spielräume dehnen

Kritischer Professionalismus I: Heidi Knake-Werner über Dissidenz in Regierung

prager frühling: Als Sozialsenatorin hast du in Berlin eine Ausführungsvorschrift (AV) Wohnen für Hartz-IV-Betroffene vorangebracht. Was zeichnete diese aus?

Heidi Knake-Werner: Ich hab die Hartz-Gesetze als schweren Angriff auf das Sozialsystem abgelehnt. Insofern ist mir deren Umsetzung alles andere als leicht gefallen. Mir war wichtig, dafür zu sorgen, dass Hartz-IV-Betroffene in gewohnter Umgebung bleiben können, also Ghettobildung in den Randlagen verhindert wird. In unseren AV für die Wohnkosten wurde eine Übergangsfrist von einem Jahr festgelegt, weil es für die Betroffenen wichtiger ist, sich um einen neuen Job zu kümmern, als eine neue Wohnung zu suchen. Die Richtwerte für die Miethöhe orientieren sich am Mietspiegel. Auf Vorgaben für die Wohnungsgröße haben wir verzichtet. Für Alleinerziehende, Ältere und Menschen mit Behinderungen wurde aufs Kostensenkungsverfahren ganz verzichtet, bei anderen wurde eine Überschreitung der Richtwerte um 10% ermöglicht. All dies hat dazu beigetragen, dass in Berlin von den 320.000 Bedarfsgemeinschaften jährlich nur 0,2% umziehen mussten.

pf: Die rot-schwarze Bundesregierung hat dagegen geklagt. Warum?

Knake: Ja, und zwar mit dem Vorwurf, gegen ein Bundesgesetz zu verstoßen. Es war schon kurios, dass ein sozialdemokratischer Arbeitsminister eine SPD-geführte Landesregierung vor das Gericht bringt. Hintergrund waren Recherchen des Bundesrechnungshofs in einem von zwölf Berliner Bezirken und nicht besonders seriöse Berechnungen, wonach wir wegen der Ein-Jahres-Frist zu viel Geld ausgeben. Uns leuchteten diese Argumente nicht ein, aber schließlich mussten wir uns dem richterlichen Druck beugen.

pf: Per Gerichtsbeschluss wurde Euch bestätigt, mit der AV Wohnen ein Gesetz gebrochen zu haben. Wie fühlt man sich, wenn man als Senatorin Gesetze bricht?

Knake: Na, spaßig ist eine solche Klage nicht, aber politisch habe ich mich gut gefühlt. Ich fand unsere Herangehensweise richtig und sozial das Mindeste, was wir tun mussten. Ich bin bis heute überzeugt davon, dass es richtig ist, die Spielräume auch zu dehnen, wenn es darum geht, die soziale Lage der Menschen zu verbessern. Unsere Wohnkostenregelungen wurden bundesweit gelobt, u.a. vom Deutschen Verein. Sie bewirkten das, was uns besonders wichtig war: 40 Prozent fanden im ersten Jahr des ALG-II-Bezugs einen neuen Job. Sie konnten sich darauf konzentrieren und mussten nicht um ihre Wohnung bangen. Ein anderes Vorgehen verlangt andere Mehrheiten im Bund. Und da ist mit Grünen und SPD nicht zu rechnen.

pf: Ziviler Ungehorsam – damit assoziiert man Proteste auf der Straße. Kann man auch in einer Regierung dissident sein?

Knake: Auch in der Regierungsarbeit kann man widerständig sein. Eine meiner ersten Amtshandlungen war z.B., die Chipkarten für Asylsuchende abzuschaffen und statt dessen Bargeld auszuzahlen und dafür zu sorgen, dass sie normal Wohnungen anmieten können, statt in Massenunterkünften zu leben. Das war damals gegen die Gesetzeslage, konsequenter Weise remonstrierte mein Abteilungsleiter. Aber es hat geklappt. Auch der Mindestlohn für Hartz-IV-Betroffene in Jobs des öffentlich geförderten Beschäftigungssektors war nur möglich bei großzügigster Auslegung der Rechtsverordnungen des Bundes.