Krisen-Tsunami und kategorischer Imperativ

Editioral, "Zeit der Übergänge - aber wohin?", Das Argument 291 (2/2011)

Ein Übergang ist an der Zeit, wenn die Lage unhaltbar wird. Ist sie es erst geworden, scheint einen Moment lang alles offen. Normalerweise arbeiten die Apparate des Blocks an der Macht dann daran, in der Hauptsache den unaufschiebbaren Bruch in Kontinuität zu verwandeln, und die unvermeidbare Umwälzung wird als »passive Revolution« (Gramsci) vollzogen, als die Massen still haltende oder, wenn sie bereits in Aktion getreten sind, mit Beruhigungsmitteln wieder stillstellende Veränderung. Doch was ist, wenn Umbrüche sich gleichzeitig ereignen und an mehr als einer Krisenfront Übergänge unvermeidlich sind? Die Regierenden können nicht weitermachen wie bisher, und die Regierten nehmen es mehrheitlich nicht mehr hin. So war es in den USA, als Bush eine schwere Finanz- und Wirtschaftskrise, das Debakel zweier ungewinnbarer Kriege, eine tiefe Spaltung seines Landes und dessen internationalen Hegemonieverlust hinterlassen hatte.

Auf andere Weise lässt sich so die gegenwärtige Situation in Europa, speziell Deutschlands beschreiben. Massive Ungleichgewichte in der europäischen Arbeitsteilung infolge deutscher ›Lohnzurückhaltung‹, gepaart mit einem »langfristig von unten erkämpften Mentalitätswandel« (Habermas 2011) in – wie in den Auseinandersetzungen um das Großprojekt »Stuttgart 21« – paradigmatischen Einzelfällen der allgemeinen Frage, »welche Zukunft die deutsche und die westliche kapitalistische Industriegesellschaft insgesamt will« (Krippendorff 2010), einschließlich sozial-, bildungs- und energiepolitischer Stellungskriege, hatten den Kipp-Punkt in Reichweite gebracht. Die japanische Atomkatastrophe gab dem Weiter-so den letzten Stoß. Die panisch verkündete Kehrtwende in der Atompolitik markiert darüber hinaus den Zusammenbruch der Technikideologie als Legitimationsquelle. Die Frankfurter Allgemeine entdeckte, dass Günther Anders schon vor über 50 Jahren alles Nötige dazu gesagt hat (Heßler; Kaube). Für Das Argument, wo er dies getan hat, bedeutet dies, dass die Geschichte die Anfänge der Zeitschrift einholt.

I.

Die akute Phase der Krisenüberlagerung begann mit der 2007/2008 in den USA als Hypotheken- und dann Finanzkrise ausgebrochenen Überakkumulationskrise, die weltweit ausstrahlte. Die Neoliberalen an der Macht schienen über Nacht »alle Keynesianer« (Stiglitz 2008) geworden zu sein. Doch dieser Keynesianismus des Tages diente ihnen nur zur Reparatur der Grundlagen der neoliberalen Betriebsweise des Kapitalismus. Zumal in Deutschland erwiesen sie sich als Meister der passiven Revolution. Die drei Zauberformeln hießen Bankenrettung, Kurzarbeitergeld und Abwrackprämie. Der Bewegungsruf »Wir zahlen nicht für eure Krise« verhallte angesichts der Massenbewegung subventionierter Autokäufe. Schließlich zahlte ja der Staat. Dass er mit Schulden zahlte, um die Finanzkapitalisten zu schonen, trat in den Hintergrund. »Die Krise ist überstanden«, hieß es bald, gefolgt von »Deutschland geht gestärkt aus ihr hervor«. Der deutsche Export lief wieder auf Hochtouren.

Indes wechselte die Krise in »schneller Aufeinanderfolge von Finanz-, Schulden- und Eurokrise« (Habermas) Ort und Gesicht. Eine Erscheinungsform der Überakkumulationskrise ist der Überhang anlagesuchenden Geldkapitals. Findet es in der Produktion keine profitable Anwendung, bleibt es in die Form des Finanzkapitals gebannt, das seinen Profit in den verschiedenen Abteilungen des Finanzsektors sucht. Das auf Staatskosten gerettete Finanzkapital fand u.a. just im staatlichen Geldbedarf, den seine Rettung hervorgerufen hatte, eines seiner Anlagefelder und in der damit einhergehenden Staatsverschuldung ein Spekulationsobjekt. Wie im Domino-Effekt wurde die Europäische Gemeinschaft von ihren Rändern her in einen unhaltbaren Zustand getrieben, der auch ihre Währung in Gefahr brachte. Der angesichts drohender Staatsbankrotte aufgespannte »Rettungsschirm« (der eher dem Schutz der Gläubiger diente) verhängte als Preis für die ›Rettung‹ prozyklische Austeritätspolitiken. Steuererhöhungen und Massenarbeitslosigkeit waren das Resultat. Den betroffenen Ländern verbaute es den Ausweg. Erste Massenrevolten waren die Quittung. Um den geforderten Übergang zu vermeiden, kam es über eine krisengetriebene Folge viel zu spät vollzogener, überstürzter und kurzatmiger Stolperschritte zu ersten Ansätzen einer seitens der reicheren Länder perhorreszierten »Transferunion« mit gemeinschaftlicher Wirtschafts- und Strukturpolitik, wenn auch immer noch halbherzig und von oben, »nur auf dem indirekten Wege über die im Rat vertretenen Regierungen«, statt »über das europäische Parlament unmittelbar« (Habermas). Diese Dynamik wird keine Ruhe geben. Bei Androhung des Zerfalls treibt sie die EU über ihre inneren Grenzen hinaus. Dabei war und ist die BRD Hauptbremser und Hauptprofiteur in einem. Es ist, als wiederholte sich ein Stück des ökonomischen Dramas der deutschen Wiedervereinigung. Dank überlegener Produktivität und daher trotz der höheren Löhne niedrigerer Arbeitsstückkosten konkurrierte die deutsche Wirtschaft die schwächeren Ökonomien nieder, aus denen sie zugleich einen erheblichen Teil ihrer Gewinne zog. Und wie bei der Wiedervereinigung präsentierte sich die Rechnung: entweder Transferleistungen zur Finanzierung von Strukturpolitik, oder fortschreitende Erosion der Einheit und innereuropäische Migration aus der Peripherie in die Metropolen, wie die deutsche Kanzlerin angesichts der katastrophalen Arbeitslosigkeit in Spanien zynisch vorgeschlagen hat.

II.

Dass die Spekulation Knappheit mitten im Überfluss herstellen und sich am künstlichen Mangel bereichern kann, erzählt bereits einer der Gründungsmythen der griechischen Philosophie. In einer Art von Termingeschäft avant la lettre soll Thales, als die Olivenernte noch fern war, »alle Ölpressen gemietet und dadurch ein enormes Vermögen gewonnen« haben (Diogenes Laertios, I.26). Nachdem in der Krisendynamik des Hightech-Kapitalismus sechs Jahre nach der »Dot.com-Blase« auch die Hypotheken- und Konsumkreditblase geplatzt war und über die zur Absicherung entwickelten Finanzprodukte das internationale Finanzsystem an den Abgrund geriet, floss angehäufter Mehrwert auf dem Weg zu seiner Verwertung u.a. über Terminkontrakte in Rohstoffe und landwirtschaftliche Produkte, und zwar nicht in physische, sondern in ›Anlageprodukte‹, die der Eigentümer auf Zeit nicht braucht. Solange das gut geht, wirkt es wie ein rein besitzrechtlicher Zwischenhandel ohne eigene Lagerhaltung, der seinen Anteil fordert und ihn je nach Kräfteverhältnissen teils den Produzenten, teils den Konsumenten abverlangt. Droht Inflation, erfüllen Anlageprodukte, zumal »›Anlagegold‹ […] den Zweck, Wertbehälter, Garantieform des Werts zu sein, wenn alle bloßen Wertgutscheine zweifelhaft werden« (Haug 2008, 788). Zugleich werden sie dadurch, wenn sich anlagesuchendes Kapital auf sie stürzt, zu Spekulationsobjekten.

Wie in der europäischen Peripherie war auch in der Peripherie des Weltmarkts die von der großen Krise angetriebene massenhafte Arbeits- und Perspektivlosigkeit noch ungebrochen, als die Energie- und Lebensmittelpreise wieder in die Höhe von 2008 schossen. Bereits damals hatten sie Hungerrevolten hervorgerufen. In der arabischen Welt, verstärkt durch die über Wikileaks bewirkte Bloßstellung ihrer kleptokratischen und vom westlichen Machtblock genau in dieser Rolle bis dahin nie in Frage gestellten Gewaltherrscher, wirkte die erneute Teuerung als Funke, der einen Flächenbrand auslöste. Der Erfolg des Massenprotests enthüllte den schmutzigen energiepolitischen Handel des Westens mit den korrupten Diktaturen — Erdöl gegen Rüstungsgüter und Herrschaftshilfen bei der Entrechtung der arabischen Völker sowie des Raubs an ihren Entwicklungschancen. Zugleich brachte er die ›Stabilitätspolitik‹ im ›Nahen Osten‹ ins Wanken (vgl. Mastnak in diesem Heft). Das war nicht nur für diese Region ein Geschichtsbruch. Und es blieb nicht der einzige.

III.

Am 11. März 2011 schien an der japanischen Ostküste der Jüngste Tag angebrochen. Die von einem Erdbeben ausgelöste turmhohe Flutwelle hatte alles für sie erreichbare Menschenwerk an der Ostküste wie Spielzeug einfach weggewischt und zehntausenden Menschen den Tod gebracht. Wenig später zeigte sich, dass die Wassermassen eine zweite, in Raum und Zeit ungleich weiter wirkende Katastrophe freigesetzt hatten. Wieder war es eine Naturkraft, doch diesmal eine, die auf der Erde nur in Spuren frei vorkommt und von Menschen artifiziell konzentriert und im Hochsicherheitstrakt des Reaktors entfesselt worden war, um ihre Energie zu extrahieren und in Strom zu verwandeln. 32 Jahre nach dem katastrophalen Störfall von Harrisburg und 25 Jahre nach dem nuklearen GAU von Tschernobyl wurden am 11. März 2011 im japanischen Fukushima gleich mehrere Atomreaktoren mit einem aufs Zwanzigfache von Tschernobyl geschätzten Potenzial (Hirose 2011) zu in Zeitlupe explodierenden Atombomben. Die Flutwelle zerstörte oder deaktivierte das hochtechnologische Kontrolldispositiv zur Beherrschung der technisch entfesselten Kettenreaktion, und die entfesselte trat die Herrschaft an. Wie ein Gleichnis verzweifelter Ohnmacht nahmen sich die Versuche aus, mit Wasserwerfern und Lösch-Hubschraubern das nukleare Feuer zu dämpfen.

In globaler Gleichzeitigkeit schaute die Menschheit dem Geschehen fassungslos zu. In einem Land wie Deutschland, wo die Energiegewinnung aus Kernspaltung angesichts der Gefahren und des unlösbaren Problems der sicheren Endlagerung der noch für Jahrtausende strahlungsaktiven Abfälle seit Jahrzehnten politisch umstritten und von sozialen Bewegungen bekämpft war, musste die Wirkung enorm sein. Es war nicht das erste Mal, dass ein Atomstörfall einen politischen Einschnitt verursachte. In der SU ging »die Atomkatastrophe von Tschernobyl als Durchbruch der Perestrojka« in die Geschichte ein (vgl. Haug 1989, Kap. 3.2). Heute wissen wir, dass der hier zum Zuge kommende Primat von Glasnost und Demokratisierung der Anfang vom Ende der SU war. In der BRD hat die Atomkatastrophe von Fukushima das Ende der schwarz-gelben Koalition eingeläutet. Momentan schwangen die wacheren unter den bürgerlichen Meinungsmachern zumindest punktuell mit den Kapitalismuskritikern auf derselben Wellenlänge. So Jürgen Kaube, der eine knappe Woche nach dem Beginn der Katastrophe seinen FAZ-Leitartikel mit dem bedrückten Staunen darüber eröffnete, »in wie vielen Fragen, die ihre Selbsterhaltung betreffen, die Menschheit keinen Schritt vorankommt«. Angesichts der neuerlichen Nuklearkatastrophe stieß ihm auf, »dass alles, was gerade erörtert wird, genau so auch schon vor dreißig, vierzig, fünfzig Jahren diskutiert wurde. Es gibt kein einziges neues Argument. Man kann jetzt alle Texte, von Anders und Jungk und Steinbuch und Weizsäcker […] noch einmal lesen.« Das führt ihn zum Verhältnis zwischen theoretisch erkannter objektiver Möglichkeit und ihrem realen Eintreten: »Wie kommt es […], dass denkenden Wesen erst die eingetretene Wirklichkeit ihre Möglichkeit erweist?« Das zielt auf die Bundeskanzlerin. Er zieht daraus den Schluss, »dass es nicht in erster Linie auf Argumente ankommt«, sondern dass diese abhängig von Kräfteverhältnissen und Machtkalkülen hervorgeholt werden. Indem die Regierung nur taktisch auf die Ängste der Menschen eingeht, bewirkt sie »einen zweiten Verlust an Zeitgefühl. Denn nicht nur liegen alle Bücher über das Atomzeitalter vor uns, als seien sie soeben erst geschrieben worden. Es gibt auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass wir sie nicht in, sagen wir, drei oder sechs oder zwölf Monaten längst schon wieder ins Antiquariat getragen haben werden«. Als Norm hinter allen Normen entziffert Kaube freilich nicht den Verwertungsprozess und den verselbständigten Akkumulationszwang, den dieser über Wirtschaft und Gesellschaft als permanenten Wachstumszwang verhängt, sondern »die Sicherung des Lebensstandards«, den er anscheinend quantitativ-konsumistisch begreift. »Insofern wäre erst eine Politik, die es wagte, jene Verzichte zu beziffern, die ein Leben ohne Kernenergie und die Komplettverfeuerung des Planeten bedeuten würde, etwas Neues, etwas Epochales.« Kaube übersieht, dass es »unstreitig ist, dass das BIP soziale und ökologische Aspekte nicht hinreichend abbildet« (Antrag 2010) und es an sich durchaus möglich wäre, die Wirtschaft auf eine Weise umzubauen, dass bei geringerem Warenverbrauch ein qualitativ besseres Leben realisiert werden könnte (vgl. etwa Hickel 2011), eine Veränderung zu mehr »Zeitwohlstand« (vgl. Rinderspacher 2002), die nicht in Verzicht aufginge. Die von ihm ausgeblendete Blockierung dieses Weges besteht darin, dass damit der kapitalistische Wirtschaftsprozess als kapitalistischer seine Grenze gefunden hat, an der die dazulernende Menschheit ihn im Übergang zu einer nachhaltigeren und sozial gerechteren Lebensund Produktionsweise zurückzulassen oder zumindest seine Herrschaft zu brechen und ihn der Politik zu unterwerfen hat. Sollte die Energie der Wertvermehrung, der »Heißhunger nach mehr Gewinn« (Marx, 23/429), noch schwerer zu zähmen sein als die Atomenergie?

Frank Schirrmacher genügte am 17. März im »Heute-Journal« des ZDF ein einziger, die Bilder kommentierender Satz, dass es ihm »wie Schuppen von den Augen« fiel und er einsah, »dass es historische Momente gibt, in denen es politisch und gesellschaftlich zwingend ist zu sagen, dass man einen Fehler gemacht hat, und selbst ein Ende setzt, um den verhängnisvollen Kreislauf zu unterbrechen. Nicht irgendeinen Fehler, der sich mit Updates und Nachrüstung beheben ließe. Die Japaner werden in ungezählten Berichten analysieren, wie es zu ihrem Fehler gekommen ist. Uns steht diese Aufgabe noch bevor. Dazu zählt, dass man zugibt, dass etwas kein Übergang mehr ist. Sondern ein Ende.« (2011a) Die Hinhalteparole von der »Brückentechnologie« war verbraucht. Die Brücke war überdehnt. Kein Ufer war mehr in Sicht.

IV.

Wählerbefragungen in Erwartung der herannahenden Landtagswahlen machten klar, dass zumindest fürs Erste noch nicht an die übliche Renormalisierung zu denken war. Die Regierung hatte – nicht anders als die japanische fürs AKW Fukushima – kurz zuvor die Laufzeiten der AKWs verlängert und diesen Akt als »Revolution in der Energiepolitik« gepriesen. Nun wollte sie mit der Ausrufung eines dreimonatigen Moratoriums die Zeit bis nach den Wahlen überbrücken. Die Wähler nahmen es ihr nicht ab. Baden-Württemberg, Stammland der Liberalen und Erbhof der Christdemokraten, zuletzt aber auch der Volksbewegung gegen »Stuttgart 21«, wählte am 27. März die schwarzgelbe Koalition ab. Einen Tag später erschien im Feuilleton der FAZ eine vernichtende Kritik der »neun Gemeinplätze des Atomfreunds« aus der Feder des Mitherausgebers (2011b), ein wahrer Kehraus der bis dato offiziellen Glaubensartikel von Regierung und Wirtschaft: 1. »Deutsche AKWs sind die sichersten der Welt« beruhe nicht auf Technologievergleich. »Denn dann müsste die Botschaft lauten: Auch im schlimmsten Fall strahlt unser Uran nur wenige Stunden und nicht Hunderte Jahre.« — 2. »Absolute Sicherheit gibt es nicht.« Doch: »Wir wissen nämlich genau, […] wie lange Radioaktivität ausstrahlt«. – 3. »Risiko gehört zum Leben.« Das heißt in diesem Fall, dass wir nur eine einzige »Chance« haben, nämlich »dass der Super-GAU vorläufig nicht eintritt«. – 4. »Ein Fall wie Fukushima könnte in Deutschland nicht passieren.« Ort und Umstände sind zufällig, der Ablauf des Super-GAUs notwendig. Vergleichbar ist die »Fähigkeit der Menschen, ihn danach wieder in den Griff zu bekommen«. Der jetzige Fall zeigt, »dass Menschen im GAU atomare Prozesse, die sie eingeschaltet haben, nicht ausschalten können. Das aber ist eine Erkenntnis von normativer Qualität.« — 5. »Auch wenn wir aussteigen, sind wir von AKWs umgeben.« Das läuft auf »Selbstaufgabe von Politik« hinaus und würde etwa den Atomsperrvertrag ad absurdum führen. — 6. »Der Strom kommt nicht aus der Steckdose.« Gehört wie 2. zu den »Infantilitätsargumenten, mit denen Kritiker als naiv, weltfremd oder wohlstandsverwöhnt dargestellt werden.« — 7. »Die Chance/das Risiko […] ist extrem unwahrscheinlich.« Das gilt auch fürs Lotto, wo die Chancen 1:136 Millionen stehen und dennoch gewonnen wird. — 8. »Fukushima hat für uns überhaupt nichts verändert.« In Wirklichkeit weiß »eine ganze technische Zivilisation […] Wochen nach dem Ereignis weder, was wirklich geschehen ist, noch, was sie tun kann. Das ist eine Veränderung für die Geschichtsbücher. « 9. »Apokalyptiker! Die Menschheit hat ganz andere Sachen überlebt, sie wird auch das überleben.« Die atomare Technologie zielt Millionen Jahre in eine Zukunft, von der wir nicht wissen, ob wir auch nur eine gemeinsame Zeichensprache haben, um vor unserm Atommüll zu warnen.

Eine Woche später gestand der CDU-Generalsekretär ein: »Mancher in Union und FDP mag in der Laufzeitverlängerung auch eine Mutprobe gesehen haben, auf eine möglichst lange Brücke zu setzen, an deren Ende eine Renaissance der Kernenergie steht.« (Gröhe) Wieder zwei Tage später titelte die Energie-Beilage der Frankfurter Allgemeinen: »Zeit für die Wende« (4.2.11, B1).

V.

Auf der Linken griffen Elmar Altvater und Ekkehart Krippendorff (2011) auf das Prinzip Verantwortung von Hans Jonas (1979) zurück, eine konservative Kampfschrift gegen Ernst Blochs Prinzip Hoffnung. Dass »die oft weitreichenden Auswirkungen technologischer Innovationen der modernen Industriegesellschaft jenseits der unmittelbar intendierten Zwecke […] sich der Kontrolle ihrer Verursacher entziehen«, macht für Krippendorff die Erweiterung von Kants kategorischem Imperativ um »den entsprechenden Zeithorizont« aktuell, wie Jonas sie vorgenommen hat: »Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.« Ausgezeichnet! Doch gerade diesen Gedanken hat Anders in den 1950ern glasklar ausgearbeitet. Was Jonas dem hinzufügt, überschreitet die einem selbstkritischen Vernunftgebrauch gezogene Grenze und fällt in vorkritisches Denken zurück. So wenn er die Natur wie einen Gott nach dem Bilde des Menschen vorstellt, indem er ihr zuschreibt, sie habe »im organischen Leben […] ihr Interesse kundgegeben und in der ungeheuerlichen Mannigfaltigkeit seiner Formen befriedigt« usw. usf. (zit.n. Krippendorff). Wo Jonas aber klar und diesseitig schreibt wie in jenem kategorischen Imperativ, könnte man in seinem Namen ein Pseudonym für Günther Anders vermuten. Grund genug, das Original, Anders‘ Thesen zum Atomzeitalter, die 1959 zum Gründungstext des Argument geworden sind, wieder vorzunehmen. Die nukleare Technologie, heißt es dort, hat uns »allmächtig« gemacht, aber »modo negativo«, was »zugleich total ohnmächtig« bedeutet. Denn dieser Herrschaftsakt über die Natur entfesselt Kräfte, die zeit-räumlich einzugrenzen und derart zu beherrschen unmöglich ist. Seither ist alle Zeit »Endzeit«, denn die Zerstörungsmöglichkeit »kann niemals enden — es sei denn durch das Ende selbst«. Vor die Wie-Frage des Lebens war die Ob-Frage getreten. »Wir haben dafür zu sorgen, dass die Endzeit, obwohl sie jederzeit in Zeitenende umschlagen könnte, endlos werde.« Dieses Wir kennt keine Schranken. »Was jeden treffen kann, betrifft jeden.« Dass das Bedrohende unsichtbar ist, macht die »Transzendenz des Negativen« aus. Die sinnliche Wahrnehmung ist unter diesen Umständen eine »falsche Zeugin«. Es gibt auf der Erde »keine Entfernungen mehr«, weder des Raumes noch der Zeit. Der Bewirkungshorizont muss kleiner sein als der Verantwortbarkeitshorizont. An Stelle der raum-zeitlichen Distanz entscheidet nun die Entfernung zwischen Vor- und Herstellung. Daraus folgt das Gebot: Was die Vorstellbarkeit übertrifft, darf nicht hergestellt werden. Das ist der kategorische Imperativ des Atomzeitalters, zu dem das Zeitalter der Bio- und Nanotechnologien hinzugekommen ist. Was über den Kontrollraum hinausreicht, kommt nicht in Frage.

VI.

Hochtechnologie hadert mit dem Kapitalismus wie dessen Globalität mit globaler Regulierungslosigkeit. Solange die Politik die Herrschaft des Kapitals nicht grundsätzlicher in die Schranken weist, vermag sie es nur um den Preis zu beschränken, ihm eine andere Verwertungsschranke aus dem Weg zu räumen. Hier waltet hinterrücks die Dialektik, von der es im Manifest heißt, die Bourgeoisie überwinde die kapitalistischen Krisen nur »dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert« (4/486). So führen es derzeit die Mittel vor, mit denen systemimmanent gegen die Finanzkrise gekämpft wird. Und auf die Begrenzung seiner Akkumulation an den ökologischen Schranken lässt der Kapitalfetisch sich nur unter der Bedingung ein, genau die Begrenzung zum neuen Akkumulationsfeld zu machen. Und selbst dann noch wird der Übergang, da er Kapitalvernichtung auf Seiten der »fossilistischen Konzerne vom Öl bis zum Auto« mit sich bringt, »von tiefen Krisen und heftigen Kämpfen geprägt sein« (Candeias 2011, 95).

Wie es aussieht, gewinnt die Rede vom Hightech-Kapitalismus in der Krise erst ihre volle Bedeutung, wenn sie der Tatsache Rechnung trägt, dass auch diesseits der Atomwaffen Hochtechnologien zur Krisenquelle der gesellschaftlichen Naturverhältnisse geworden sind. Beim atomaren »Restrisiko« und analogen technisch erzeugten, die Kriterien von Günther Anders erfüllenden Selbstbedrohungen verliert die Rede von der Risikogesellschaft ihren Sinn. Martina Heßler, die in der Frankfurter Allgemeinen die aktuelle japanische Nuklearkatastrophe in Anders’ Begriffen interpretiert hat, spricht aus, dass »technische Unfälle in einer Hochtechnologie Gesellschaft nichts Ungewöhnliches« sind, und lässt Charles Perrow sagen, in komplexen und gekoppelten Systemen seien Unfälle »normale Katastrophen«. Sie gehen auf Eigenschaften des Systems selbst zurück; je komplexer dieses und die Interaktion seiner Bestandteile ist, desto weniger lassen sich »alle möglichen Interaktionen der unvermeidlichen Defekte vorhersehen«. Heßler sieht in dieser »Koppelung von ›normalem Unfall‹ und Ausnahmezustand […] das Bestürzende«. In den schier hilflosen Versuchen, die Kontrolle über die explodierenden Reaktorkerne zurückzugewinnen, sieht sie eine Illustration für die Thesen von Anders. In den um die Welt gegangenen, emblematischen Bildern von den Versuchen, »einen Reaktor mit Wasserabwürfen aus Hubschraubern oder mit Wasserwerfern kühlen zu wollen«, sieht sie einen Beleg für das von Anders analysierte »prometheische Gefälle« zwischen Vor- und Herstellung. Doch das ist ungenau. Hier geht es nicht mehr um diese Kluft. Denn das vorher Unvorstellbare ist ja nun hergestellt, wenn auch unbeabsichtigt, und füllt die Vorstellung mit Entsetzen. Nun aber lässt sich die Vorstellung, man könne die Kernschmelze ›wieder unter Kontrolle bringen‹, nicht verwirklichen. Die Vorstellung ergeht sich kraftlos in etwas schlechterdings Unherstellbarem. »Man muss befürchten, dass nun alles in Gottes Hand liegt«, hat der EU-Energiekommissar Günther Oettinger angesichts der Lage in Fukushima gesagt. Heßler befürchtet, die Welt werde demnächst, sobald sich der radioaktive Staub etwas gelegt hat, wieder zum Wahn des »reibungslosen Ablaufes« zurückkehren. Doch sie selbst stumpft die kategorisch-ethische Schärfe der Thesen von Anders ab, wenn sie mit Wiebe E. Bijker sagt, »das Leben in einer […] innovativen Kultur bedeute, […] den Preis der Verletzbarkeit zu zahlen. Wie hoch dieser Preis sein darf, darüber haben Gesellschaften zu entscheiden.« Von Anders ist zu lernen, dass letzteres zurückzuweisen ist. Einen Preis von der Art des Super-GAUs zu zahlen, verbietet sich kategorisch. In diesem Imperativ konkretisiert sich für die hochtechnologische Produktionsweise das marxsche Axiom, dass »selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen […] nicht Eigentümer der Erde [sind]. Sie sind nur ihre […] Nutznießer, und haben sie […] den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.« (25/784) Dabei haben wir einzugestehen, dass dieses Postulat in seiner positiven Fassung, wenn es sich nicht auf bestimmte Hinsichten beschränkt, streng genommen als utopisch zu bezeichnen ist. Denn auch wenn Ressourcen »von der Natur gratis geschenkt« zu sein scheinen (23/630), so ist doch in der Natur nichts umsonst. Jedenfalls können wir uns nicht vorstellen, vielleicht noch nicht, wie sich ein entsprechendes gesellschaftliches Naturverhältnis mit Nachhaltigkeitsüberschuss (»verbessert«) im Ganzen herstellen lassen könnte. Wohl aber können wir zwischen nachhaltigeren und zerstörerisch zurückschlagenden Praxen unterscheiden, und an dieser ökologischen Unterscheidung hat sich unser Handeln auszurichten.

Die Frage nach einem sozial gerechten Übergang zu einer nachhaltigeren Gesellschaft erhält ihren Sinn von der Frage, welche Zukunft die heutige Generation für sich und ihre Nachkommen vorsieht – Anders und Benjamin würden sagen: auch für alle Toten, damit nicht der »zweite Tod« sie endgültig vernichtet. Die Frage steht im Leeren, solange sie nicht getragen ist vom massenhaften Interesse an nachhaltigem Überleben, das zugleich in Begriffen menschlicher Entwicklung qualitativ besseres Leben sein könnte. Wenn der Verstand auch skeptisch oder pessimistisch sein mag, so darf er nicht den Optimismus des Willens schwächen, eine Haltung, die Anders am Ende seiner Thesen zum Atomzeitalter von 1959 pointiert in Worte gefasst (und später mehrfach abgewandelt) hat: »Denjenigen aber, die, von der düsteren Wahrscheinlichkeit der Katastrophe gelähmt, ihren Mut verlieren, denen bleibt es übrig, aus Liebe zu den Menschen die zynische Maxime zu befolgen: ›Wenn ich verzweifelt bin, was geht’s mich an!‹«

Literatur

Altvater, Elmar, »Fukushima, mon horreur«, in: transform, April 2011

Anders, Günther, »Thesen zum Atomzeitalter« (1959), in: Das Argument 17, 1960; Reprint in: Argument-Sonderband 1/1, Karlsruhe 1975, 226-34 (www.inkrit.de/argument/documents/DA- 017_1960-Oktober_Atomzeitalter-I.pdf)

Antrag zur Einsetzung einer Enquete-Kommission »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft «, Deutscher Bundestag, Drucksache 17/3853, 23.11.2010

Candeias, Mario, »Strategische Probleme eines gerechten Übergangs«, in: LuXemburg, 3. Jg., 2011, H. 1, Gerechte Übergänge, 90-97

Gröhe, Hermann, »Den Umstieg gestalten«, FAZ, 2.4.11, 2010

Habermas, Jürgen, »Europapolitik Merkels von Demoskopie geleiteter Opportunismus«, in: Süddeutsche Zeitung, 7.4.2011

Haug, Wolfgang Fritz, Gorbatschow. Versuch über den Zusammenhang seiner Gedanken, Hamburg 1989, 2.A. 1990

ders., »Krise des Kapitalismus – Kritik gesellschaftlicher Naturverhältnisse«, in: Das Argument 279, 50. Jg., 2008, H. 6, 785-94

Heßler, Martina, »Unsere Scham vor der Maschine«, in: FAZ, 2.4.2011, 33

Hickel, Rudolf, »Weniger Wachstum = mehr Glück«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 56. Jg., 2011, H. 4, 37-40

Hirose, Takashi, »Eine Katastrophe von Menschenhand«, in: Financial Times Deutschland, 28.3.2011, 24

Jonas, Hans, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M 1979

Kaube, Jürgen, »Die Wiederkehr des Verdrängten«, FAZ, 17.3.2011, 1

Krippendorff, Ekkehart, »Stuttgart 21 oder der verpasste Ausstieg aus einer drohenden Zukunft«, in: Leviathan, Nov. 2010 (www.kunstraumrhein.ch/fileadmin/user_upload/News/ Stuttgart%2021.pdf)

ders., »Das Prinzip Verantwortung«, Ms., 2011

Rinderspacher, Jürgen P. (Hg.), Zeitwohlstand – Ein Konzept für einen anderen Wohlstand der Nation, Berlin 2002

Schirrmacher, Frank, »Der Moment, in dem man versteht«, FAZ, 19.3.2011, 33 (zit. a)

ders., »Die neun Gemeinplätze des Atomfreunds«, in: FAZ, 28.3.2011, 27 (zit. b)

Stiglitz, Joseph, »Zurück aus der Wildnis«, in: Financial Times Deutschland, 13.12.2008

Die Printversion ist erschienen in:
Das Argument 291 (2/2011), »Zeit der Übergänge – aber wohin?«