„die technokratische praxis überwinden“

Interview mit Nichi Vendola von Sinistra Ecologia e Libertà

prager frühling: Nichi, mit Sinistra E Libertà (SEL) habt ihr eine neue politische Formation gegründet. Was ist das Neue daran?

Nichi Vendola: Es ist notwendig, eine Kraft der gesellschaftlichen Veränderung aufzubauen, die sich auf zivilgesellschaftliche Organisierung und eine innovative Politik stützt. Die Grundlagen einer neuen Linken haben wir in unseren eigenen Namen eingeschrieben: Links, weil es ohne Gleichheit keine Gerechtigkeit gibt; Ökologie, bei der es um die Naturverhältnisse und die heranwachsenden Generationen geht; Freiheit, ohne die selbst die besten Ideen zu einem Unterdrückungsinstrument werden können. Deshalb haben wir als ersten Programmpunkt den Kampf gegen die Prekarität ausgewählt, die zugleich ein Problem der ökonomischen und sozialen Gerechtigkeit, aber auch der Freiheit ist. Denn die Prekären von heute sind die neuen Sklaven des Marktes. Außerdem stellen wir die öffentlichen Güter in den Mittelpunkt, beginnend beim Wasser als „erstes Recht der Menschheit“ bis hin zur Energieversorgung, die sauber und erneuerbar sein muss. In meiner Region – Apulien – haben wir das größte Aquädukt Europas und wir haben es der Spekulation des privaten Marktes entzogen und wieder öffentlich gemacht, während wir in nur fünf Jahren zum größten Produzenten erneuerbarer Energien in Italien geworden sind.

pf: Was ist der Grund für euren aktuellen Erfolg?

Vendola: Unser Erfolg in den Umfragen, aber auch das Auftauchen der SEL nahe stehender linker Bürgermeisterkandidaten, wie Giuliano Pisapia in Mailand oder Massimo Zedda in Cagliari, ist auf einen starken Wunsch nach Veränderung zurückzuführen. Die beiden Bürgermeisterkandidaten sind in Vorwahlen bestimmt worden. Die Vorwahlen haben verdeutlicht: Um die Rechte zu schlagen, müssen wir uns zuerst kritisch mit einer abgeschlossenen Linke, die auf ihren technokratischen Gewissheiten hockt, auseinandersetzen. Die SEL hat die demokratische Partizipation als Identitätskern. Aus dieser Forderung sind die „Fabbriche di Nichi“ entstanden, Denkfabriken, auf die ich sehr stolz bin und in denen sich tausende junge Menschen an die Politik angenähert haben. Selbst in Berlin gibt es eine Fabbrica! Ich habe versucht, eine neue Erzählung zu entwickeln, die die technokratische Praxis der Linken überwindet.

pf: Du wirst eventuell Berlusconis Gegenkandidat sein. Wie willst du ein erneutes Scheitern einer Mitte-Links-Koalition verhindern?

Vendola: Man muss mir nicht sagen, dass das möglich ist, sondern den Menschen, die den Kandidaten der Mitte-Links-Koalition in den Vorwahlen wählen. Die Vorwahlen sind eine unabdingbare Ressource und ich denke, dass ich sie gewinnen kann. Ich denke, dass ein Sieg über Berlusconi die Demokratie und ein gemeinsames Programm als Fundament haben sollte. Ich habe in den zwei Jahren der letzten Regierung beobachtet, wie sich ein Graben zwischen den Wählenden und ihrer Regierung herausgebildet hat. Für mich hat die Politik die Aufgabe die kritischen Energien am Laufen zu halten, die Antonio Gramsci als „emotionale Verbindung“ mit dem Volk bezeichnet hat. Meine Erfahrung aus der Regierung in Apulien war vom Versprechen untermauert, dass wir selbst in schwierigen Mehrheitssituationen keine Angst davor haben, auch unsere Fragilität zu zeigen.

pf: Die europäische Linke ist seit Jahrzehnten gespalten. Einige setzen auf Renationalisierung, andere wollen die Spielräume der bestehenden Verträge nutzen. Was ist deine Haltung dazu?

Vendola: Wir haben eine Gründungsphase Europas erlebt, von Altiero Spignellis Gefängniszelle bis zu den Kraftanstrengungen, um den zweiten Weltkrieg zu beenden. Dieser Traum der Integration, von der Erneuerung der europäischen Gesellschaft, ist von der langen Periode der neoliberalen Hegemonie besetzt worden, die Verträge geschaffen hat, um Geld und Märkte zu vereinen, aber nicht Völker und Menschen. Ich bin ein überzeugter Europäer. Ich glaube nicht, dass das rheinische Modell mit Deutschland und Frankreich bis zum Norden meines Landes ein erfolgreiches Modell für die Zukunft ist. Heute hat nur eine Politik Zukunft, die auf Empfang und Offenheit setzt: von der Aufnahme der Migrierenden bis zur Öffnung hin zum Mittelmeer, vom Balkan bis zum Maghreb. Es wird Zeit, dass ein Land wie die Türkei Mitglied der EU werden kann und dass Israel und Palästina gemeinsam mit den Balkanstaaten als Beobachter eingeladen werden und dass sich ein Integrationsprozess für die Länder an der Südküste des Mittelmeers eröffnet. Der euromediterrane Raum kann in der Zukunft ein Projekt des Zusammenlebens, des Friedens und der Gleichheit werden.

pf: In Deutschland gibt es weiterhin einen Konflikt zwischen alten und neuen sozialen Bewegungen. Wie ist das in Italien und wie geht ihr damit um?

Vendola: Die globale Krise hat alte Gewissheiten fragwürdig gemacht und neue Suchprozesse in den sozialen Bewegungen eröffnet. Als ein Beispiel möchte ich von der Gewerkschaft FIOM erzählen, der wichtigsten Industriegewerkschaft des Landes. Die FIOM hat gegen FIAT gekämpft. Das Unternehmen FIAT wollte Streikrechte beschränken und die Arbeitsverträge verschlechtern. In dieser Auseinandersetzung hat die italienische Linke mit der FIOM einen Kristallisationspunkt gefunden und eine große Mobilisierung bewirken können. Dabei ging es zum einen um eine klassische Klassenauseinandersetzung, um heilige gewerkschaftliche Forderungen nach dem Schutz der Arbeiterrechte. Zum anderen ist die FIOM die erste Großorganisation gewesen, die an den Mobilisierungen der sozialen Bewegungen – angefangen von den altermondialistischen in Genua 2001 bis zu den Sozialforen – teilgenommen hat. Heute gibt es eine gemeinsame Initiative der Bewegungslinken und der Studierendenbewegung, die gegen die Kürzungen der Regierung in Bildung und Universitäten neu geboren wurde und sich „Gemeinsam gegen die Krise“ nennt. Diese Initiative fordert das Grundeinkommen, aber ohne den Kampf für Vollbeschäftigung und gute Arbeit zu verleugnen.


Nichi Vendola ist Vorsitzender der neu gegründeten italienischen Linkspartei Sinistra e Libertà. Auch zu einem Zeitpunkt, wo die italienische Linke Wahlniederlagen erlitt, konnte Vendola in der Region Apulien einen großen Wahlerfolg erzielen und wurde zum Präsident der Region gewählt. Er steht für einen neuen, partizipativen Politikstil und könnte bei den nächsten Wahlen der Gegenkandidat zu Berlusconi werden. Das Interview führte Kolja Möller.