und zu einem sicherheitspolitischen
Anreiz wird, die eigenen nuklearen Möglichkeiten und Ambitionen
aufzugeben. Setzt sich hingegen die seit Jahrzehnten zu verzeichnende
schleichende Aushöhlung des NPT-Regimes fort, dann wird die
Weiterverbreitung von Kernwaffen über die fünf ursprünglichen Atommächte
sowie Israel, Indien, Pakistan, Nordkorea und möglicherweise bald Iran
in Zukunft weit hinausgehen - verbunden mit einem entsprechend
wachsenden Risiko, was den möglichen Einsatzes von Atomwaffen
anbetrifft.
Was die NATO in ihrem nun geltenden strategischen Konzept zu Kernwaffen
formuliert hat, gleicht dem Versuch der Quadratur des Kreises. Dem
verbalen Bekenntnis „zu dem Ziel, die Bedingungen für eine Welt ohne
Kernwaffen zu schaffen" folgt - im selben Absatz - der erklärte Wille
zur Beibehaltung eben dieser Waffen: Solange Nuklearwaffen existierten,
werde die NATO „eine nukleare Allianz bleiben". Das ist quasi die
Aufforderung an alle anderen Atommächte und Schwellenländer, ihrerseits
komplett abzurüsten; dann werde die NATO folgen. Wenn Kritiker nun
unterstellen, dass Obama bereits bei der Verkündung seiner Vision von
einer atomwaffenfreien Welt eine solche Logik im Hinterkopf hatte, dann
kann dieser Unterstellung nach Lissabon zumindest noch weniger
überzeugend widersprochen werden als zuvor. Zu nuklearer Abrüstung in
Richtung „Zero" wird die NATO-Logik jedenfalls mit ziemlicher Sicherheit
nicht führen.
Hinzu kommt, dass die NATO sich über die Abschreckungsfunktion von
Kernwaffen hinaus die Option auf den Einsatz derartiger Waffen
ausdrücklich offen hält und diese Option nicht einmal auf Staaten
beschränkt, die nicht dem NPT angehören oder die ihrerseits Atomwaffen
einsetzen oder damit drohen. So ebenfalls zu entnehmen dem NSK. Daran
ändert auch der abschwächende Zusatz, dass denkbare „Umstände", in denen
ein Kernwaffeneinsatz in Erwägung gezogen werden könnte, „in extreme
Ferne" gerückt seien, nichts.
Hinzu kommt des Weiteren, dass der französische Präsident Nicolas
Sarkozy auf dem Lissaboner Gipfel erklärte, Frankreich werde niemals auf
seine nukleare Bewaffnung verzichten. Dass dieses Statement Reaktionen
anderer NATO-Partner ausgelöst hätte, ist nicht bekannt. So liegt die
Vermutung nahe, dass Sarkozy wieder einmal nur das ausgesprochen hat,
was auch in anderen führenden Paktstaaten gedacht wirdd und was kein
Paktstaat - zumindest nicht öffentlich - in Frage zu stellen wagt. Da
erscheint es nur folgerichtig, dass Frankreichs (und Großbritanniens)
Kernwaffen im NSK erstmals seit Jahrzehnten wieder expressis verbis
„eine eigenständige Abschreckungsrolle" zugemessen wird.
Hinzu kommt schließlich, dass der Abzug der letzten etwa 200 taktischen
US-Kernwaffen von europäischem Boden, wie ihn Außenminister Westerwelle,
aber auch kleinere europäische Verbündete bereits wiederholt
thematisiert haben, auf absehbare Zeit nicht stattfinden wird. Die
amerikanische Linie, unterstützt von Frankreich und wohl auch
Großbritannien, hat sich durchgesetzt, einen solchen Schritt nur im
Rahmen eines entsprechenden Abkommens mit Russland in Erwägung zu
ziehen.
Russland lehnt Abrüstungsgespräche über taktische Kernwaffen keineswegs
ab, fordert aber von den USA, zunächst dem eigenen Beispiel zu folgen:
Russland hat bereits vor Jahren seine sämtlichen bodenstationierten
taktischen Kernwaffen auf russisches Territorium zurückgezogen.
Militärische und sicherheitspolitische Gründe jedenfalls sprechen nicht
dagegen, dass die USA dies ebenfalls tun. So können die heute noch in
Deutschland, Belgien und den Niederlanden gelagerten US-Gefechtsköpfe
mit den vorhandenen Trägersystemen keine erkennbar sinnvolle
militärische Mission mehr erfüllen. Gegen deren Abzug aus Sicht der USA -
und anderer - sprechen aber vielleicht Gründe der Bündnisräson und das
Interesse, einen Damm gegen anschwellende nukleare Abrüstungsintentionen
von europäischen NATO-Verbündeten zu errichten. Dafür spricht auch die -
im NSK - dezidiert verankerte Fortführung, ja Verstärkung der
sogenannten nuklearen Teilhabe: „Wir werden die breitest mögliche (Hervorhebung
- WS) Beteiligung der Alliierten an der kollektiven nuklearen
Verteidigungsplanung, an der Stationierung von Kernwaffen in
Friedenszeiten und an Kommando-, Kontroll- und
Konsultationseinrichtungen sichern." Deutschland, Belgien, die
Niederlande, Italien und möglicherweise die Türkei sollen also weiterhin
eigene nationale Trägersysteme für die auf ihren Territorien gelagerten
US-Kernwaffen für den Kriegsfall stellen und damit potenziell sowie
nach amerikanischer Freigabe auch de facto Verfügungsgewalt über
Atomwaffen haben. Damit werden diese Länder auch in Zukunft gegen Geist
und Buchstaben des NPT - speziell Artikel I und II des Vertrages -
verstoßen, in ihrer nuklearen Abrüstungspolitik im Zweifelsfall
unglaubwürdig bleiben und nicht in der Lage sein, effektiven
Abrüstungsdruck auf die heutigen Atommächte oder auch nur auf
Schwellenländer auszuüben. Dass diese Staaten damit zugleich Ziele
potenzieller nuklearer Vergeltung bleiben, sei hier nur der
Vollständigkeit halber erwähnt.
Wenn im NSK zugleich die Feststellung getroffen wird, dass die
„Weiterverbreitung von Kernwaffen und anderen Massenvernichtungsmitteln ...
unkalkulierbare Konsequenzen für die internationale Stabilität ...
heraufbeschwört", dann ist das zwar eine zutreffende
Realitätsbeschreibung, mag manchem jedoch wie Zynismus anmuten. Meines
Erachtens handelt es sich eher um das Symptom einer Krankheit. Wer eine
existenzielle Gefahr erkennt, sich aber um des Erhalts der eigenen
Bedrohungsmittel willen und sehenden Auges selbst die Hände für eine
effektive Gefahrenbekämpfung bindet, dem ist sicherheitspolitische
Schizophrenie zu attestieren. Das ist natürlich keine klinische Diagnose
- aber eine treffende Metapher für ein Denken, das sich auch 20 Jahre
nach dem Ende des Systemantagonismus nicht konsequent und nachhaltig von
tradierten Paradigmen sowie Freund-Feind- und Nullsummenaxiomen, von
vorgestanzten Abschreckungsreflexen sowie von einer Überbetonung des
militärischen Faktors im Rahmen der Sicherheitspolitik zu lösen vermag.
(Das macht das NSK der NATO auch im Hinblick auf andere strategische
Fragen deutlich - etwa die Raketenabwehr und das künftige Verhältnis zu
Russland betreffend; siehe Blättchen Nr. 1 und 2-2011.)
Fazit: Einer Einschätzung, wie sie Christos Katsioulis von der
Friedrich-Ebert-Stiftung getroffen hat - „Das Strategische Konzept
leitet ... keineswegs eine Wende der NATO hin zu mehr Abrüstung und
Rüstungskontrolle ein ..." -, ist leider nichts hinzuzufügen.
P.S.: Mit dem hier Gesagten korrespondiert, dass der NATO auch zur konventionellen Abrüstung in diesem Jahrhundert praktisch noch nichts Konstruktives eingefallen ist - also für einen Bereich, in den der mit Abstand größte Teil der Miltärbudgets der NATO-Staaten wie auch weltweit fließt und mit dessen Mitteln sämtliche kriegerischen Konflikte seit Ende des Zweiten Weltkriegs geführt worden sind und geführt werden. Im NSK findet sich dazu lediglich ein substanzloser Allgemeinplatz: „Wir werden daran arbeiten, das Regime der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa ... zu stärken." Dabei existiert ein solches Regime in Europa praktisch nicht mehr - unter anderem, weil die NATO-Staaten die Modifizierungsvereinbarungen von 1999 zum Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) bis heute nicht ratifiziert haben. Im Unterschied zu Russland, das den KSE-Vertrag allerdings deswegen im Dezember 2007 ausgesetzt hat.