Weg frei für die Antifeminist_innen

Protest gegen die „Lebensschützer_innen“ wird kriminalisiert

In Münster werden zahlreiche Menschen strafrechtlich verfolgt, weil sie gegen eine antifeministische Gebetsprozession der „1000 Kreuze" demonstriert hatten. Die „Lebensschützer_innen" dürfen sich derweil bei ihrer frauenverachtenden Polemik auf den Schutz der Versammlungsfreiheit berufen.

Einige weiße Kreuze waren stehengeblieben am 14. März 2009 in der Aegidiikirche in Münster. Nur wenige hundert Menschen waren an diesem Tag dem Aufruf „EuroProLife" in die westfälische Provinz gefolgt, zur Gebetsprozession „1000 Kreuze für das Leben", um gegen jegliche Art von Schwangerschaftsabbruch zu demonstrieren. Empfangen worden waren die fundamentalen „Lebensschützer_innen" indes von zahlreichen Gegendemonstrant_innen, die gegen die antifeministische Rhetorik protestieren wollten. Wenige Meter nach Beginn der Prozession hatten sich gut hundert der linken Aktivist_innen der Prozession in den Weg gestellt. Sie wurden daraufhin gekesselt, zu guter Letzt wurden ihre Personalien aufgenommen.

Dieser keinesfalls unübliche Vorgang bei linken Gegendemonstrationen bekam einige Monate später eine besondere Note: Die Gegendemonstrant_innen erreichte Post von der Staatsanwaltschaft - ihnen wurde vorgeworfen, an jenem Tag im März 2009 den Straftatbestand der Versammlungssprengung nach § 21 Versammlungsgesetz (VersG) erfüllt zu haben, indem sie sich den „Lebensschützer_innen" in den Wege gestellt hatten. Unter den Betroffenen befanden sich auch 44 Personen unter 21 Jahren, 16 der Aktivist_innen waren jünger als 18 Jahre. Von den insgesamt 106 Menschen, deren Personalien nach der Gegendemonstration festgestellt worden waren, hatten bislang 51 einen Gerichtstermin. Fünf der Angeklagten wurden bereits zu einer Geldstrafe verurteilt, wobei in vier dieser Verfahren noch die Berufung bzw. Revision ansteht. Die Verfahren gegen die Jugendlichen und Heranwachsenden unter den Beschuldigten wurden größtenteils, zum Teil gegen Sozialauflagen, eingestellt. Weitere Prozesse stehen noch bevor. Als wesentliches Beweismittel wird in den Verfahren ein Polizeivideo herangezogen.

Neuauflage der Sitzblockaden-Debatte

Den Tatbestand der Versammlungssprengung hat nach § 21 VersG verwirklicht, „wer in der Absicht, nichtverbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht."

Zunächst können Personen diese Straftat nur begehen, wenn ihr Handeln nicht selbst vom höherrangigen Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz (GG) geschützt ist. Unzweifelhaft sind auch Gegendemonstrationen von der Versammlungsfreiheit geschützt;1 dies gilt freilich auch, wie in jedem anderen Fall, wenn die Versammlung spontan, also ohne Anmeldung durchgeführt wird.2 Der Schutz der Versammlungsfreiheit endet erst, wenn die Polizei die Versammlung aufgelöst hat.3 Diese Auflösung muss auch rechtmäßig gewesen sein,4 erst recht, soweit es um die strafrechtliche Beurteilung ex post geht. Bereits daran muss eine strafrechtliche Verfolgung in derartigen Fällen regelmäßig scheitern, denn üblicherweise kann eine Gegendemonstration jedenfalls mit nur einigen hundert Teilnehmer_innen - um dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu genügen - auch schlicht an einen anderen Ort verlegt werden. Auch in Münster wäre eine Verlagerung bereits auf den Gehweg der breiten Straße möglich gewesen.

Anderenfalls muss nachgewiesen werden, dass die - vermeintlichen - Blockierer_innen Gewalttätigkeiten vorgenommen oder eine grobe Störung verursacht haben. Selbst eine tatsächliche Blockade, welche friedlich und rein passiv ist, kann keine Gewalttätigkeit darstellen, denn die Versammlungsfreiheit schützt nicht zuletzt die physische Präsenz und das Bestreben der Teilnehmer_innen, den Versammlungsort auch physisch in Beschlag zu nehmen.5 Bekanntlich sind daher auch Sitzblockaden von Art. 8 Abs. 1 GG umfasst und an sich auch nicht als Nötigungsgewalt i.S.d. § 240 Strafgesetzbuches einzustufen.6 Insoweit kann für den Gewaltbegriff des § 21 VersG nichts anderes gelten.

Diese Vorgaben können nicht durch den Rückgriff auf die Tathandlung der „groben Störung" umgangen werden. Um die Gleichwertigkeit der beiden Tatvarianten sicherzustellen, setzt eine solche Handlung auch voraus, dass sie von der Intensität und Gefährlichkeit her der ersten Variante, also der Androhung bzw. der Begehung von Gewalttätigkeiten, entsprechen muss.7 Wenn eine friedliche Blockade keine Gewalttätigkeit darstellt, weil sie nicht schwerwiegend genug ist, kann sie auch nicht als „grobe Störung" bezeichnet werden. Allein darauf abzustellen, ob die andere Versammlung aufgrund der „groben Störung" nicht mehr durchzuführen war, kann daher nicht ausreichen.8 Dass es Störungen von Versammlungen unterhalb der Schwelle des § 21 VersG geben kann, bestätigt zudem § 29 Abs. 1 Nr. 4 VersG, der diese Fälle als Ordnungswidrigkeiten sanktioniert.

Versuchslabor Münster

In Fall der Münsteraner Gegendemonstrant_innen kommt hinzu, dass es sich tatsächlich niemals um eine wirkliche effektive Blockade gehandelt hat. Denn zu keinem Zeitpunkt war es für die „Abtreibungsgegner_innen" unmöglich, ihre Route jedenfalls mit Hilfe der Polizei fortzusetzen. Selbst wenn man von einer „groben Störung" ausgeht, war diese hier offensichtlich nicht erfolgversprechend. Insofern käme nur eine Versuchsstrafbarkeit in Frage, die aber für den Tatbestand der Versammlungssprengung nicht existiert.

Das Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden gegen die Münsteraner Gegendemonstrant_innen ist nicht nur juristisch höchst fragwürdig. Es ist auch so gut wie einzigartig. Denn bislang werden friedliche Blockaden - auch und vor allem aus Anlass von Nazidemos - regelmäßig entweder gar nicht verfolgt oder allenfalls als Ordnungswidrigkeiten sanktioniert. Bis dato ist eine strafrechtliche Verurteilung auf Grundlage des § 21 VersG nur in einem Fall aus Bayern aus dem Jahre 1995 bekannt9 - dabei existiert der Straftatbestand seit fast 60 Jahren. Derweil hat die Dresdner Staatsanwaltschaft im Vorfeld der Nazidemo im Februar dieses Jahres bereits einen ungleich kruderen Versuch unternommen, jegliche Blockaden zu kriminalisieren: Sie forderte den Provider von „www.dresden-nazifrei.de" auf, die Seite vom Netz zu nehmen und beschlagnahmte Tausende Plakate, jeweils mit dem pauschalen Vorwurf, der Aufruf zu einer gemeinsamen Blockade sei ein Aufruf zu einer Straftat.10

Ob insoweit Absprachen zwischen verschiedenen Staatsanwaltschaften stattfinden, mit dem Zweck einer gemeinsamen, und zwar härteren Gangart gegen Demo-Blockaden, mag bis dato als reine Spekulation dahingestellt bleiben. Jedenfalls aber scheint es den westfälischen Strafverfolgungsbehörden darum zu gehen, linken Protest zu kriminalisieren, indem der sonst so ungebräuchliche Straftatbestand der Versammlungssprengung aufgetischt wird. Die Proteste gegen die „Abtreibungsgegner_innen", zudem im katholisch geprägten Münster, scheinen dafür eine passende Gelegenheit. Offensichtlich lassen sich ein paar Menschen, die gegen Antifeminismus auf die Straße gehen, weitaus einfacher und fernab der breiten Öffentlichkeit verfolgen als etwa ein ehemaliger Bundestagspräsident namens Wolfgang Thierse, der sich am 1. Mai dieses Jahres an einer Sitzblockade gegen eine Nazi-Demo beteiligt hatte.11

Der Schuss der beteiligten Staatsanwaltschaften könnte freilich auch nach hinten losgehen. Sollten am Ende größtenteils Freisprüche stehen, würde der § 21 VersG in der Schublade verschwinden, und die Strafverfolgungsbehörden müssten sich wieder andere Möglichkeiten einfallen lassen, um Repression gegen linke Bewegungen zu betreiben. Erreicht haben sie aber in den Münsteraner Verfahren auch schon jetzt wenigstens etwas: Aus Angst vor weiterer Verfolgung haben sich einige der Strafverfolgten zur diesjährigen Prozession der „1000 Kreuze" im März in Münster nicht mehr getraut.

Antifeminismus für rechtmäßig erklärt

Demgegenüber können sich die sogenannten „Lebensschützer_innen" auf den deutschen Rechtsstaat verlassen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat Ende Juni in einem wegweisenden Urteil den Protest der „Abtreibungsgegner_innen" vor Kliniken für zulässig erklärt.12 Der bekannte „Lebensschützer" Günter Annen hatte vor der Praxis eines Münchener Frauenarztes Flugblätter gegen „Kindermord" und „rechtswidrige Abtreibungen" verteilt. Dies war ihm vom Landgericht München zunächst untersagt worden. Das BVerfG hat das Verbot nun unter Verweis auf die Meinungsfreiheit aufgehoben. Nicht mehr auf die Meinungsfreiheit berufen könne man sich nur dann, wenn die Frauen einem „Spießrutenlauf" ausgesetzt seien.13 Unklar bleibt, wann diese Schwelle überschritten ist, denn allein die Tatsache, dass die „Lebensschützer_innen" allen betroffenen Frauen das Selbstbestimmungsrecht gänzlich absprechen, ist schon beleidigend genug.

Der deutsche Rechtsstaat schützt somit nicht eine beliebige Meinung, sondern stellt sich vor eine Bewegung, die durch einen radikalen Antifeminismus gekennzeichnet ist. Die Selbstbestimmung von Schwangeren oder solchen, die dies gerade nicht sein oder werden wollen, existiert in dieser Weltanschauung nicht. Die Würde und Autonomie von Frauen fand im Urteil des höchsten deutschen Gerichtes keine Erwähnung.


Matthias Lehnert promoviert in Münster.


Weiterführende Literatur:

http://gegen1000kreuze.blogsport.de/.

 

 

1 Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 26.10.2004, 1 BvR 1726/01, Rn. 13.

2 Hans D. Jarass, in: Hans. D. Jarass / Bodo Pieroth, Grundgesetz, 10. Auflage, 2009 Art. 8, Rn. 4, 22.

3 Alfred Dietel / Kurt Gintzel / Michael Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, 15. Aufl. 2008, § 15 Rn. 68.

4 Bundesverfassungsgericht (Fn. 1), Rn. 20 ff.

5 Bundesverfassungsgericht, Beschluss v. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90, 2173/93, 433/96, Rn. 56.

6 Bundesverfassungsgericht, Urteil v. 11.11.1986 - 1 BvR 713/83; Urteil v. 10.01.1995 - 1 BvR 718/89.

7 Helmut Ridder / Michael Breitbach / Ulli Rühl, Versammlungsrecht, 1992, § 21, Rn. 16; Sighard Ott / Hartmut Wächtler / Hubert Heinhold, Gesetz über Versammlungen und Aufzüge, 7. Aufl., 2010, § 21, Rn. 3.

8 So aber: Ott / Wächtler / Heinhold (Fn. 7), § 21, Rn. 3.

9 Bayrisches Oberlandesgericht, Urteil v. 16.10.1995, Az. 4 StRR 186/95.

10 http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/buendnis-gegen-nazis-blockiert/ (Stand aller Links: 21.08.2010).

11 http://www.tagesspiegel.de/berlin/erstermai/staatsanwaltschaft-prueft-anfangsverdacht-gegen-thierse/1813102.html.

12 Bundesverfassungsgericht, Beschluss v. 08.06.2010, 1 BvR 1745/06.

13 Ebenda, Rn. 23.