Die Aktionsgruppe Rheinland

Entwicklung und Bestandsaufnahme der Neonaziszene im Rheinland


In der LOTTA #33 erschien das letzte Mal ein LOTTA-Artikel über die „Aktionsgruppe Rheinland“, höchste Zeit also für eine Bestandsaufnahme. Was hat sich verändert? Welche Aktionsschwerpunkte und -formen gibt es? Und wie ist die Mobilisierungsfähigkeit der Gruppe einzuschätzen?

Die AG Rheinland (AGR) entstand 2007 als regionaler Vernetzungsansatz der sich neu bildenden Strukturen „Autonomer Nationalisten“ (AN) aus dem Rheinland. Anfangs spielte die Abgrenzung zu traditionellen Neonazistrukturen wie der Kameradschaft Aachener Land (KAL) oder der NPD Düren eine entscheidende Rolle. Diese wollten von Personen, die „mit Kleidungsstücke[n] der linken Szene ausgestattet sind“, nichts wissen. Die AN kritisierten ihrerseits das stark vom Skinheadstyle dominierte Erscheinungsbild als überholt. Diese Auseinandersetzung spielt heute keine Rolle mehr. So wurde der jährliche Aufmarsch in Stolberg dieses Jahr von einem gemeinsamen Fronttransparent von KAL und AGR angeführt. Die Grenzen zwischen Kameradschaften „alten Typs” wie der KAL oder der Kameradschaft Köln, die nun unter dem Label Freie Kräfte Köln (FKK) firmiert, und der AGR sind fließend. Vor allem jüngere und aktivistisch orientierte Mitglieder der FKK und der KAL haben sich optisch wie auch in ihrer militanten Selbstinszenierung bei Demonstrationen dem AN-Style angenähert. Möglicherweise ist hierin auch einer der Gründe zu finden, dass sich im Aachener/Dürener Raum keine AN-Gruppe längerfristig neben der dominanten KAL halten konnte. Auch die Eigenbezeichnung AN verlor in der Szene an Bedeutung. Stattdessen wird wieder vermehrt auf Selbstbezeichnungen wie „Freie Nationalisten“ – wie in Leverkusen und Solingen – oder gleich „Nationale Sozialisten“ – wie in Wuppertal oder Erftstadt – zurückgegriffen. Der verbale Rückzug auf alte Traditionen scheint mit zu einer Entspannung des angespannten Verhältnisses beigetragen zu haben.

Im Laufe des vierjährigen Bestehens der AGR wechselten lokale Arbeitsschwerpunkte aufgrund der hohen personellen Fluktuation – allgemein ein Problem der AN-Szene. Rückzüge ins Private, Gefängnisaufenthalte und Wohnortwechsel führten immer wieder dazu, dass aktive lokale Gruppen plötzlich kaum noch in Erscheinung traten. Der Wegzug des früheren AGR-Aktivisten Michael Brück im Jahr 2007 von Bergisch Gladbach nach Dortmund beispielsweise schwächte die damals noch junge Struktur. Mit der Inhaftierung des Leichlinger Neonazis Niklas Berr von 2008 bis 2010 gingen die Aktivitäten der AN Leverkusen/Leichlingen drastisch zurück. Die Neuformierung unter dem Namen Freie Nationalisten Leverkusen (FNL) kam erst nach der Freilassung Berrs richtig in Gang. Auch in Pulheim zogen sich aufgrund antifaschistischen Drucks und polizeilicher Ermittlungen viele Aktivisten der ersten Stunde ab 2009 zumindest aus der vordersten Front oder ganz ins Private zurück. Nachdem zeitweise sogar die Internetseite der AG Rheinland nicht mehr zu erreichen war, ist in den letzten Jahren wieder eine zunehmende Präsenz in Pulheim und den angrenzenden Kölner Stadtteilen, vor allem aber in Leverkusen und Wuppertal zu verzeichnen.


Mehr Schein als Sein

Die Webpräsenz der AG Rheinland lässt den Eindruck entstehen, dass man es hier mit einer regional breit aufgestellten, schlagkräftigen Organisation zu tun hat. Immerhin gibt es Kontaktmöglichkeiten in insgesamt zwölf Städte: Aachen, Köln, Erftstadt, Burscheid, Pulheim, Mettmann, Düsseldorf, Wuppertal, Bergisch Gladbach, Solingen, Düren und Leverkusen/Leichlingen. Hinter den einzelnen Gruppen verbergen sich allerdings sehr unterschiedliche Organisationsmodelle. Einige wie Bergisch Gladbach und Düren existieren nur auf dem Papier. An anderen Orten sind die AGR-Gruppen eher lose Neonazi-Cliquen und Freundeskreise, die außer der gemeinsamen Teilnahme an Aufmärschen, dem Anbringen von Aufklebern oder sporadischen Mobilisierungsaktionen keine eigenen Aktivitäten entwickeln. Hier sind eher einzelne Aktivisten, die wichtige Aufgaben für die AGR übernehmen, von Bedeutung. So zeigt sich der Solinger Neonazi Michael Schneider bei Demonstrationen immer wieder in der Rolle des Einpeitschers, bekommt aber häufig nicht einmal genügend Kameraden aus Solingen zusammen, um das Transparent der Freien Nationalisten Solingen zu präsentieren.

Besonders stechen die Gruppen aus Wuppertal und Leverkusen hervor. Beide agieren eigenständig und präsentieren sich im Gegensatz zu anderen AGR-Mitgliedern mit eigenen Homepages. Auf der Page der FNL werden beispielsweise Videos eingestellt, auf denen Nadine Kürten, eine der aktivsten Frauen der FNL, das nationalsozialistische Weltbild der „Freien Nationalisten“ erläutert. Die FNL treten auf Flugblättern, Aufklebern oder Plakaten nur selten als AGR, sondern weitestgehend als unabhängige Gruppe in Erscheinung.

Die AN Pulheim (ANP) und die AN Köln sind keine eigenständigen Gruppierungen, sondern bilden eine organisatorische Einheit, die in Pulheim und den angrenzenden Kölner Stadtteilen im Norden wie Köln-Esch aktiv ist.

Insgesamt bilden die Gruppierungen aus Leverkusen, Wuppertal sowie Pulheim/Köln die Kristallisationspunkte innerhalb der AGR. Alle anderen AGR-Gruppen bzw. -Cliquen und -Einzelpersonen orientieren sich mehr oder weniger an einer oder mehreren dieser drei Strukturen.


Zwischen Propaganda und Gewalt

Die AGR ist nach wie vor mit Propaganda im öffentlichen Raum präsent. Dabei werden Aufkleber, Sprühaktionen, das Verteilen von Flyern und das Plakatieren akribisch fotografisch dokumentiert und mit viel Brimborium als vermeintlich massive Mobilisierung im Internet ausgeschlachtet. Tatsächlich weist der Charakter dieser Unternehmungen weniger auf das Werben um SympathisantInnen als vielmehr auf ein Bedürfnis nach Aktionismus, Selbstbestätigung und Markieren des eigenen Territoriums hin. Zumeist stehen diese Aktionen im Zusammenhang mit für die NS-Szene wichtigen Ereignissen wie dem Todestag von Rudolf Heß oder dem Tag der Befreiung („8. Mai – wir feiern nicht“) oder tauchen im Vorfeld von Aufmärschen auf. Mitglieder der AGR nehmen regelmäßig an den „Highlights“ in Stolberg, Dresden, Bad Nenndorf, der „Antikriegstagsdemo“ in Dortmund und dem „Tag der Deutschen Zukunft“ teil. Darüber hinaus organisiert die regionale Neonazi-Szene kleinere und größere Aufmärsche im Rheinland wie am 30. Oktober 2010 in Velbert (160 Neonazis gegen Multikultur), am 29. Januar 2011 in Wuppertal (200 gegen das Autonome Zentrum) und am 3. Juni 2011 in Leverkusen (70 unter dem Motto „Frei – sozial – national: Werde aktiv für dein Land“). Oft geschieht das in Zusammenarbeit mit anderen Neonazi-Gruppierungen der Region wie der KAL, den NPD-Kreisverbänden Düren und Mettmann/Düsseldorf, der FKK oder dem AB Mittelrhein.

Um den sozialen Zusammenhalt zu fördern und zu zelebrieren, werden kontinuierlich interne Veranstaltungen organisiert, beliebter Austragungsort war in letzter Zeit die Stadt Mettmann. Durch Sonnenwendfeiern, ein jährliches Fußballturnier (zuletzt am 20. August 2011 in Mettmann), interne Saalveranstaltungen (unter anderem in der Gaststätte Lounge Deluxe in Mettmann) sowie die Mitwirkung am jährlichen „Schlageter-Treffen“ wird ein Gemeinschaftsgefühl heraufbeschworen sowie die Selbstwahrnehmung als Bewegung und die Identifikation mit der Szene verstärkt. Seltener sind dagegen Konzerte, bei denen Bands wie Flak aus Bonn oder Säd but Trüe, bei der sich der Leverkusener Thomas Capitain als Sänger versucht, aufspielen.

Als „soziale Events” mit Nervenkitzel scheinen die Mitglieder der AGR auch die zahlreichen gewalttätigen Übergriffe zu verstehen, die auf vermeintliche politische GegnerInnen durchgeführt werden. Sie beteiligten sich unter anderem an den Angriffen auf eine Filmveranstaltung in Wuppertal Ende 2010 sowie an einem Überfall auf das Protestcamp auf dem Kölner Rudolfplatz im Juli 2011. Auch Einrichtungen politischer GegnerInnen werden attackiert, wie erst kürzlich das Büro der Partei Die Linke in Leverkusen und die Karl-Liebknecht-Schule. Bei ihren Angriffen gehen die Neonazis zum Teil mit äußerster Brutalität vor und scheuen auch nicht den Einsatz von potenziell tödlichen Waffen wie Messern.


Rheinland statt AG Rheinland

Seit Frühjahr 2011 ist verstärkt zu beobachten, dass die regionale Neonaziszene unter dem gemeinsamen Label „Rheinland” in Erscheinung tritt. Dabei wird bewusst auf das Branding AG Rheinland verzichtet. Stattdessen wurde ein eigenes Corporate-Identity-Design entwickelt, das sich an der Dienstflagge der Rheinprovinz von 1919 bis 1945 orientiert. Mit derart gestalteten Fahnen, T-Shirts, Transparenten etc. soll versucht werden, die Herausbildung einer gemeinsamen Identität der regionalen Naziszene zu fördern. Auf überregionalen Demonstrationen tritt man seit dem Neonazi-Aufmarsch in Braunschweig am 4. Juni 2011 mit einem geschlossenen „Rheinland”-Block mit eigenem Fronttransparent auf. Der bewusste Verzicht auf das Logo bzw. die Internetadresse der AGR zugunsten des neuen „Rheinland“-Labels macht das gemeinsame Auftreten auch mit denjenigen lokalen Neonazigruppen einfacher, die sich bisher nicht der AG Rheinland zugehörig fühlten. So treten neben den Neonazis der AN Pulheim/Köln, der FNL, der NaSo Wuppertal und anderen AGR-Gruppen auch Aktivisten der Frontal National Bonn, KAL, FKK, der NPD Mettmann/Düsseldorf und des AB Mittelrhein auf Demonstrationen in einheitlicher „Rheinland“-Optik in Erscheinung. Beim AB Mittelrhein ist das neue „Rheinland“-Design mittlerweile sogar auf der Website integriert worden. Organisatorische Aufgaben im „Rheinland“-Block übernehmen unter anderem Kevin Koch aus Wuppertal, Moritz Schäfer und Matthias Herrmann aus Köln-Esch, Achim Müller aus Bonn, Felix Erdmann von den Freien Kräften Köln, Christian Häger vom AB Mittelrhein und Niklas Berr (FNL). Etwas seltener als früher lässt sich auf Aufmärschen der aktuell dienstälteste sichtbare Aktivist der FNL, Thomas Capitain, blicken. Bei zentralen Aufmärschen wie beispielsweise in Bad Nenndorf ist er aber dabei. Als Stammredner aus dem Rheinland greifen Sven Skoda (Düsseldorf), Kevin Koch und immer häufiger auch Niklas Berr und Manfred Breidbach (NPD Düsseldorf) zum Mikro.



Gemeinsame Praxis

Zeitgleich mit dem Wandel im öffentlichen Auftreten hat sich auch die politische Praxis der regionalen Neonazi-Szene verändert. Als Reaktion auf erfolgreiche Blockadeaktionen unter anderem in Dresden oder massiven antifaschistischen Widerstand wie beim Aufmarsch Anfang 2011 in Wuppertal versucht man nun verstärkt, Demos und Kundgebungen durchzuführen, die erst kurzfristig angemeldet werden und zu denen nicht öffentlich mobilisiert wird. Eine Gegenmobilisierung wird hiermit extrem erschwert, hinzu kommt die zunehmende Praxis der Polizei, Aufmärsche und deren Routen nicht öffentlich bekanntzugeben. Aktuelles Beispiel hierfür ist die neonazistische Mobilisierungstour für die Dortmunder Antikriegstagsdemonstration im September 2011 (siehe S. 36). Hier wurde unter anderem eine Busfahrt durch mehrere Städte des Rheinlands (Pulheim, Bonn, Bad Neuenahr, Leverkusen) organisiert. In den jeweiligen Städten fanden angemeldete Kundgebungen statt. Der Verzicht auf jede öffentliche Mobilisierung spricht einerseits für den hohen Vernetzungsgrad der regionalen Neonazi-Szene, der es möglich macht, auch innerhalb kurzer Zeit bis zu 100 Personen zu mobilisieren. Andererseits bedeutet die neue Strategie Abgeschlossenheit und noch mehr politische Isolation. Die Ansprache von SympathisantInnen und potenziellen neuen MitstreiterInnen wird so stark erschwert.


Fazit

Ob die Zahl militanter Neonazis im Rheinland größer geworden ist, lässt sich nur schwer einschätzen. Fakt ist, dass unter dem neuen Label „Rheinland“ eine stärkere Vernetzung stattfindet. Kurze offensive Auftritte in den Städten werden in letzter Zeit bevorzugt, doch durch fehlende öffentliche Mobilisierung bleibt man dabei unter sich. Scheinbar fühlen sich die Neonazi-Gruppen im Rheinland stark und sicher genug, um auf öffentliches Werben um UnterstützerInnen verzichten zu können. Schließlich entstehen durch die Öffnung der Vernetzung für neue Gruppen neue Ressourcen und organisatorische Möglichkeiten. Zumindest lässt die neue Taktik der „Rheinland”-Struktur und die behördliche Praxis antifaschistischen Gegenprotest kaum noch zu.

Ob die Unternehmungen unter dem neuen Label tatsächlich Erfolg haben, lässt sich bisher noch nicht beurteilen. Immerhin vermittelt es in der Szene das Gefühl einer homogenen und großen „Bewegung“. Dieses Gemeinschaftsgefühl ist vor allem für Kleinstgruppen mit wenigen Aktivistinnen sicherlich essentiell. Die Begeisterung, sich in die neue Rheinland-Struktur ein- und auch unterzuordnen, hat jedoch ihre Grenzen. Besonders bei der KAL und den FKK sind es einzelne, meist jüngere und aktivistische Neonazis, die in diesem Zusammenhang in Erscheinung treten, während sich das ältere Führungspersonal auffällig zurückhält. Schon jetzt ist abzusehen, dass spätestens bei der Frage nach dem Leitwolf im Rheinland ein erhebliches Konfliktpotenzial schlummert.


Die AutorInnen sind in der Antifaschistischen Aktion LEVerkusen [AALEV] und der Antifaschistischen Koordination Köln und Umland (AKKU) aktiv.

Der Artikel erschien in der Ausgabe #45 der LOTTA - antifaschistische Zeitung aus NRW, RLP und Hessen.