Kritik ja! Aber woran?

Eine Debatte über Rassismus, Ressentiment und Islamkritik mit Birgit Rommelspacher, Lothar Galow-Bergemann, Markus Mersault und Ismail Küpeli

iz3w:  Gibt es in der gegenwärtigen Debatte über den Islam(ismus) einen antimuslimischen Rassismus? Wenn ja, worin besteht er, und was ist das Spezifische an ihm?

Birgit Rommelspacher: Ja, viel an der »Islamkritik« ist als Rassismus zu werten. Wobei ich mich nicht auf die Kritik am radikalen, politisierten Islam, den Islamismus beziehe, sondern auf die in unserer Gesellschaft gängige Kritik an »dem« Islam. Bei ihr handelt es sich überwiegend um pauschalisierende und abwertende Äußerungen, die die Betroffenen als Kollektiv diskreditieren. Dabei werden viele Menschen einfach als Muslime apostrophiert, unabhängig davon, ob sie sich selbst so verstehen. Es wird in der Regel nicht zwischen unterschiedlichen Strömungen innerhalb des Islam differenziert, und es kommen so gut wie nie die Betroffenen selbst zu Wort. So werden etwa im Zusammenhang mit der Frauenfrage die muslimischen feministischen Bewegungen nicht zur Kenntnis genommen. Jeder »weiß« heutzutage, was es mit »dem« Islam und »den« Frauen auf sich hat.

Nun finden wir Pauschalisierung und Stereotypisierung allenthalben. Der Unterschied zum Rassismus ist der, dass dieser auf ein gesellschaftliches Verhältnis abzielt: das heißt, dass durch die Diskreditierung die Chancen der Betreffenden in der Gesellschaft real beeinträchtigt werden. So wurde beispielsweise das islamische Kopftuch ausschließlich als ein Zeichen von Frauenunterdrückung gedeutet und in der Hälfte der Bundesländer im Öffentlichen Dienst verboten, was, wie kürzlich eine Berliner Untersuchung zeigte, dazu führte, dass muslimische Frauen generell deutlich schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Insofern fragt sich, geht es den »IslamkritikerInnen« tatsächlich um die Emanzipation der Frau? Es fällt auf, dass die Folgen der Islamkritik in den allermeisten Fällen zu repressiven Maßnahmen geführt haben, angefangen beim so genannten Muslimtest, der ab 2005 vom Land Baden Württemberg entwickelt wurde.

Lothar Galow-Bergemann/Markus Mersault: Eine Debatte über das Kopftuchverbot ist legitim, sie wird aber schräg, wenn sie den Kopftuchzwang nicht mehr thematisiert - aus Angst, das sei rassistisch. Oder noch schlimmer, wenn sie die damit praktizierte Frauenunterdrückung leugnet oder sie lediglich als »eine von mehreren möglichen Interpretationen« in diskursive Luft auflöst. Es gibt zum Glück viele Menschen beiderlei Geschlechts, die sich als muslimisch definieren und nichts von diesem abstoßenden patriarchalen Herrschaftsinstrument wissen wollen. Mit dem Islamismus gibt es weltweit viele negative Erfahrungen - die meisten Menschen, die sie machen, bekennen sich übrigens selbst zum Islam - und deswegen ist scharfe Kritik an ihm dringend notwendig. Jede Diskreditierung der Kritik am Islamismus, etwa unter Zuhilfenahme des abstrusen »Islamophobie«-Vorwurfs, ist ein Verrat an unverzichtbaren zivilisatorischen Standards und fällt Millionen Muslimen in den Rücken.

Das ist eine von mehreren unverzichtbaren Seiten der Auseinandersetzung um das Thema. Eine andere ist die: Es gibt unter den »Urdeutschen« (so Seyran Ates) ein grassierendes antimuslimisches Ressentiment, das sich oft in völliger Selbstverkennung als »Islamkritik« versteht. Letztere, sofern sie denn wirkliche Religionskritik ist, halten wir für dringend nötig. Höchst problematisch ist es jedoch, wenn unter diesem Signet ganze Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt und diskriminiert werden. Warum Ressentiments anders als Rassismus keine Auswirkung auf die ökonomische, soziale und politische Lage der davon Betroffenen haben sollen, erschließt sich uns indes nicht. Wir sprechen vom antimuslimischen Ressentiment statt von Rassismus, weil wir glauben, dass spezifische Ressentiments gegen Menschen existieren, die als Muslime identifiziert werden. Wer sich die antimuslimische Internetplattform »Politically Incorrect« oder den Verein »Bürgerbewegung Pax Europa« anschaut, wird dem zustimmen.

Aber zugleich weisen antimuslimische Ressentiments über rassistische Elemente hinaus, wenn sie in verschwörungsphantasierendem Duktus sich vor der »Gebärmutter als Waffe des Islam« fürchten und die westliche Gesellschaft vor islamischer Überflutung und Unterjochung retten wollen. Zwar gibt es in der islamischen Welt tatsächlich weltherrschaftliche Ansprüche und Morde an Ungläubigen, doch längst nicht jede islamische Strömung sympathisiert mit ihnen. Zum anderen manifestiert sich im antimuslimischen Ressentiment, wie es in Deutschland kursiert, die gescheiterte Vergangenheitsbewältigung. Die Benennung des auch in der islamischen Welt virulenten Antisemitismus dient dem Zweck, das absolut Böse woanders auszumachen und so die deutsche Identität zu rehabilitieren. Auch erscheinen die Deutschen nunmehr als moderne Opfer an der Seite

der wahren Opfer, nämlich der Juden. Beide Elemente finden sich im Rassismus nicht. Der Begriff des antimuslimischen »Rassismus« erzeugt aber gerade durch seine inflationäre Verwendung das Bild eines raumzeitidentischen Phänomens, das der Dynamik gesellschaftlicher Prozesse nicht gerecht wird.

Ismail Küpeli: Um die Ausgangsfrage zu beantworten, wäre es eigentlich sinnvoll, die Begriffe zu klären und die Beziehung zwischen dem Islam als Religion und Islamismus als moderner politischer Bewegung näher zu betrachten. Allerdings lässt sich dieser Anspruch in einer öffentlichen Debatte kaum aufrechterhalten.

Grundsätzlich kann die Feindschaft gegenüber Muslimen in Deutschland durchaus als Rassismus bezeichnet werden, wenn man von »Rassismus ohne Rassen« (in Anschluss an Balibar/Hall) ausgeht. Hier sind zwei Kriterien zentral: Erstens die Kategorisierung von Menschen aufgrund kultureller Eigenschaften, die als fest und relativ unveränderlich definiert werden. Zweitens die Ausgrenzung von Menschen aufgrund dieser Kategorisierung. Diese beiden Aspekte finden sich bei der Feindschaft gegen Muslime in Deutschland wieder. Dabei ist es recht unerheblich, dass statt von »Rasse« von »Kultur« gesprochen wird, wenn »Kultur« als etwas Essentielles und Unveränderliches verstanden wird. RassistInnen und AntisemitInnen sind durchaus in der Lage, die »Anderen« gleichzeitig als minderwertig und gefährlich zu sehen. Diese beiden Aspekte sind in der Sarrazin-Debatte nochmals deutlich geworden - und ebenso die Geschwindigkeit, in der kulturalistischer in biologistischen Rassismus übergehen kann.

Unabhängig von der Begriffswahl basiert die Feindschaft gegenüber Muslimen auf einer Vorstellung des Islams als Religion, die grundsätzlich anders ist. »Der« Islam sei gewalttätig und bedrohlich und gleichzeitig minderwertig und primitiv. Veränderungsprozesse werden dabei ausgeschlossen, und die Pluralität des »real existierenden« Islams wird negiert. In einer frappierenden Übereinstimmung mit IslamistInnen gehen die deutschen »IslamkritikerInnen« davon aus, dass der »wahre« Islam gleichbedeutend mit einer reaktionären Interpretation des islamischen Rechts ist. Bevor wir also über Kopftuchverbote, Islamunterricht an deutschen Schulen und IslamistInnen reden, sollten wir uns über die »unverzichtbaren zivilisatorischen Standards« in der Debatte selbst klar werden. Sonst dienen linke Stimmen, die fatalerweise glauben, Menschenrechte verteidigen zu können, indem sie gegen Muslime agitieren, in der »Islamdebatte« zur Legitimation des antimuslimischen Rassismus.

 

iz3w: Herr Galow-Bergemann, Herr Mersault, warum lehnen Sie die Begriffe »antimuslimischer Rassismus« und erst recht »Islamophobie« so vehement ab?

LGB/MM: Der bloß formal bleibende (Neo-)Rassismusbegriff von Hall und Balibar abstrahiert gerade von konkreten Inhalten der Zuschreibungen, von Ursachen, Anknüpfungspunkten und sozialpsychologischen Funktionen der jeweiligen Ressentiments. Ein solch abstrakt-allgemeiner Begriff kann konkrete gesellschaftliche Phänomene nicht wirklich erhellen. Nicht zufällig ist für Balibar der differentialistische Rassismus der Form nach ein verallgemeinerter Antisemitismus, der Antisemitismus also ein Vorreiter des heute gängigen »kulturalistischen Rassismus«. Mit diesem inhaltsleeren Verständnis von Rassismus und Antisemitismus ist der verhängnisvolle Schritt zum Glauben nicht weit, der neue Antisemitismus heiße »Islamophobie.«

»Islamophobie« ist kein analytischer, sondern ein Kampfbegriff, der jede Kritik an islamistischen Zuständen diskreditiert und dabei die notwendige Religionskritik gleich mit entsorgt. Gesellschaftlich relevant wurde der Begriff nach der iranischen Revolution 1979, als die Mullahs damit primär Frauen denunzierten, die sich nicht dem islamischen Recht, etwa der Zwangsverschleierung, unterordnen wollten. Aber dieser Bannstrahl traf auch alle, die »Ehebruch« begingen oder sich »blasphemisch« äußerten.

Heutzutage verschanzen sich häufig all jene hinter dem Islamophobie-Vorwurf, die ein Kritikverbot bezüglich der Religion oder religiöser Praxen aufstellen wollen. Wir halten es - gerade im Hinblick auf Djihadismus und islamistischen Gottesstaat - mit Karl Marx: »Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen sei.« Wo dieser Anspruch als westlicher Rassismus gebrandmarkt wird, haben sich Linke aufgegeben.

 

iz3w: Frau Rommelspacher, Herr Küpeli: Ist für Sie Islamkritik auch als nichtrassistische Religionskritik vorstellbar? Und ist letztere nicht sogar dringend notwendig? Darauf drängen doch gerade auch viele Frauen und Männer, die als Betroffene anzusehen sind. Dennoch werden sie von den KritikerInnen des antimuslimischen Rassismus oft geschmäht, wie es etwa Ayaan Hirsi Ali, Seyran Ates und anderen IslamkritikerInnen geschieht.

IK: »Islamkritik« als nichtrassistische Religionskritik mag denkbar sein. Eine solche Kritik spielt in der gegenwärtigen Debatte allerdings keine erwähnenswerte Rolle. Ebenso bietet eine Kritik an »dem« Islam wenig Anknüpfungspunkte für eine emanzipatorische Praxis. Sinnvoller wäre eine Kritik an konkreten Lehren und Praxen im »real existierenden« Islam. Für eine konkrete Kritik etwa am Frauenbild oder dem Umgang mit AtheistInnen sind auch muslimische BündnispartnerInnen zu finden, da diese Aspekte unter Muslimen keineswegs unumstritten sind. Eine solche Kritik wäre aber etwas grundsätzlich anderes als das, was in Deutschland unter »Islamkritik« verstanden wird. In dieser Debatte müssen emanzipatorische Kräfte sich bewusst machen, dass ihre Argumente leicht dafür instrumentalisiert werden können, Religionsgemeinschaften aus Minderheiten Rechte vorzuenthalten.

Die erwähnten Islamkritikerinnen und viele andere, wie etwa Necla Kelek oder Mina Ahadi, sollten als politisch Handelnde ernst genommen werden, unabhängig von Lebensgeschichten. Wenn sie den Islam mit Faschismus gleichsetzen (Ahadi) oder den Muslimen in Europa eine »geheime Agenda« zur Durchsetzung der Scharia unterstellen (Kelek, Hirsi Ali), dann gibt es keine Basis für eine gemeinsame emanzipatorische Praxis. Eine solche »Kritik« dient nur dazu, die weitere Ausgrenzung der Muslime zu legitimieren. Und spätestens wenn »IslamkritikerInnen« mit rechten Akteuren kooperieren, wie etwa mit Geert Wilders (Hirsi Ali), Udo Ulfkotte (Ahadi) und Thilo Sarrazin (Kelek), dann gibt es allen Anlass, sich deutlich abzusetzen.

Zugegeben: Bisher gibt es nur wenige Ansätze einer emanzipatorischen Position, die gegen den antimuslimischen Rassismus agiert und gleichzeitig eine überzeugende Kritik der religiösen Legitimierung menschenfeindlicher Praxen liefert.

BR: In Bezug auf die genannten »Islamkritikerinnen« ist zu ergänzen, dass sie in ihrer pauschalisierenden Abwertung »des« Islam kaum als Expertinnen betrachtet werden können. Vielmehr vermischen sie soziale Fragen mit Migrationsproblemen und kulturellen, religiösen Aspekten. Ihre Expertise gründen sie vor allem darauf, dass sie selbst Muslima sind. Damit eignen sie sich vor allem als Alibi für die Mehrheitsgesellschaft, die von ihnen die Erlaubnis bekommen möchte, nun auch »den« Islam pauschal verurteilen zu dürfen, denn schließlich können sie nun auf Kronzeuginnen verweisen.

Heißt das nun, dass man »den« Islam gar nicht kritisieren dürfe? Diese Frage ist ebenso gewollt naiv, wie die, ob man Israel nicht kritisieren darf. Natürlich kann man den Islam kritisieren, vorausgesetzt man hat die entsprechende Kenntnisse und ist auch in der Lage, über Kontext und Folgen der Kritik und seine eigenen Intentionen zu reflektieren. Es gibt unendlich viel Kritik an den herrschenden Deutungen des Islam, und das seit Jahrhunderten. Wenn wir etwa die Frauenfrage betrachten, dann kennen wir spätestens seit Beginn der modernen Frauenbewegung Anfang des letzten Jahrhunderts beispielsweise in Ägypten intensive Auseinandersetzungen der Frauen mit patriarchalen muslimischen Deutungen. Ebenso setzen täglich hunderte IranerInnen ihr Leben aufs Spiel, um die herrschenden Islaminterpretationen der Machthaber zu kritisieren. Das Interessante ist, dass diese inhaltlichen Auseinandersetzungen die meisten hier gar nicht so genau interessieren. So auch nicht unsere Mitdiskutanten, Lothar Galow-Bergmann und Markus Mersault, die anscheinend wissen, dass das islamische Kopftuch ein »abstoßendes patriarchales Herrschaftsinstrument« sei. Woher wissen sie das?

Auch verstehe ich ihren Begriff von Rassismus nicht, der die Machtdimension ganz außen vor lässt - gerade wenn sie sich auf Hall und Balibar beziehen. Natürlich sind die Bilder und Funktionen der verschiedenen Rassismen unterschiedliche, so auch die zwischen Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus. Aber so verschieden sie auch sind, sie sind jeweils Legimitationslegenden zur Herrschaftsabsicherung. Und das unterscheidet sie grundsätzlich vom Ressentiment, das auf einer sozialpsychologischen Ebene verbleibt und zwischen allen sozial konstruierten Kollektiven virulent sein kann - um ein klassisches Beispiel zu nennen, auch zwischen Preußen und Bayern. 

 

iz3w: In der Tat begeben sich einige migrantische IslamkritikerInnen in zweifelhafte Gesellschaft. In vielen Fällen war dies aber eine Reaktion darauf, dass sie von Seiten der antirassistischen Linken nicht ernst genommen wurden oder sie aktiv in die rechte Ecke gedrängt wurden. Dies gilt insbesondere für Hirsi Ali. Wieso tut sich die Linke mit einer aufgeklärten, nichtrassistischen Islamkritik so schwer und überlässt das Feld weitgehend den Rechten?

IK: Die Ignoranz der deutschen Linken ist doch kein Freifahrtschein dafür, Munition für den antimuslimischen Rassismus zu liefern oder mit rechten Akteuren zusammenzuarbeiten. In vielen muslimischen Ländern gibt es nichtrassistische Islamkritik, so etwa in der Türkei. In Deutschland überlappt aber die »Islamdebatte« mit dem sozial ungleichen Verhältnis zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und der muslimischen Minderheit. Und in einer solchen Konstellation ist eine emanzipatorische »Islamkritik« ohne ein Eintreten für die Überwindung von sozialer Ungleichheit (oder zumindest für die rechtliche Gleichstellung) nicht denkbar. Aber hier fallen Hirsi Ali und Kelek selbst hinter die Mindestnormen des bürgerlichen Liberalismus zurück: Wenn Religionsgemeinschaften bestimmte Rechte haben, dann müssen die Rechte allen Gruppen zustehen, und nicht nur den Religionsgemeinschaften der Mehrheitsgesellschaft. Oder man tritt für eine Reduzierung der Religion auf eine reine Privatsache ein. Das finde ich persönlich sinnvoll - dann aber bitte konsequent und gleichberechtigt für alle.

LGB/MM: Ismail Küpeli hat recht, wenn er die Gleichbehandlung der Religionen fordert, möglichst als Privatschrulle. So ist etwa die bürgerliche Errungenschaft der Religionsfreiheit gegen das Schweizer Minarettverbot zu verteidigen. Doch deswegen darf Religiosität nicht jenseits von Kritik stehen; vielmehr gilt es sowohl für Religionsfreiheit als auch für Freiheit von Religion einzutreten.

Die Empathie mit Muslimen verlangt förmlich, nicht zu schweigen. KritikerInnen »unabhängig von Lebensgeschichten« zu bewerten, wird den Menschen nicht immer gerecht. Natürlich ist etwa Hirsi Alis Anbiederung an neokonservative oder xenophobe Strömungen nicht akzeptabel, aber wie unerträglich muss dieser Frau eine Linke sein, die sich nicht für Individuen, sondern nur für Kulturen, Antiimperialismus und »Kritik« an Israel und Amerika interessiert? Trägt eine solche Linke keine Verantwortung dafür, dass sich Hirsi Ali nicht zu ihr zählt? Warum kann, wer jedenfalls in Teilen berechtigte Kritik vorträgt, nicht in seiner Ambivalenz wahrgenommen werden? Um den islamistischen Tugendterror wahrzunehmen, darunter auch den Kopftuchzwang, gegen den sich insbesondere sehr viele Frauen im Gottesstaat wehren, muss man nicht erst einen Berechtigungsschein bei einer bestimmten Sorte von IslamwissenschaftlerInnen erworben haben. Es genügt ein Gespräch mit den iranischen Frauen, die im letzten Sommer auch in vielen deutschen Städten gegen das Regime protestiert haben. Und die sehr frustriert waren, weil sie dort kaum (ur)deutsche Linke angetroffen haben.

BR: Zur Frage nach emanzipatorischer Kritik am »Islam«: Kritik ja, aber woran? Geht es wirklich um »den« Islam? Vielfach werden in der innerdeutschen Debatte soziale Faktoren, Migrationsprobleme und kulturelle Faktoren durcheinander geworfen, wenn es etwa um das Thema Jugendgewalt geht. Insofern ist diese Kritik ein Medium der Kulturalisierung. Sie macht die Probleme dieser Jugendlichen nahezu ausschließlich am Islam fest. Wenn demgegenüber die Gewalttaten mehrheitsdeutscher Jugendlicher analysiert werden, dann bemüht man sich, ökonomische, soziale und psychologische Ursachen zu finden.

Wozu dient also die Kritik? Ist es Sorge um den Bestand der Demokratie, der Menschenrechte und Frauenemanzipation? Interessant ist, dass bereits im Kolonialismus die Kolonialmächte sich für die »Befreiung« der muslimischen Frauen einsetzten. So versuchte etwa Lord Cromer, der Vertreter der englischen Kolonialmacht in Ägypten, mit aller Gewalt die Gleichberechtigung der ägyptischen Frauen mithilfe der Entschleierung durchzusetzen. In England hingegen hatte er einen Verein gegen das Wahlrecht von Frauen gegründet. Ebenso finden wir heute eine breite Front von Männern und Frauen, die von Patriarchatsanalysen noch nie etwas gehört haben und gerne auch Feministinnen diskreditieren, aber an vorderster Front stehen, wenn es um die »Emanzipation« der muslimischen Frauen geht. Das Messen mit zweierlei Maß ist insofern typisch, als mit diesen Emanzipationsforderungen die diskreditierte Gruppe zugleich in den Bereich von Vormoderne und Traditionalität verwiesen wird und man so den Begriff der Moderne für sich reserviert. Damit wird die Emanzipationsforderung zur Forderung nach Anpassung und Unterwerfung und erzielt oft genug den gegenteiligen Effekt.

LGB/MM: Zweifelsohne darf soziale Diskriminierung nicht negiert werden. Jugendgewalt etwa alleine auf »den Islam« zurückzuführen, ist in der Tat Folge von Ressentiments. Völlig inakzeptabel ist es jedoch, wenn dieses Diktum zum faktischen Kritikverbot an religiös und patriarchal motivierter Unterdrückung führt. Wer »Kritik am Kopftuch« verantwortlich für Benachteiligung am Arbeitsmarkt macht, aber kein Wort über den brachialen Ausschluss vieler Frauen und Mädchen vom Arbeitsmarkt durch ihre sich religiös legitimierenden Patriarchen zuhause verliert, muss sich eben dies vorwerfen lassen. Auch bleibt die Machtdimension bei einer solchen Bewertung völlig ausgeblendet. Denn Macht hat nicht nur die Mehrheitsgesellschaft über die Minderheit, es gibt auch innerhalb der Minderheit jede Menge Machtverhältnisse, deren Negierung oder Relativierung ebenfalls auf einen faktischen Verrat an Unterdrückten und Gedemütigten hinausläuft.

Dass jemand in England gegen das Frauenwahlrecht agitierte und in Ägypten

für die Entschleierung, verweist auf Heuchelei, ist aber kein Argument gegen die Entschleierung. Und wenn es Anfang der 1920er Jahre in Ägypten bereits von Frauen organisierte öffentliche Entschleierungen gab, so ist nur bedauerlich, dass so etwas derzeit kaum mehr vorstellbar ist.

Richtig, der Standpunkt, von dem aus man Kritik betreibt, ist nicht egal. So gibt es bekanntlich auch die Kritik am Kopftuch, es sei zu liberal und müsse durch die Burka ersetzt werden. Ein humaner und emanzipatorischer Standpunkt kann sich nur auf den Marx'schen Imperativ beziehen. Und muss dann allerdings - auch insoweit täte die Erinnerung an Marx gut - »rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, dass die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebenso wenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten« sein. Mit allen vorhandenen Mächten wohlgemerkt, nicht nur mit einer.

IK: Positiv an der Debatte hier finde ich, dass zwar die Gegensätze sehr deutlich, aber auch einige gemeinsame Grundsätze sichtbar wurden. Erstens wird die gegenwärtige »Islamdebatte« als ein antiemanzipatorischer Diskurs angesehen, unabhängig davon, ob man hier von Rassismus oder Ressentiments sprechen möchte. Zweitens soll die Marginalisierung und Ausgrenzung der muslimischen Minderheit durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft im Zentrum der Analyse stehen, ohne dabei die Unterdrückungsverhältnisse innerhalb muslimischer Communities zu negieren. Drittens ist eine emanzipatorische Kritik an diesen Unterdrückungsverhältnissen nur möglich, wenn sie kulturalistische Deutungen vermeidet und sich auf konkrete Lehren und Praxen bezieht. Viertens ist Emanzipation nur denkbar durch gemeinsame soziale Bewegungen quer durch die kulturell und ethnisch gesetzten Grenzen.

BR: Will Kritik emanzipatorisch sein, muss sie sich darüber bewusst sein, dass Kritik an der »Traditionalität« oder »Unzivilisiertheit« der »Anderen« ein jahrhundertelang eingeübtes und in unserer Gesellschaft tief verankertes Medium kultureller Dominanz ist. Es ist sicherlich nicht immer einfach abzuklären, ob und inwiefern eine Kritik tatsächlich hilft, Machtverhältnisse abzubauen, insbesondere da es um komplexe Situationen geht, in denen verschiedene, vor allem patriarchale, politische und ökonomische sowie kulturelle und religiöse Dominanzen zwischen und innerhalb von Mehrheits- und Minderheitengesellschaften zusammen spielen. Die in der BRD gängige Kritik an »dem« Islam hat jedenfalls bisher verheerende Wirkung gezeigt, da sie Muslime und alle, die dafür gehalten werden, mehr denn je ausgegrenzt. Und sie verhärtet und entdemokratisiert die Mehrheitsgesellschaft. Die wenigen positiven Effekte wie etwa stärkere Förderung der Sprachkompetenz von Einwandererkindern haben mit »dem« Islam nichts zu tun.

LGB/MM: In der »Islamdebatte« finden wir durchaus auch emanzipatorischen Gehalt. Autorinnen wie Ayaan Hirsi Ali oder Seyran Ates haben auf den Zusammenhang zwischen Zwang, Gewalt und Islam hingewiesen. Dieser Zusammenhang ist kein notwendiger, ein Moslem muss nicht gewalttätig sein. Aber wenn er es ist, muss er seine heiligen Schriften dafür nicht entfremden oder instrumentalisieren - sie geben die vermeintliche Rechtfertigung von Gewalt her, genauso wie dem Christen die seinen.

Natürlich kann man sich nur vordergründig für Emanzipation der Frauen oder der Homosexuellen einsetzen und in Wahrheit dabei seiner Fremdenfeindlichkeit frönen, indem man unter dem Deckmantel der Islamkritik einzig den Menschen, den Moslem, angreift. Doch aus Angst davor, dass die notwendige Islamkritik im Jargon der Halbgebildeten aufgegriffen wird von den Sarrazins dieser Welt, darf Menschenfeindliches im Islam nicht von der Kritik ausgenommen werden.

 

 

Birgit Rommelspacher ist Professorin (em.) für Psychologie mit dem Schwerpunkt Interkulturalität und Geschlechterstudien an der Alice Salomon Hochschule Berlin.

 

Lothar Galow-Bergemann und Markus Mersault sind aktiv bei der Gruppe Emanzipation und Frieden und leben in Stuttgart (www.emanzipationundfrieden.de).

 

Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler und Aktivist (Bundeskongress Internationalismus, Informationsstelle Militarisierung).

 

Die Debatte wurde per Email geführt und von Christian Stock (iz3w) moderiert. Die ungekürzte Fassung steht auf www.iz3w.org