Zehn Jahre nach 9/11 – Wird der Westen aus Schaden klug?

Kein Zweifel, die Anschläge vom 11. September 2001 auf die wirtschaftlichen und politischen Machtsymbole der USA waren weltpolitisch, damals und auch rückblickend betrachtet, eine Zäsur. Die vielen unschuldigen Toten am „Ground Zero", vor allem aber der demonstrierte ebenso unglaubliche wie offenbar wirkungslose Gegensatz zwischen der mächtigsten Militärmacht der Welt und einer Gruppe verblendeter und zu allem bereiter Attentäter, machten drei Dinge auf sehr brutale Weise deutlich: Die USA werden keineswegs überall auf der Welt als geborene Heilsbringerin und als Hüterin universeller Werte angesehen. Die sogenannten westlichen Werte, wie Marktwirtschaft und Liberalismus, fanden und finden in vielen Gesellschaften vor allem des Südens nicht den erwarteten Widerhall. Und: Kein Staat dieser Welt, auch die USA nicht, ist auf immer und ewig unverwundbar.

Mit Recht erfuhren die USA nach 9/11 eine beispiellos breite Solidarität der Weltgemeinschaft - von Berlin bis Riad, von Ottawa bis Peking. Die sich unmittelbar nach den Anschlägen bildende Front gegen eine als gemeinsam wahrgenommene Bedrohung durch Terror schien für einen kurzen weltgeschichtlichen Moment die Chance für eine neue gemeinschaftliche Identität nach dem Ende des Kalten Krieges zu geben, über alle ethnischen, religiösen und politischen Grenzen hinweg, eine Chance, die Mitte der 1990er Jahre schon vergeben schien.
Ein Jahrzehnt ist seither vergangen und zu fragen ist, ob die damals entwickelten Strategien und die auf sie gründende Politik klug genug gewählt wurden, um diese historische Chance zu nutzen oder wenigstens einer Wiederholung vergleichbarer Anschläge zu begegnen. Dass eine schlüssige Antwort jedoch bis heute aussteht, hängt unter anderem damit zusammen, dass sich die USA praktisch schon im Winter 2001 in einer „Koalition der Willigen" zum Alleingang entschieden und durch die selbst erteilte Ermächtigung zum Krieg neue Friktionen, keineswegs nur in den kriegsbetroffenen Staaten, schürten. Längst ist aus Dokumenten bekannt, dass die damals ausgewählten Kriegsziele aus durchaus auch anderen Gründen, bereits vor den Anschlägen feststanden.
Die Kriegserfolge blieben rar. Auf dem Schlachtfeld setzte sich die militärische Überlegenheit zunächst durch - allerdings nur gegen die Regime von Staaten, die nichtstaatlich organisierten Netzwerke wurden zwar verfolgt, blieben aber intakt, oder konnten sich nach jedem gezielten Schlag immer wieder erneuern. Die politischen Erfolge blieben bei genauer Analyse aus. Irak ist faktisch geteilt und von Gewaltkonflikten zerrissen. Afghanistan wird von Staatskorruption beherrscht, vor deren Hintergrund die Taliban ihre Herrschaftsstrukturen restaurieren. Vor allem ist es ihnen gelungen, ihren Einfluss in Pakistan auszuweiten und die Horrorvorstellung einer „islamistischen" Atommacht Pakistan ist nicht mehr unrealistisch. Angesichts dieser Entwicklungen werden kleine Erfolge zu großen verklärt. In jüngster Zeit wurden vor allem die gezielten Tötungen mutmaßlich hoher Drahtzieher islamistisch legitimierten Terrors als manifeste Ergebnisse eigener Antiterrorpolitik gefeiert. Allerdings erschöpft sich der sogenannte „Krieg gegen den Terror"jenseits der martialischen Rhetorik bisher vor allem in Zehntausenden von neuen unschuldigen Toten; der dadurch ausgelöste Hass hat Radikalisierungstendenzen begünstigt und den Rattenfängern des Terrors Zulauf beschert.Zudem hat die Art und Weise, wie dieser Krieg aufgenommen und zum Teil auch geführt worden ist, das Vertrauen in die Bestandsfestigkeit des internationalen Recht untergraben.
Der Preis dieser verfehlten und militärisch fixierten Antiterrorpolitik aus den letzten Jahren ist vermutlich noch nicht einmal wirklich entrichtet. Zur Erinnerung: Als die damalige Sowjetunion nach zehnjähriger Besetzung demoralisiert und geschlagen Afghanistan verlassen musste, gab dies der jihadistischen Bewegung weltweit einen gewaltigen Aufschwung. Die Symbiose von Talibanherrschaft und Al Qaeda war eine Folge. Die Mobilisierung des Jihadismus in Folge des bevorstehenden Abzugs der um vieles mächtigeren und kaum erfolgreicheren Besatzer wird mit sehr großer Wahrscheinlichkeit unvergleichlich stärker sein und über die Grenzen Afghanistans auch in Pakistan, Iran und Irak den radikalen, antiwestlich eingestellten Kräften Auftrieb geben. Militärisch wird von den USA und der NATO heute kaum mehr versucht, als einen verlustarmen Abzug der eigenen Kräfte zu organisieren. Sollte er gelingen, wäre dies vielleicht der einzige verbleibende Erfolg von mehr als zehn Jahren Krieg in Afghanistan.
Eine militärisch plausible Alternative zum bisherigen Vorgehen ist nicht erkennbar. Die Versuche zur Errichtung rechtsstaatlicher Strukturen, wie Polizei und Justiz, waren in den Zielländern des Antiterrorkampfs ebenfalls nur sehr begrenzt erfolgreich - nicht zuletzt, weil sich Rechtsstaatlichkeit nach vorgefertigten Mustern schwer verwirklichen lässt, wenn die Bedingungen hierfür nicht gegeben sind und die Menschen diese Muster auch nicht verstehen. Es mag vor diesem Hintergrund kaum überraschen, dass sich die Rebellierenden des „Arabischen Frühlings" westliche Ratschläge zur Ausgestaltung der von ihnen eroberten Staaten durchaus deutlich verbeten haben. Was die Abwehr von Terrorgefahren innerhalb der westlichen Staaten betrifft, ist die Bilanz kaum besser. Einige Anschläge wurden durch einheimische, sogenannte „home grown" Terroristen verübt, besonders schlimm waren Spanien und Großbritannien betroffen. Der jüngst in Norwegen vonstatten gegangene Blutrausch machte deutlich, dass Radikalisierung und Terror kein islamistisches Phänomen sind. Obwohl viele Anschläge auch verhindert wurden, bleibt bedenklich, dass die vielfältigen „Sicherheitsmaßnahmen" zur Terrorvorsorge in den westlichen Staaten vor allem den Zugriff der Behörden auf persönliche Daten enorm erweitert, nicht aber nachweislich Terrorrisiken beseitigt haben.
Fällt die vorläufige Antwort auf die Frage, ob kluge Strategien gegen den Terror gewählt wurden in der Summe also eher verneinend aus, bleibt zu ergründen, was denn getan werden müsste, um aus Schaden doch noch zu klug zu werden.
Die Empfehlung liegt auf der Hand, allerdings erfordert sie Staatsklugheit und entschlossenes Handeln. Eine vergessene Lehre aus Zeiten der RAF besagt nämlich, dass die Attraktivität der terroristischen Botschaft schwinden muss, um den Nährboden für Unterstützung und Rekrutierung auszutrocknen. Der Antiterrorkampf sollte sich nicht allein auf die Identifizierung potenzieller Attentäter konzentrieren, sondern auf die Gründe, die ein breiteres Umfeld der Unterstützung oder auch nur latenter Sympathie bilden. Terrorismus gründet seine Wirkung auf vermeintlichen gesellschaftspolitischen Rückhalt. Wo er fehlt, das hat das norwegische Beispiel auf wunderbare Weise erzählt, verpufft die Botschaft. Der „Arabische Frühling" in Tunesien, Ägypten, Libyen, Jemen und möglicherweise auch Syrien vermittelt Ähnliches, haben sich doch in keinem dieser Länder islamistische Gruppen mit antidemokratischen Parolen Gehör verschaffen können. Narrative dieser Beispiele sollten wirksamer sein, um extremistischer Gewalt langfristig den Nährboden zu entziehen. Sie entstehen freilich nicht von selbst, sondern werden durch reale Entwicklungen gezeugt. Die Bereitschaft, die Probleme der Menschen ernst zu nehmen und an der konstruktiven Lösung ihrer politischen Konflikte mitzuwirken, ohne der Neigung zu folgen, sie bevormunden zu wollen, wäre hierzu ein erster wichtiger Schritt.