The enemies within

Aktuelle Tendenzen in der europäischen Straf- und Polizeigesetzgebung

Auf der Ebene der Europäischen Union (EU) wird der Sicherheitsstaat vorangetrieben. Dabei bedient man sich mit der Organisierten Kriminalität (OK) und dem Terrorismus willkommener Feindbilder. Einzelne Maßnahmen haben die Tendenz, das Konzept des Feindstrafrechts in die Realität umzusetzen.

Die Internationalisierung von Wirtschaft und Kommunikation sowie der grenzfreie Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital in Europa mit der Öffnung des Schengen-Raums bringen eine intensivierte europäische Zusammenarbeit im Bereich der Strafverfolgung mit sich. Diese sollte stets den durch die neue Freiheit drohenden Sicherheitsverlust ausgleichen - auch in Fällen, in denen sich ein solcher den Betroffenen gar nicht recht erschließen will. Zur Durchsetzung ihrer Sicherheitspolitik bediente sich die EU zunächst des Schreckensgespensts der OK.[1] Die der OK zugeschriebenen Taten seien von existenzbedrohender Gefährlichkeit für die europäische Gesellschaft, dies hätten zum Beispiel das „Schleuserunwesen" und die illegalisierte Migration gezeigt. Daher wurde 1997 der „Aktionsplan zur Bekämpfung organisierter Kriminalität" ins Leben gerufen, mit dem die OK zur EU-Angelegenheit wurde.

Der Aktionsplan zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität von 1997 forderte die Mitgliedstaaten auf, den Tatbestand der „Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung" in ihr Strafrecht aufzunehmen. Während in deutschem Recht bereits die §§ 129, 129a Strafgesetzbuch eine lückenlose polizeiliche Überwachung eines verdächtigen politischen Spektrums und die Aushöhlung strafprozessualer Rechte von Beschuldigten und Angeklagten ermöglichten, waren solch rechtsstaatlich bedenkliche Organisationsstrafnormen anderen europäischen Rechtsordnungen bislang völlig unbekannt gewesen.

Auf einen Straftatenkatalog wurde hierbei bewusst verzichtet, was zur Folge hat, dass die uferlose Definition einer kriminellen Vereinigung nun mitunter auch Allerweltsdelikte wie Diebstahl oder gefährliche Körperverletzung mit einschließen kann.[2] Durch einen Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung der „Organisierten Kriminalität" erlangte dieser Teil des Aktionsplans Verbindlichkeit für alle Staaten. Seit dem 11. Mai 2010 müssen alle Mitgliedsstaaten über einen solchen Straftatbestand verfügen.

In diesem Zusammenhang entstand auch Europol, das zukunftsweisend für die weitere Entwicklung der operativen polizeilichen Arbeit in Europa sein sollte. Ziel des europäischen Polizeiamtes ist es, die Behörden der Mitgliedstaaten bei der Verhütung und Bekämpfung bestimmter Delikte durch die Sammlung, Verarbeitung und Weitergabe von Daten zu unterstützen.

Europol - unkontrollierte Verbrechensbekämpfung

Mittlerweile hat sich Europol zur zentralen Schaltstelle bei der Verbrechensbekämpfung in Europa entwickelt. Seine Zuständigkeit erstreckt sich nach mehrfacher Ausweitung auf verschiedenste schwerwiegende Formen internationaler Kriminalität wie z.B. Drogenhandel, Schleuserkriminalität, Menschenhandel, vorsätzliche Tötung, Computerkriminalität, Korruption und Betrugsdelikte.

Die Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung wird - neben einer internen Kontrolle durch den Direktor - extern durch die sog. Gemeinsame Kontrollinstanz (GKI) überwacht, die darüber hinaus auch Beratungsaufgaben zur Problemlösung innerhalb Europols wahrnimmt. Sie ist ausdrücklich aus den Weisungsstrukturen der mitgliedstaatlichen Verwaltungsapparate herausgelöst und besteht aus je zwei Vertreter_innen der nationalen Kontrollinstanzen der Mitgliedstaaten, die nicht etwa Richter_innen sein müssen. Im Falle der Ablehnung eines Antrags auf Berichtigung bzw. Löschung von durch Europol gespeicherten Daten steht jeder Person ein Beschwerderecht an die GKI zu. Die Entscheidung der GKI bedarf keiner Begründung und ist zugleich rechtskräftig, unterliegt also keiner weitergehenden justiziellen Kontrolle. So ist es möglich, dass ein Mitglied der GKI abschließend über Sachverhalte zu entscheiden hat, denen es vorab selbst die Rechtmäßigkeit bescheinigt hat und sich somit Verwaltung und Rechtsprechung personell vermischen.

Darüber hinaus kann Europol personenbezogene Daten an einen Staat außerhalb der EU übermitteln und sich somit einer Kontrolle durch den Betroffenen endgültig entziehen.[3] Eine solche Privilegierung der Polizei begegnet nicht nur grundlegenden datenschutzrechtlichen Bedenken, sondern steht in völligem Widerspruch zum auch auf europäischer Ebene geltenden Rechtsstaatsprinzip, zu nationalen Grundrechten sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die fehlende rechtliche Einbindung Europols führt dazu, dass dort gesammelte und analysierte Daten in nationale Strafverfahren einfließen können, ohne dass geklärt werden kann, ob bei ihrer Gewinnung nationale Verfahrensvorschriften eingehalten wurden.[4]

Europäischer Datenschutz: der Effizienz geopfert?

Als Reaktion auf die Terroranschläge von Madrid vom 11. März 2004 wurde weiterhin der Grundsatz der Verfügbarkeit von Informationen ins Leben gerufen, der die grenzüberschreitende Datenübermittlung erleichtern und den Ermittlungsbehörden anderer Mitgliedstaaten grundsätzlich unter den gleichen Bedingungen Zugang zu personenbezogenen Daten gewähren soll wie inländischen Behörden. Verwirklicht wurde der Verfügbarkeitsgrundsatz durch den Vertrag von Prüm aus dem Jahr 2007, dessen wesentliche Bestimmungen 2008 in den Rechtsrahmen der EU aufgenommen wurden. Er ermöglicht den Behörden eines Vertragsstaats den Zugriff auf DNA-Muster und Fingerabdrücke, die in einem anderen Vertragsstaat gespeichert sind. Während die im Vertrag von Prüm enthaltenen Regelungen empfindliche Grundrechtseingriffe ermöglichen, verbleiben entsprechende datenschutzrechtliche Regelungen auf vergleichsweise niedrigem Niveau. Im Hinblick auf Mindeststandards eines gemeinsamen europäischen Datenschutzes verweist der Vertrag auf die Empfehlungen des Europarates aus dem Jahr 1987, die jedoch keinen rechtsverbindlichen Charakter haben. Daher fällt der Schutz personenbezogener Daten größtenteils auf die höchst uneinheitlichen nationalen Datenschutzrechte zurück. Das Bestreben nach umfassender, beschleunigter, europäisch zentralisierter Datenverarbeitung überwiegt offensichtlich das Bemühen um einen gemeinsamen, justizförmig überprüfbaren europäischen Datenschutz.

Unmittelbar nach 9/11 wurde die OK vom Terrorismus als „zentrale Bedrohung" abgelöst. Der „Aktionsplan zur Bekämpfung des Terrorismus" sah nun wiederum eine Intensivierung der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit vor. Im Vordergrund stand hier vor allem der Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl. Dabei gibt es weder über die  Begrifflichkeiten der OK und des Terrorismus einheitliche Vorstellungen noch ist klar, wie die beiden Phänomenen voneinander abzugrenzen sind.[5]

Nichtsdestotrotz wurden in den vergangenen Jahren im Rahmen der Europäischen Union zahlreiche sicherheitsrechtliche Maßnahmen beschlossen, die sich in erster Linie dieser Feindbilder bedienen.

Das repressivste Strafrecht setzt sich durch

Die Verabschiedung des Aktionsplans Terrorismus erfolgte am 21. September 2001, also zehn Tage nach 9/11. Um die Strafverfolgung „effizienter" zu gestalten, wurde das von Kooperation geprägte Auslieferungssystem zwischen den Mitgliedstaaten durch ein vereinfachtes System der Übergabe zwischen Justizbehörden ersetzt. Dieses ist vor allem durch grundlegende Einschränkungen von Auslieferungshindernissen gekennzeichnet. So wurde hinsichtlich einer Vielzahl von Delikten unterschiedlichster Art (z.B. Cyberkriminalität, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Vergewaltigung, Brandstiftung und Sabotage) auf das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit verzichtet und das Verbot der Auslieferung eigener Staatsangehöriger aufgehoben.

So ist es möglich, dass ein Staat durch Übergabe des/der Beschuldigten mittelbar Delikte anerkennen muss, die er in der eigenen Rechtsordnung nicht kennt. Zu befürchten ist daher die europaweite Durchsetzung des jeweils punitivsten Strafrechts.[6] Außerdem wird die verfahrensrechtliche Schlechterstellung, die aus Sprachhindernissen, kulturellen Unterschieden und andersartigem Prozessrecht mit verschlechterten Verteidigungsmöglichkeiten resultieren kann, nicht etwa durch verbesserte, europaübergreifende Verteidigungsmöglichkeiten kompensiert.[7]

Keine Unschuldsvermutung für Terrorverdächtige

Als Reaktion auf 9/11 entstand auch die EU-Terrorliste. Diese Liste bildet die Grundlage zur Durchführung wirtschaftlicher Sanktionsmaßnahmen gegenüber als terroristisch eingestufter Einzelpersonen und Gruppen. Ihnen drohen u.a. Einreiseverbote, Passentzug, Reiseverbote, Einfrieren des gesamten Vermögens, Sperrung von Konten und Kreditkarten oder die Einstellung von Sozialleistungen.

Alle EU-Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die Sanktionen durchzusetzen. In Deutschland geschieht dies etwa durch das Außenwirtschaftsgesetz. Die Terrorliste wird in regelmäßigen Abständen in nicht öffentlichen Sitzungen des EU-Ministerrats aktualisiert, oft auf Grundlage nicht überprüfbarer Geheimdienstinformationen. Das Europäische Gericht erster Instanz entschied dazu, dass die Unschuldsvermutung in diesem Zusammenhang nicht greife, da es sich um „Sicherungsmaßnahmen", nicht um Strafmaßnahmen handele.[8] Auch werden die Betroffenen nicht über die Listung unterrichtet. So erfahren sie in der Regel erst davon, wenn sie etwa auf ihr Bankkonto zugreifen wollen. Selbst der Sonderberichterstatter des Europarates Dick Marty spricht daher von einer „zivilen Todesstrafe".[9] In einem Urteil vom Juli dieses Jahres allerdings hat der EuGH jedenfalls für den Zeitraum bis Juni 2007 die Terrorlisten für ungültig erklärt, weil bis dato die Aufnahme der betroffenen Gruppierungen nicht ausreichend begründet worden war.[10]

Feindstrafrechtliche Tendenzen

Mit Blick auf die Motivation und Rechtfertigung der europäischen Strafverfolgung wird klar: Hier geht es nicht um Straftäter_innen, sondern um „Feind_innen", die den „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" zu zerstören suchen. Haben wir also ein europäisches Feindstrafrecht? Geprägt wurde dieser Begriff durch den Bonner Rechtsphilosophen Günther Jakobs: „In dieser Sprache - vorverlagernd, ohne die Strafe zur Vorverlagerung proportional zu reduzieren, mit harter Strafe bekämpfend, prozessuale Garantien abbauend - spricht der Staat nicht mit seinen Bürgern, sondern droht er seinen Feinden."[11] So werden sämtliche das Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen kriminalisierenden Normen sowie der systematische Abbau von prozessualen Rechten als charakteristisch für ein „Feindstrafrecht" gesehen. Dabei gab es zum Beispiel in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, aber auch in anderen Ländern stets Gruppen, die als „Bedrohung der Inneren Sicherheit" angesehen und bekämpft wurden. Diese Gruppen wechselten im Laufe der Jahre. Feindstrafrecht ist somit nicht nur eine rechtliche Vorgehensweise, sondern gleichzeitig eine politische: Es verschiebt interne Rivalitäten der Gemeinschaft nach außen, es versucht durch das Schaffen und Bekämpfen von Feind_innen eine Gemeinschaft der Angegriffenen herzustellen. Daher sind insbesondere Migrationshelfer_innen oder „islamistische" Terrorist_innen genehme Feind_innen.

So richtet sich das Konzept an Adressat_innen, die davon ausgehen, „der Feind" könnten doch nur die Anderen sein. Jedoch setzt die Anwendung des Feindstrafrechts die Unschuldsvermutung außer Kraft. Wenn die staatlichen Strafverfolgungsbehörden aber allen Menschen, die sie für Feind_innen halten, diese vorenthalten können, dann verliert sie generell ihre Geltung. Die Zuordnung Einzelner zu Bürger_in oder Feind_in wird - unangreifbar - in die Hände staatlicher Funktionsträger_innen gelegt.

Exemplarisch hierfür sei erneut an die EU-Terrorliste erinnert, für die die Unschuldsvermutung explizit keine Gültigkeit besitzen soll. Straftatbestände wie der der kriminellen oder gar terroristischen Vereinigung ermöglichen eine Kriminalisierung der Gesinnung; auf diese Weise Kriminalisierte können dann zwischen den Mitgliedsstaaten relativ formlos „übergeben" werden, ob nun eine beiderseitige Strafbarkeit besteht oder nicht.

All dies wurde mit der notwendigen Bekämpfung der „organisierten" oder sogar „terroristischen" Feind_innen begründet. Ziel ist eindeutig nicht mehr die rechtsstaatliche Bestrafung von deviantem Verhalten, sondern die Kaltstellung der Personen, die als dem „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" feindlich eingestellt gebrandmarkt werden.

Konsequenzen für alle

Nichtsdestotrotz werden durch die Einführung solcher Bekämpfungsmethoden die Rechte aller eingeschränkt, indem solche einst gegen Feind_innen geschaffene Mittel oder Straftatbestände früher oder später auch auf „normale" Straftäter_innen bzw. Verdächtige angewandt werden.

Charakteristisch ist, dass sich die durchgesetzten Verschärfungen auf materieller sowie prozessualer Ebene gerade nicht auf einen sauber abgrenzbaren Personenkreis der „Schwerkriminellen" begrenzen. Befugnisse werden beständig ausgeweitet und bleiben letztlich in ihrem Anwendungsbereich offen.

Beim Europäischen Haftbefehl wiederum beruht der Wegfall des Erfordernisses der beiderseitigen Strafbarkeit auf teils sehr unbestimmten Delikten, die nicht mit konkreten Tatbeständen nationaler Rechtsordnungen vergleichbar sind. Eine solch konkrete Trennung zwischen Bürger_innen und Kriminellen, wie sie zur Rechtfertigung der Notwendigkeit eines Europäischen Haftbefehls herangezogen wurde, ist hierbei nicht möglich.

Außerdem ist ein kumulativer Effekt dieser Gesetzgebung zu erwarten. Mit dem Verschwinden alter Feindbilder und dem Auftauchen neuer werden die zuvor eingeführten Normen nicht wieder außer Kraft gesetzt werden - zurückgenommen wurde in diesem Bereich der EU-Gesetzgebung bislang noch kaum eine Strafschärfung.

 

Ulrike Flender und Lukas Theune waren noch nie in Brüssel.

[1] Letizia Paoli / Cyrille Fijnaut, Organised Crime Control Policies in Europe. Criminology in Europe, 2006, 3; Anna Luczak, „Mafiakraken", Forum Recht 2002, 44 ff.

[2] Mark Holzberger, EU-Aktionsplan gegen OK, Zeitschrift für Bürgerrechte & Polizei/CILIP 1999, 69 ff.

[3] Sabine Gleß, Deutsche Richterzeitung 2000, 365 ff. (373).

[4] Walter Perron, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 2000, 202 (209).

[5] Walter Gropp / Arndt Sinn (Hrsg.), Organisierte Kriminalität und kriminelle Organisationen, 2006, 506 f.; Jörg Kinzig, Die rechtliche Bewältigung von Erscheinungsformen organisierter Kriminalität, 2004, 772.

[6]  Bernd Schünemann, Europäischer Sicherheitsstaat - europäischer Polizeistaat, Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik 2007, 528 ff. (531).

[7] Tobias Pohl, Vorbehalt und Anerkennung, 2009, 24.

[8] Europäisches Gericht, Rechtssachen T-37/07 und T-323/07 (Mohamed El Morabit /Rat), Entscheidung vom 2.9.2009.

[9] Dick Marty, Bericht v. 16.11.2007 vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ,  http://assembly.coe.int (letzter Aufruf: 01.07.2010); ausführlich dazu: Britta Eder, Rote Hilfe Zeitung 2010, 37.

[10] Europäischer Gerichtshof, Rs. C-550/09, Pressemitteilung Nr. 64/10 v. 29.06.10.

[11] Günther Jakobs, Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht 2004, 51 ff.