»Sklaven einer widerlichen Weltanschauung«

Die neonazistischen Aktivitäten zu den »Rheinwiesenlagern« 2010

in (05.03.2011)

„Wir wurden am 8. Mai ’45 nicht befreit, wir wurden nur die Sklaven einer widerlichen, kranken liberalen Weltanschauung“, brüllt Matthias Drewer aus dem westfälischen Hamm seinen Kameraden zu. Er bringt damit auf den Punkt, worum es den Neonazis, die am 20. November 2010 einen „Trauermarsch“ in Erinnerung an das Remagener Rheinwiesenlager durchführten, geht: Die Revision der Nachkriegsordnung und die nachträgliche Legitimierung des Nationalsozialismus.

Das größte Mobilisierungspotenzial haben in der extrem rechten Szene unvermindert geschichtspolitische Themen. Fast ausschließlich geht es bei solchen Anlässen um das Kriegsende und die unmittelbare Nachkriegszeit. Kennzeichnend für die neonazistische Beschäftigung mit dieser Zeit ist das Ausblenden der Vorgeschichte, die Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses und zum Teil hanebüchene Geschichtsfälschungen. Als Anlässe dienen vor allem Jahrestage alliierter Luftangriffe. Die Mobilisierung zu den Aufmärschen rund um den 13. Februar in Dresden ist dafür das prominenteste Beispiel.

Rheinwiesenlager

In den letzten Jahren gewinnt aber auch das „Gedenken“ an in alliierten Kriegsgefangenenlagern Verstorbene an Bedeutung, so etwa im niedersächsischen Bad Nenndorf und bei den neonazistischen Aktionen zum „Gedenken“ an die so genannten Rheinwiesenlager, die das amerikanische Militär ab März 1945 entlang des linken Rheinufers einrichtete.
Die Ansiedlung der insgesamt etwa 20 Lager in diesem Gebiet hatte zwei wesentliche Gründe: Zum einen sollte verhindert werden, dass die Gefangenen flüchten und sich noch bestehenden militärischen Verbänden der Deutschen anschließen können. Dagegen bildete der Rhein eine natürliche Barriere. Zum anderen sahen sich die US-Streikräfte – nach der gescheiterten Ardennenoffensive der Wehrmacht, der Zerschlagung des so genannten Ruhrkessels und schließlich der Kapitulation Deutschlands – einer deutlich höheren Zahl an Kriegsgefangenen gegenüber als zuvor angenommen. Ihren ursprünglichen Plan, diese dorthin zu bringen, wo ihre Versorgung leichter zu gewährleisten gewesen wäre, etwa nach England, mussten die Alliierten angesichts der Masse an Gefangenen aufgeben. Stattdessen wurden in räumlicher Nähe Lager errichtet. Diese Lager waren vor allem Durchgangslager. Der Großteil ihrer Insassen verließ sie nach einigen Wochen wieder, meist in Richtung Frankreich. Im September 1945 waren bis auf das Lager Bretzenheim/Nahe sämtliche Lager aufgelöst. Die Zustände in den Lagern waren vor allem in den ersten Wochen aufgrund der Eile, in der sie errichtet werden mussten, und der generellen Versorgungslage in Europa teilweise sehr schlecht.

Fälschungen und Mythen

Um die Verhältnisse in den Rheinwiesenlagern ranken sich jedoch jede Menge Mythen. Viele dieser Mythen gehen auf die Darstellung des kanadischen Publizisten James Bacque in seinem Buch Other Losses (deutsch: Der geplante Tod, zuerst 1989 bei Ullstein, später beim extrem rechten Verlag Pour le Mérite von Dietmar Munier) zurück. Bacque behauptet, in Kriegsgefangenenlagern der Westalliierten, vor allem in den Rheinwiesenlagern, seien 800.000 bis eine Million Menschen durch Nahrungsmangel und Krankheiten verstorben. Und mehr noch: Dies sei von den Alliierten so geplant gewesen. Trotz offensichtlicher Ungereimtheiten und massiver methodischer und inhaltlicher Fehler schafften es die Thesen des Revisionisten Bacque bis in die seriöse Presse. Seine Behauptungen stützen sich auf die These, der Begriff „other losses“ (andere Verluste) in den Listen der Lager habe Todesfälle bezeichnet.
Tatsächlich verweist der Begriff „other losses“ auf den Charakter der Lager als Durchgangsstationen. „Other losses“ bezieht sich meist auf Gefangene, die nach Frankreich oder in andere Rheinwiesenlager gebracht oder auch entlassen wurden. Nach seriösen Rechnungen etwa des Militärhistorikers Rüdiger Overmans sind 5.000 bis 10.000 Menschen in den Rheinwiesenlagern ums Leben gekommen. Eine Zahl, die zwar immer noch drastisch klingt, aber angesichts der insgesamt etwa eine Million Insassen und der Versorgungsumstände zu Kriegsende relativ niedrig ist.
An seine Grundthese schließt Bacque eine Fülle von ebenfalls fragwürdigen oder falschen Hilfsargumenten an, die sich zum Beispiel auf den völkerrechtlichen Status der Gefangenen beziehen. Bacques Darstellung liefert den argumentativen Hintergrund für eine ideologische Geschichtsauffassung, die nicht nur die deutschen Verbrechen ausblendet, sondern umgekehrt den Opfer-Status für die Deutschen selbst beansprucht und damit eine Form der Holocaustrelativierung darstellt. Bei den Neonazis werden die insgesamt keine sechs Monate bestehenden Rheinwiesenlager denn auch zu „Konzentrationslagern“, in denen systematisch Deutsche ermordet worden seien. So hängten Neonazis im Vorfeld des Aufmarsches am 20. November 2010 ein Banner mit der Aufschrift „1.000.000 Tote in US KZ“ an eine Brücke über die Autobahn 61.

Tabubruch?

Die Neonazis stellen sich dabei – wie so oft – als Tabubrecher dar und behaupten, über deutsche Opfer werde nicht gesprochen. Tatsächlich gehört der Komplex „Kriegsgefangenschaft“ als Opfer-Erzählung schon seit dem unmittelbaren Kriegsende zum kulturellen wie zum kommunikativen Gedächtnis der Deutschen. Zu den Rheinwiesenlagern existiert eine Fülle von Berichten ehemaliger Insassen. Und in den Gemeinden, auf deren Gebieten Rheinwiesenlager existierten, gibt es häufig eine kanonisierte Form des Gedenkens, die zum Teil großen öffentlichen Raum beansprucht. Dies zeigt sich besonders deutlich in Bretzenheim/Nahe und in Remagen. In Remagen wurde in den 1980ern eine Kapelle errichtet. In deren Mitte steht mit der „Schwarzen Madonna“ eine Skulptur, die von einem ehemaligen Insassen, dem NS-Bildhauer Adolf Wamper, geschaffen wurde. Die Benennung des ehemaligen Lagergeländes in Bretzenheim als „Feld des Jammers“ ist keine ausschließlich extrem rechte Diktion. Hier wurde schon in den 1960ern ein Denkmal errichtet, das von der Ortsgemeinde unterhalten wird.

Totengedenken in Bretzenheim

Der ehemalige rheinland-pfälzische NPD-Landesvorsitzende Wilhelm Herbi veranstaltet schon seit langem jährliche „Totengedenken“ in Bretzenheim, die seit einigen Jahren etwas größeren Zulauf erhalten. 2010 wurde in Bretzenheim zusätzlich zu dieser Veranstaltung von den Nationalen Sozialisten Mainz-Bingen bzw. dem nahezu personalidentischen NPD-Kreisverband Naheland um Ingo Helge eine Kranzniederlegung durchgeführt, die von Seiten der NPD jedoch nicht explizit als Teil der „Rheinwiesenlager-Kampagne“ geführt wurde.

Die „Rheinwiesenlager-Kampagne“ des ABM im Jahre 2010
Schon am 8. Mai 2005 und am 21. November 2009 hatte das Aktionsbüro Mittelrhein (ABM) Aufmärsche in Remagen durchgeführt. Im Jahre 2010 erreichten die neonazistischen Aktionen zu den Rheinwiesenlagern jedoch einen Höhepunkt, wenn auch die vom ABM um Sven Lobeck (vgl. LOTTA #38, Seite 34ff.) gewählte Bezeichnung „Kampagne“ übertrieben sein dürfte. Dennoch hat es in der linksrheinischen Region wohl noch nie so viele neonazistische Aktivitäten rund um die für solche Veranstaltungen sonst üblichen Termine Volkstrauertag und Totensonntag gegeben. So gab es zum Beispiel neben dem Aufmarsch am 20. November 2010 in Remagen (vgl. diese Ausgabe S. 40) am 13. November 2010 in Sinzig einen Fackelmarsch, an dem auch Neonazis aus NRW teilnahmen. Im pfälzischen Böhl-Iggelheim bei Speyer, ebenfalls ehemaliger Standort eines Rheinwiesenlagers, organisierten die als einzige Gruppe aus dem südlichen Rheinland-Pfalz offiziell an der Kampagne beteiligten Pfalzpatrioten einen „Gedenkmarsch“ am 18. November 2010.
Die gesteigerte Aktivität setzte sich jedoch nicht in eine massive Steigerung der TeilnehmerInnenzahl des Aufmarsches in Remagen am 20. November um. Etwa 270 Nazis marschierten durch Remagen, keine 50 mehr als im Vorjahr. Der Erfolg der gesteigerten Anstrengungen der Neonazis blieb also eher bescheiden.

Ausblick

Die Gefahr extrem rechter Aktivitäten zu den Rheinwiesenlagern liegt zum einen in ihrer möglichen regionalen Streuung. So könnten viele neonazistische Gruppierungen entlang des Rheins eigene Veranstaltungen zum Thema organisieren. Zum anderen liegt die Gefahr darin, dass die extreme Rechte, wenn es um Kriegsgefangenenlager geht, auch an etablierte nicht extrem rechte Diskurse und Narrative in der Region über das Kriegsende anschließen und darüber gesellschaftlichen Einfluss gewinnen könnte.

Aus: Lotta - antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen, Nr. 41, Winter 2010/2011 http://projekte.free.de/lotta