Nun also - verkündet am 14. März - ein dreimonatiges Moratorium für
die Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke und -
nachgeschoben am 15. März - ein (mit einer Ausnahme) vorläufiges
Abschalten von Alt-Reaktoren. Umdenken in Sachen Kernenergie - solches
hat die Berliner Zeitung der Bundeskanzlerin dieser Tage auf
einer Titelseite attestiert - sähe anders aus. Das Zustandekommen des
Moratoriums und die verschwiemelte politische Rhetorik drumherum weisen
es eher als in die Rubrik „tagespolitisches Taktieren mit Schielen auf
die nächsten Wahltermine" gehörig aus.
Die aktuelle Tragödie Japans ist erst einige Tage alt. Die direkten
Schäden des fernöstlichen Zusammenspiels von Erdbeben, Tsunami und
kollabierenden Kernreaktoren sind bisher nur in - schrecklichen -
Ansätzen deutlich geworden, die mittel- und langfristigen Folgen des
Desasters für Japan und seine Menschen, für die Umwelt und für die
Globalwirtschaft lassen sich noch nicht ermessen. Aber der damit
verbundene kollaterale politische Skandal in Deutschland, der lässt sich
bereits nach dieser kurzen Zeitspanne klar benennen: Er besteht darin,
dass sich die Kanzlerin und ihre Entourage, von den Energiekonzernen und
ihrer Lobby wollen wir gar nicht reden, offensichtlich einmal mehr
weigern (oder, wenn auf mildernde Umstände plädiert werden soll, sich
schlicht als unfähig erweisen), die verallgemeinbare Lektion der
Katastrophe handlungsleitend zur Kenntnis zu nehmen. Mehr noch: Die
schwarz-gelbe Koalition nutzt die ihr zur Verfügung stehenden Hebel, um
diese Lektion keinesfalls ins öffentliche Bewusstsein dringen zu lassen.
Daher die politischen Nebelkerzen um das Moratorium und um die Frage,
wie weiter, sowie der kleinteilige, vielfach bloß verbale Aktionismus im
schwarz-gelben Lager.
Wer will, kann aufatmen: Gott sei Dank gibt es in Mitteleuropa (fast)
keine Erdbeben und keine Tsunamis und schon gar nicht gleichzeitig.
Hiesige Kernkraftwerke sind also sicher - vor schweren Erdbeben und
Tsunamis! Aber die japanische Katastrophe lehrt ja ganz etwas anderes:
Es können Ereignisse eintreten, die schon für sich genommen die
Sicherheitssysteme von AKWs bis in Grenzbereiche hinein oder darüber
hinaus fordern. Und mögen solche Ereignisse - ebenfalls für sich
genommen - durchaus selten sein, so ist eben doch nicht auszuschließen,
dass sie gleichzeitig auftreten können und in dieser Kombination dann
noch zusätzliche Effekte mit sich bringen, die die Dimension der
Katastrophe potenzieren. Genau das ist in Japan passiert. Und
Vergleichbares kann überall geschehen, wo Kernkraftwerke betrieben
werden, denn die Gefährdungsfaktoren sind viel näher liegend als
Erdbeben und Springfluten mit nachfolgendem Energieausfall oder andere
Exoten (Flugzeugabsturz, Terrorismus). Simples technisches und
menschliches Versagen reicht aus. Das haben Harrisburg und Tschernobyl
bereits vor Jahrzehnten vor Augen geführt. Auch vor die Augen seinerzeit
maßgeblicher Politiker und Manager, die hernach im Zusammenspiel mit
willfährigen Wissenschaftlern und Medien alles taten, dass diese
Lektionen zu keinem grundlegenden Kurswechsel führten.
Muss angesichts der japanischen Katastrophe daher nicht ab sofort jeder
Betreiber von Atomkraftwerken, ja überhaupt jeder Politiker, Lobbyist,
Wissenschaftler, Medienvertreter, der einer weiteren Nutzung der
Kernenergie das Wort redet und der Öffentlichkeit immer noch oder schon
wieder weiß zu machen versucht, dass in puncto Sicherheit für jede
wahrscheinliche Ursache eines möglichen GAUs Vorsorge getroffen sei, mit
der Forderung konfrontiert werden nachzuweisen, dass auch für das
scheinbar Unwahrscheinliche Vorsorge getroffen worden ist? Und müsste
diese Forderung nicht zu allererst von der Bundeskanzlerin erhoben
werden, die sich per Amtseid dazu verpflichtet hat, ihre „Kraft dem
Wohle des deutschen Volkes" zu widmen?
Doch halt: Diese Fragen sind zwar mehr als berechtigt, aber zugleich
Einfallstore für Advocati Diaboli, denn sie bieten Möglichkeiten, am
Kern der Sache vorbei- oder diesen wegzuargumentieren. So geschehen nach
Harrisburg, nach Tschernobyl und nach jedem der inzwischen an die 4.000
sicherheitsrelevanten Vorfälle in deutschen Kernkraftwerken, soweit
diese überhaupt ins Wahrnehmungsfeld der Öffentlichkeit gerieten.
Also auf den Punkt gebracht: Mit Japan hat sich jede weitere Diskussion über die Sicherheit von Kernkraftwerken erledigt.
Wer diese Diskussion, ob nun als promovierte Physikerin oder als wer
auch immer, unter Machbarkeitsgesichtspunkten fortführt, der vergrößert
de facto die Wahrscheinlichkeit, dass mit Harrisburg, Tschernobyl und
nun Japan vergleichbare Katastrophen auch hierzulande eintreten könnten.
Wer volljähriger Bürger der Bundesrepublik ist und dies verstanden hat,
kann auf der Straße und an den Urnen zumindest darüber abstimmen, ob er
von derartigen Politikern fürderhin regiert werden will. Die nächste
Möglichkeit besteht am 27. März in Baden-Württemberg.
Grundsätzliches P.S.: Die marktwirtschaftliche und damit primär gewinnorientierte Organisation unserer Energieversorgung hat dazu geführt, dass sich die Gesamtgesellschaft in dieser Frage der Daseinsvorsorge in permanenter Geiselhaft privatwirtschaftlicher Interessen befindet. Gewinn geht vor Gemeinwohl. Das zeigt sich an den Strompreisen ebenso wie am langjährigen Widerstand konventioneller Stromerzeuger gegen das Aufkommen erneuerbarer Energien und nicht zuletzt am bisher erfolgreichen Festhalten an überalterten, längst amortisierten Atommeilern. Das ist kein Fehler im System, dem durch immer neues Justieren an immer denselben Stellschauben abzuhelfen wäre. Hier ist vielmehr das System der Fehler, und wenn das nicht grundlegend geändert, wenn dieser Bereich der Daseinsvorsorge nicht dem Wirkungskreis marktwirtschaftlicher Kräfte und Spielregeln entzogen wird, dann bleibt das nächste Desaster auch weiterhin nur eine Frage der Zeit. Walther Benjamin fand für solche Abläufe die treffende Zustandsbeschreibung: „Dass es ‘so weiter geht', ist die Katastrophe."