der kurze sommer der anarchie

Ziviler Ungehorsam in und um die Mainzer Straße

Die Berichterstattung zum 20. Jahrestag der Räumung der Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain war auf die Frage: „Wer war geil auf Gewalt?“ reduziert. 20 Jahre Mainzer Straße heißen aber für die ehemaligen Bewohner_innen sechs Monate ziviler Ungehorsam. Am 1. Mai 1990 wurden die ersten zum Abriss vorgesehenen Häuser in der Mainzer Straße besetzt. „Die Häuser denen, die drin wohnen“, war die Devise. Wir wollten nicht Mietverträge für uns, sondern alle 120 besetzten Häuser Ostberlins dem kapitalistischen Markt entreißen. Schnell entstanden Frauen- und Lesbenhaus, Tuntentower, Frauencafé, Antiquariat, Kneipen und eine VoKü. Auf den Höfen wurde Theater gespielt, in Kellern standen Bands und DJs auf der Bühne. Für einen Moment schien es, als sei eine emanzipatorische und solidarische Lebensweise möglich geworden.

Für die Bevölkerung des traditionellen Arbeiterkiezes war das bunte Volk gewöhnungsbedürftig, machte aber auch neugierig. Viele von uns hatten zivilen Ungehorsam auch schon vorher geprobt: Friedensbewegung, Umweltbibliothek, Anti-AKW-Bewegung, Antifa- oder Punkszene. In den Häusern gab es organisatorische Anlehnungen an die Pariser Kommune und die Räterepublik, in den Happenings und Aktionen versuchten wir an die 68er anzuknüpfen. Die Lebensform und die politische Haltung, reichte über die Westberliner Geschichte der Hausbesetzungen hinaus, sie knüpfte ebenso an die besetzten Wohnungen von LebenskünstlerInnenkollektiven in ostdeutschen Städten an. Die Mischung war heterogen, gemeinsam war uns allen aber die Lust zum zivilen Ungehorsam. Angesichts des Staatsbankrotts der DDR und ihrer Einverleibung durch die BRD wollten wir um einen dritten Weg kämpfen. Von der Aneignung des öffentlichen Raums bis zur Organisation der antifaschistischen Kiezmiliz als Selbstschutz reichte der Widerstand gegen das Sich-gefallen-lassen. Zivilen Ungehorsam gab es aber auch von „normalen“ Bürger_innen: Beim Bau eines Spielplatzes mit Nachbar_innen mit Mietvertrag lagerten wir auf Anraten des CDU Baustadtrates Material von den umliegenden Plattenbaustellen um. Als wir wegen der mangelnden Kooperation bei der Bauschuttberäumung selbigen mit Schubkarren auf der Frankfurter Allee auftürmten, entsorgte man am selben Abend den Schutt mit Baggern auch aus unserer Straße. Leider blieb es ein kurzer Sommer der Anarchie. Der Innensenator hatte die Räumung der Mainzer Straße lange geplant und ließ sich auch durch Vermittlungsversuche nicht aufhalten.

Mit den Gewaltexzessen bei der Räumung hatten die neuen Herren nicht nur den Besetzer_innen gezeigt, wie die Machtverhältnisse nun verteilt waren. Trotzdem gelang es, mit einer Karnevalssitzung im Büro von Bürgermeister Schwierzina zu zeigen, was es heißt, geräumt zu sein. „Eine Million Sachschaden für jedes geräumte Haus“ war schon in den 1980er der Slogan in Westberlin. Es wurden 50 Millionen in ganz Europa. Gelebte Solidarität an deutschen Botschaften und Konzernen. Carepakete, Kleider- und Möbelspenden aus dem ganzen Osten brachten uns persönlich wieder auf die Beine. Mit den psychischen Folgen musste jede_r alleine klarkommen. Die historische Aufarbeitung all dieser Ereignisse hat erst begonnen. Im letzten Jahr gab es einen Versuch, sich dem Thema zu nähern. Die Diplomarbeit1 ist für Neugierige interessant, aber leider versucht sie nicht, die Widersprüche zwischen staatlicher Geschichtsauffassung und dem Erlebten der Beteiligten aller Seiten aufzuklären.

Fußnote:
1 Troger, Melanie: Die Räumung der Mainzer Straße vor dem Hintergrund der Hausbesetzungen in Berlin-Friedrichshain 1990. Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra Philosophiae, an der Karl-Franzens-Universität Graz. Graz 2010.