Streiken erlaubt, aber...

Über gewerkschaftliche Kämpfe um Mindestlöhne in Kambodscha

in (04.05.2011)

In Kambodscha streikten zwischen dem 13. und 17. September 2010 Tausende Beschäftigte der Bekleidungsindustrie. Der Streik war der größte, den das Land bisher jemals erlebt hat. Auf seinem Höhepunkt waren es laut Schätzung der Gewerkschaften 200000 Beschäftigte aus 90 Fabriken, d.h. mehr als die Hälfte (!) aller FabrikarbeiterInnen der kambodschanischen Bekleidungsindustrie, die an Streikaktionen beteiligt waren. Der Streik stieß also auf eine ungeheure Resonanz auch bei denjenigen, die nicht den beiden Gewerkschaftsverbänden C.CADWU und NIFTUC angehörten, die dazu aufgerufen hatten.

Um es vorwegzunehmen: Der Streik hat einen Teilerfolg erbracht, aber auch heftige Abwehrreaktionen der Gegenseite hervorgerufen, unter denen viele Beschäftigte und AktivistInnen bis heute zu leiden haben. Ein Grund für den folgenden Bericht und ein exemplarisches Beispiel dafür, warum es für ein Land nicht ausreichen kann, ein gutes Arbeitsrecht zu verfassen und brav ILO-Konventionen zu ratifizieren. Das allein nützt den Beschäftigten leider gar nichts.

 

Gewerkschaftsrechte in der »jungen Marktwirtschaft«

 

Die Bekleidungsindustrie ist nach Tourismus und Landwirtschaft die drittgrößte Branche des Landes und erwirtschaftet 90 Prozent der Exporterlöse. 70 Prozent der Bekleidungsproduktion gehen in die USA; die EU ist der zweitgrößte Abnehmer. Größte Abnehmer auf Unternehmensseite sind die »üblichen Verdächtigen«: Bekleidungsmultis wie Gap, H&M und Zara. Geschätzte 400000 Menschen sind in der Bekleidungsindustrie Kambodschas beschäftigt, davon ca. 90 Prozent Frauen; noch einmal etwa halb so viele sind indirekt von ihr abhängig.

Kambodscha hat in Bezug auf unabhängige Gewerkschaften eine dynamische Entwicklung durchgemacht. Traditionell waren Gewerkschaften stets den Parteien bzw. politischen Strömungen zugehörig und von diesen abhängig. Das sind grob unterteilt die regierende, marxistische Kambodschanische Volkspartei einerseits und die Opposition andererseits, bestehend v.a. aus einer royalistischen/nationalistischen und einer liberalen Partei.

Erst Ende der 1990er-Jahre, als im Zuge von Marktöffnung und Aufkommen der exportorientierten Industrie ein Druck auf das Land entstand, zumindest dem Anspruch nach eine Arbeitsgesetzgebung zu schaffen, die internationalen Standards entspricht, begannen sich unabhängige Gewerkschaften zu formieren. Dies geschah primär in der Bekleidungsindustrie, die sich in Bezug auf die gewerkschaftliche Organisierung von da ab rasant entwickelte. Der Organisierungsgrad liegt nach gut zehn Jahren Entwicklung in dieser Industrie heute bei geschätzten 60 Prozent! Von der Bekleidungsindustrie gehen auch Impulse zur gewerkschaftlichen Organisierung auf andere Sektoren aus (Baugewerbe, Tourismus etc.).

Im Rahmen der Implementierung der neuen Arbeitsgesetzgebung erleichterte die Regierung zunächst 1998 die Registrierungsprozedur für Gewerkschaften. Als erster unabhängiger Gewerkschaftsverband in der Bekleidungsindustrie gründete sich daraufhin die National Independent Federation Textile Union of Cambodia (NIFTUC), von der sich später die Coalition of Cambodia Apparel Workers’ Democratic Union (C.CAWDU) abspaltete, die dann als Dachverband die Cambodian Labour Federation (CLC) gründete, heute der zentrale unabhängige Gewerkschaftsverband Kambodschas.

In einem zweiten Schritt richtete die Regierung das tripartistische, mit je sieben Vertretern von Gewerkschaften, Unternehmen und Regierung besetzte Labour Advisory Council (LAC) ein, das gemeinsam arbeitsrechtliche Regelungen diskutiert und verabschiedet, u.a. auch die regelmäßige (Neu-)Festsetzung des Mindestlohns.

Die Schaffung des ebenfalls im Arbeitsrecht vorgesehenen Arbeitsgerichts steht noch aus. Bislang existiert lediglich ein tripartistisches Arbitration Council (Schlichtungsstelle) für die Verhandlung arbeitsrechtlicher Konfliktfälle.

Trotz der dynamischen Entwicklung von Gewerkschaftsrechten und Gewerkschaftslandschaft ist Kambodscha ein schwieriges Pflaster für GewerkschaftsaktivistInnen. Gewaltsame Repressionen gegen gewerkschaftliche Aktivitäten und öffentliche Kundgebungen sind immer noch an der Tagesordnung. Die Ermordung des populären Gewerkschaftsführers Chea Vichea im Januar 2004 und weitere Morde in Kambodscha sind bis heute nicht aufgeklärt. Es kann sehr gefährlich sein, sich als GewerkschaftsaktivistIn zu exponieren. Arbeitgeber schrecken vor massiven Aktionen gegen betriebliche Gewerkschaften nicht zurück. Dazu gehören Bestechen, Entlassen, Verklagen, Einschüchtern, Bedrohen, Überfallen, der Einsatz von gelben Gewerkschaften und vieles mehr. Das wird durch die aktuellen Geschehnisse auf traurige Weise bestätigt.

 

Ein menschenwürdiger Lohn

 

Die zentrale Forderung des Streiks im September 2010 war ein Lohn, von dem grundlegende Bedürfnisse wie eine ausreichende Ernährung und Unterkunft abgedeckt werden können und der ein Leben in Würde ermöglicht. Einen solchen existenzsichernden Lohn sehen die streikenden Beschäftigten und die aufrufenden Gewerkschaften bei 93 US-Dollar (knapp 70 Euro) im Monat. Diesen Betrag hat das Cambodia Institute of Development Study 2009 ermittelt. Die Arbeitgeber lehnen diesen Betrag ab.

Ausgelöst wurden die Proteste der Beschäftigten durch die Bekanntgabe des neuen Mindestlohns am 8. Juli 2010, den das LAC auf 61 US-Dollar (ca. 45 Euro) festgesetzt hatte (für regulär Beschäftigte; Beschäftigte in der Probezeit: 56 USD). Damit liegt er nicht nur mehr als ein Drittel unter dem Lohn, den die Beschäftigten für ein Leben in Würde als notwendig erachten – er soll darüber hinaus auch noch für die Dauer von vier Jahren (bis 2014) festgeschrieben werden, obwohl das kambodschanische Arbeitsrecht eine regelmäßige Anpassung an die Lebenshaltungskosten vorsieht.

In Kambodscha erhalten die meisten Beschäftigten der Bekleidungsindustrie den Mindestlohn, viele auch weniger. Bei einem solch niedrigen Mindestlohnsatz bedeutet das laut Einschätzung der C.CADWU und der NIFTUC konkretes Elend für die Betroffenen und verstößt damit gegen Artikel 104 des kambodschanischen Arbeitsrechts, in dem es heißt, dass der Lohn jeder/m Beschäftigten einen Lebensstandard ermöglichen muss, der mit der Würde des Menschen vereinbar ist. Den beiden Gewerkschaften zufolge zeigt das im Juli 2010 tripartistisch beschlossene Lohnniveau lediglich, wie stark die Gewerkschaften im LAC unter dem Einfluss von Arbeitgebern und Regierung stehen und dass ein Mechanismus, der sicherstellt, dass die dort vertretenen Gewerkschaften ihre Voten in enger und ernsthafter Abstimmung mit ihren Mitgliedern an der Basis abgeben, völlig fehlt.

 

Die Rache der Arbeitgeber

 

Als die ArbeiterInnen nach dem Streik am 18. September zu den Arbeitsplätzen zurückkehrten, sahen sie sich mit massenhaften Entlassungen konfrontiert. Gegen zahlreiche Gewerkschaftsführer wurden außerdem Anzeigen erstattet und astronomische Summen an Schadenersatz wegen Produktionsausfällen gefordert. Der Arbeitgeberverband Garment Manufacturers Association of Cambodia (GMAC) erklärt dazu, die Streiks seien, obwohl sie vorschriftsmäßig angekündigt worden waren, doch illegal gewesen, weil drei Tage vorher »neue Forderungen« aufgetaucht, die Ankündigung damit hinfällig und eine neue Ankündigung erforderlich geworden sei. Obwohl die Höhe des geforderten Lohns mit 93 USD konstant blieb, machte der Unternehmerverband geltend, es sei die ganze Zeit ein angepasster Mindestlohn gefordert worden, drei Tage vor Streikbeginn aber plötzlich von einem Existenzlohn die Rede gewesen. Diese Wortklauberei sollte nun die Basis für Anzeigen gegen Gewerkschaftsaktivisten wegen Anstiftung zu illegalen Streiks bilden.

Tatsächlich sind es die Arbeitgeber, die gegen das Gesetz verstoßen – gegen die Verfassung und das Arbeitsrecht Kambodschas sowie die ILO-Konventionen zur Vereinigungsfreiheit und zum Recht auf Kollektivverhandlungen –, indem sie unter fadenscheinigen Vorwänden versuchen, Gewerkschaftsaktivisten für ihre Rolle bei der Organisierung des Streiks abzustrafen und Beschäftigte einzuschüchtern.

Nichtsdestotrotz versuchten die Gewerkschaften alles, um mit der GMAC zu einem Kompromiss zu gelangen und die betroffenen ArbeiterInnen aus der Schusslinie zu nehmen. Am 28. September unterschrieben sechs große Gewerkschaftsverbände ein Memorandum of Understanding (MoU) mit der GMAC (gültig ab 1. Januar 2011), das folgende zentrale Punkte beinhaltet:

- Beide Seiten halten sich ans Gesetz.

- Betriebsgewerkschaften mit niedriger Mitgliederzahl lassen die Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern im Betrieb ihr Recht ausüben, mit dem Arbeitgeber Kollektivverhandlungen zu führen (im Klartext: keine Sabotage der Gewerkschaftsrechte durch gelbe Gewerkschaften).

- Bei arbeitsrechtlichen Konflikten oder Verstößen oder im Bezug zur aktuellen Tarifvereinbarung werden die bindenden Prozeduren des Arbitration Council genutzt.

- Für die Laufzeit der aktuellen Tarifvereinbarung gilt: keine Aussperrungen, Streiks oder weiteren Forderungen.

 

Außerdem: Die Einhaltung des MoU darf von beiden Seiten überwacht und evaluiert werden; bei Verstößen wird im gemeinsamen Dialog Abhilfe geschaffen.

 

Allerdings hat das MoU keine verpflichtende Wirkung. Arbeitgeber, die Mitglieder der GMAC sind, werden dadurch auch nicht automatisch dazu gezwungen, Entlassungen von Streikteilnehmern wieder zurückzunehmen. Aktuell warten immer noch 140 Beschäftigte auf ihre Wiedereinstellung. Das bedeutet bis jetzt über sechs Monate ohne Einkommen und große Überlebensnöte für viele Beschäftigte und ihre Familien.

 

Zugeständnisse

 

Um eine Wiedereinstellung der Entlassenen zu erreichen, hatte die Gewerkschaft C.CADWU ihre entlassenen Mitglieder daher auch zähneknirschend dazu aufgerufen, sogenannte Regret Letters, also etwa Reueerklärungen, zu unterzeichnen. Diese waren von der Arbeitgeberseite vorformuliert worden und enthielten neben dem Bedauern darüber, dass das Unternehmen aufgrund des Streiks Verluste hinnehmen musste, u.a. die Versicherungen, man werde den Anweisungen des Fabrikmanagements Folge leisten, nicht »ohne vernünftigen Grund« streiken sowie nicht nur das Gesetz, sondern auch »die internen Regeln des Unternehmens« befolgen. H&M als bedeutender Einkäufer in Kambodscha hat die Unterzeichnung dieser Reueerklärungen aktiv unterstützt. Nachdem die Unterzeichnung dieser Briefe durch die betrieblichen Gewerkschaftsvertreter bei zwei Fabriken (River Rich Textile Ltd. und Winner Knitting Ltd.; beide produzieren u.a. sowohl für H&M als auch für Zara) zwar zur Wiedereinstellung aller Entlassenen geführt hat, aber die Arbeitsbedingungen sich eher verschärft haben (z.B. jetzt noch massivere Restriktionen bei Toilettengängen, Versetzungen Wiedereingestellter an weniger qualifizierte Arbeitsplätze), hat die CCADWU allerdings beschlossen, keinem weiteren Betriebsgewerkschaftsführer mehr zur Unterzeichnung dieser Briefe zu raten. Insgesamt ist es der Gewerkschaft durch Verhandlungen an zahlreichen Tischen gelungen, die Zahl der Entlassungen von anfangs ca. 1000 auf 140 zu senken.

Die kambodschanischen Behörden haben die Arbeitgeber ihrerseits dazu aufgerufen, die Anklagen fallen zu lassen, die Beschäftigten wieder einzustellen und Verhandlungen mit den Gewerkschaften aufzunehmen. Die Gerichte haben sogar in einigen Verfahren die Unternehmen bereits angewiesen, die Beschuldigten wieder einzustellen, aber sowohl die GMAC als auch einzelne Unternehmen setzen diesen Anweisungen z.T. starken Widerstand entgegen.

 

Mindestlohn nachverhandelt – jetzt menschenwürdig?

 

Im Schatten des Ringens um Wiedereinstellungen und Schadenersatzklagen ging die Lohnverhandlung im LAC in die nächste Runde. An der festgesetzten Höhe von 61 USD konnten die Gewerkschaften nicht mehr rütteln. Allerdings handelten sie noch »Extras« heraus, so einen Anwesenheitsbonus von sieben USD im Monat und einen gestaffelten Senioritätsbonus von monatlich einem USD pro Jahr Firmenzugehörigkeit.

Dieses Ergebnis entspricht dem unter der Last ewiger Verschleppungstaktik der Arbeitgeber zustande gekommenen Beschluss des LAC vom November, zunächst nur über Boni zu verhandeln und die Frage der Neufestsetzung des eigentlichen Lohns auf »später« zu verschieben. Dies ist also lange noch nicht der Existenzlohn, den die Gewerkschaften für angemessen halten, bedeutet aber immerhin eine bescheidene Verbesserung der Lebenssituation der über 400000 Beschäftigten in Kambodschas Bekleidungsindustrie.

Und die Rolle der multinationalen Abnehmer? Solidaritäts- und KonsumentInnengruppen wie die Clean Clothes Campaign, das ATNC Monitoring Network, die Asian Floor Wage Campaign hatten an die großen Abnehmer (H&M, Zara etc.) appelliert, die Forderung nach einem Mindestlohn von 93 USD zu unterstützen und die Respektierung des Streikrechts der Beschäftigten zu fordern. Darauf haben die Unternehmen wie so oft formalistisch reagiert, indem sie bestritten, das Verhalten ihrer Zulieferer beeinflussen zu können, und forderten, man solle sich an die Vorgabe des LAC halten.

Die Schlussfolgerung überlassen wir dem Asian Labour Update: »Der Bekleidungsstreik hat gezeigt, wie ein unzureichend demokratisch strukturierter tripartistischer Mechanismus niedrige Löhne legitimieren und die Stimmen von Beschäftigten zum Schweigen bringen kann in Bezug auf wichtige Entscheidungen, die ihr Leben beeinflussen. Bekleidungsmultis, die von der Perpetuierung der Niedriglöhne in kambodschanischen Fabriken profitieren, konnten wieder einmal so tun, als seien sie für die Situation der Beschäftigten nicht verantwortlich zu machen, während sie gleichzeitig ihre massiven Profite wahren.«

Zur gewerkschaftlichen Organisierung und Verfolgung ihrer Interessen in unabhängigen Gewerkschaften gibt es für die Beschäftigten keine Alternative. Nur so wird sich vielleicht auf Dauer ein Lohn, werden sich Bedingungen erstreiten lassen, die die Aussicht auf ein würdiges Leben bieten.

 

* Anne Scheidhauer ist Mitarbeiterin von tie Internationales Bildungswerk e.V.

 

Quellen:

C.CAWDU

Asian Labour Update Nr. 76, July – September 2010: Regional Roundup: Cambodia

Cambodia Institute of Development Study: Living Wage Survey for Cambodia’s Garment Industry, February 2009

LICADHO Case Study: Retaliation in disguise: The arrest of United Apparel Garment factory union leader Sous Chantha, November 2010

Nuon/Serrano: Building Unions in Cambodia, FES Singapore 2010

 

Und was macht eigentlich...

Immer noch nichts Neues gibt es leider von Sous Cantha, dem jungen Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaft bei United Apparel Garment in Phnom Penh, der sich aufgrund eines »Fundes« offensichtlich untergeschobener Drogen durch die Polizei seit November 2010 in Untersuchungshaft befindet. Ihm drohen bis zu fünf Jahre Haft.

Sous Cantha war offensichtlich einigen Leuten ein Dorn im Auge. Er war mit seiner 1000 Mitglieder zählenden Betriebsgewerkschaft im Streik vom September aktiv gewesen und gerade aus dem Gewerkschaftsverband IDUF ausgetreten, den die Beschäftigten zunehmend als unternehmensfreundlich wahrnahmen und von dem sich Cantha bei der Interessenvertretung im Betrieb ausgebremst sah. Kurz zuvor hatte der IDUF-Vorsitzende ihn noch mit Geld des Unternehmens zu bestechen versucht, um den Austritt abzuwenden.

Am 18. November 2010, dem Tag, an dem Cantha einen Beitrittsvertrag der C.CADWU unterzeichnete, wurde er auf dem Heimweg von der Arbeit von einer Polizeistreife angehalten. Diese fand im Innern seines Motorrads, das zuvor auf dem Betriebsgelände abgestellt gewesen war, mehrere Päckchen mit verbotenen Pillen.

Unter www.cleanclothes.org kann man sich an einer Briefaktion zur Freilassung von Sous Cantha beteiligen.

 

 

erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 3-4/11

express im Netz unter: www.express-afp.info, www.labournet.de/express