Genua war ein Anfang

Der G8-Gipfel 2011 war für Bewegung und Polizei wegbereitend

Zweifellos waren die Proteste gegen den G8-Gipfel in Genua ein herausragendes Ereignis für die globalisierungskritischen Bewegungen.Nachdem der WTO-Gipfel 1999 in Seattle aufgrund von Blockaden, politisch gezielter Sachbeschädigung und dem erstmaligen internationalen Auftritt von Indymedia abgebrochen werden musste, war eine kühne Entschlossenheit auf Europa übergesprungen. Die Revolte in Genua jedoch als Höhepunkt der Globalisierungskritik zu analysieren, nach dem es nur bergab gehen konnte, ist verkürzt.

Bereits der Blick auf die vermeintlich hohe Zahl von internationalen DemonstrantInnen, für die Genua ein Alleinstellungsmerkmal zugeschrieben wird, trügt. Die Zahl der 300.000 DemonstrantInnen war vergleichsweise gering – Gewerkschaftproteste in Italien erreichen öfter die Millionengrenze. Im Gedächtnis bleibt eher die in Genua sichtbare Bereitschaft zur Militanz. So betrachtet war der »Summer of Resistance« nicht Höhepunkt, sondern zumindest für Europa eher Beginn einer immer wieder grenzüberschreitenden Protestbewegung.

Einzigartig war Genua auch bezüglich der Repression, die vor keinem Spektrum Halt machte und in den tödlichen Schüssen auf Carlo Giuliani nur einen Höhepunkt fand. Zwar wurde schon 1994 in Sevilla und im Juni 2001 in Göteborg auf DemonstrantInnen scharf geschossen. Die Brutalität der italienischen Carabinieri, Polizia di Stato und Guardia di Finanza war jedoch für Viele überraschend. Der Polizeisoldat Mario Placanica, der Giuliani erschoss, wurde wegen »Recht auf Notwehr« freigesprochen. Viele andere Verfahren gegen DemonstrantInnen und Polizisten sind noch anhängig, womit Genua auch bezüglich der Dauer von Strafverfolgung beispiellos ist. Vor Gericht versucht die Staatsanwaltschaft wiederholt, eine grenzüberschreitende Verschwörung der AktivistInnen nachzuweisen.

»Das ist kein Urteil, das ist ein Racheakt«, kommentierte Carlos Mutter Haidi Giuliani vor zwei Jahren das zweitinstanzliche Urteil gegen 25 DemonstrantInnen. Während 15 der Angeklagten immerhin ein »Recht auf Notwehr« gegen den illegalen Polizeiangriff oder eine Verjährung zugesprochen wurde, sind die harten Urteile bei anderen noch erhöht worden: Wegen »Verwüstung und Plünderung« wurden die Beschuldigten zu Haftstrafen bis zu 15 Jahren verurteilt.

Ein anderes juristisches Druckmittel gegen italienische AktivistInnen ist das »Cosenza-Verfahren«. 13 Beschuldigte wurden nach Anti-Terror-Paragraphen angeklagt. Um die »wirtschaftliche Ordnung des Staates gewaltsam umzustürzen«, sollen sie eine »politische Verschwörung« mit 20.000 Mitgliedern organisiert haben – gemeint sind die AktivistInnen der damaligen Disobbedienti. 250.000 Mails von Betroffenen wurden ausgewertet, 60.000 fanden Eingang in das Verfahren. Nach einem Freispruch 2008 hatte die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt, ein endgültiges Urteil steht aus.

Aber auch die Urteile gegen Angehörige italienischer Behörden wurden in zweiter Instanz nach oben korrigiert. Fast alle 27 angeklagten Polizisten im »Diaz-Verfahren« wurden vom Berufungsgericht in Genua zu Haftstrafen von drei bis fünf Jahren verurteilt. Dem Verfahren lag die nächtliche Stürmung der Diaz-Schule zugrunde, wo AktivistInnen genächtigt hatten. Zwei Drittel der Misshandelten mussten im Krankenhaus behandelt werden, ein Aktivist wurde fast totgeprügelt. Führende Polizeikräfte hatten gefälschte Beweismittel präsentiert, darunter Molotow-Cocktails. Gegen den Polizeichef Gianni De Gennaro wurde wegen Anstiftung zu Falschaussagen ein Jahr und vier Monate Haft verhängt. Dass er die Strafe antreten muss, ist unwahrscheinlich: De Gennaro ist jetzt Koordinator aller italienischen Geheimdienste.

In einem anderen großen Verfahrenskomplex sind 44 Polizisten, Vollzugsbeamte und Ärzte wegen Autoritätsmissbrauch, Nötigung und Misshandlung verurteilt worden. Hintergrund war das brutale Vorgehen gegen rund 300 DemonstrantInnen in der Polizeikaserne Bolzaneto. Die meisten erstinstanzlich Verurteilten waren aus »Mangel an Beweisen« freigesprochen worden. Unter ihnen ist auch der durch seine Brutalität aufgefallene Gefängnisarzt Giacomo Toccafondi, der Verletzten die Behandlung verweigerte und sich an Misshandlungen beteiligte.

Die strafprozessuale Aufarbeitung von Genua hält an: Die großen Verfahrenskomplexe gegen Polizei und AktivistInnen werden allesamt in der dritten Instanz vor dem Kassationsgericht verhandelt.

Tonangebend war Genua auch bei der grenzüberschreitenden Vernetzung europäischer Polizeien. Eilig wurden Forschungsprogramme und Arbeitsgruppen einberufen, die Konzepte zur »Sicherheit bei polizeilichen Großlagen« entwickeln sollten. Vor allem die deutsche Polizei reist seit Anfang des Jahrtausends mit Wasserwerfern und Hundertschaften zu Gipfelprotesten in die Schweiz oder nach Frankreich. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, ihre Datensammlungen über GipfeldemonstrantInnen EU-weit anzusiedeln. Damit würde die bis jetzt nur mit deutschen AktivistInnen gefütterte Datei »International agierende gewaltbereite Störer« (IgaSt) anderen Mitgliedsstaaten zugänglich gemacht und um Einträge dieser Länder angereichert.

Immer mehr Details des internationalen Austauschs polizeilicher Spitzel dokumentieren, wer mit IgaSt adressiert wird. Der Präsident des Bundeskriminalamts erklärte über den Spitzeltausch britischer und deutscher Polizisten, sie würden sich unter anderem gegen AktivistInnen aus Griechenland, Spanien, Großbritannien, Frankreich, Dänemark und Deutschland richten. Am Werk seien dort »Euro-Anarchisten, militante Linksextremisten und -terroristen«, die einen regelrechten »Tourismus« betrieben. Ein neues Vorhaben der EU will jetzt erforschen, wie AktivistInnen bei Großdemonstrationen auf die neuen polizeilichen Strategien reagieren. Das von der schwedischen Polizei geführte Programm vereint Polizeien und ihre Hochschulen aus elf Ländern.

Die Mobilisierungen zu Gipfeln von NATO oder G8 spielen derzeit eine geringe Rolle. Eher zeichnet sich ein »neuer Internationalismus« im Bereich von Migration ab, der in Camps oder zuletzt bei der Karawane Bamako-Dakar auf Augenhöhe mit MigrantInnen agiert. Aus der Versenkung auftauchen könnte bald ein altbekannter Adressat: Nach den Protesten gegen die Gipfel in Göteborg 2001 und Thessaloniki 2003 wurden die EU-Treffen nicht mehr pompös inszeniert. In der EU wird jetzt diskutiert, die Gipfel wieder größer zu gestalten. Eine gute Gelegenheit für die Bewegungen in den jeweiligen Ländern, ihr zerrüttetes Verhältnis zum Staatsprojekt Europa auf die Straße zu tragen.

 

Matthias Monroy ist Journalist und Aktivist bei gipfelsoli.org. Eine Langfassung dieses Textes steht auf www.iz3w.org