Immunität als Privileg?

Zu Strafverfahren gegen Linke-Politiker wegen Nazidemo-Blockaden in Dresden

Die Blockaden der Dresdner Rechtsextremisten-Demonstrationen haben juristische Folgen. Klar ist, daß zu Demonstrationen es selbstverständlich Gegendemonstrationen geben darf. Es geht auch nicht nur um Gewaltexzesse, die auf beiden Seiten es gab, in Frage steht die Rechtswidrigkeit von Blockaden legaler Demonstrationen.

Mit Strafverfahren überzogen wurden sogenannte einfache Bürger ebenso wie gewählte Politiker. Es ist eine politische Frage, ob dann Politiker, zumal linke, sich solidarisieren und selbst begehren, ebenso behandelt zu werden wie der ansonsten von ihnen oft beschworene einfache Bürger. Es ist eine juristische Frage, ob Politiker als gewählte Abgeordnete sich hinter Immunitätsparagraphen verschanzen dürfen oder müssen.

Die Linke in Thüringen schrie auf, als ihr Fraktionsvorsitzender Bodo Ramelow mit einem Strafverfahren konfrontiert und vom Landtag seine Immunität aufgehoben wurde. In der Parteipresse (UNZ Nr. 21/2011) meinte man, erst mal die Leser über den Grund für das Strafverfahren belügen zu müssen: „wegen seiner Teilnahme an den Demonstrationen“. Es geht aber nicht um die Teilnahme an einer Demonstration, sondern um die Blockade einer Demonstration. Sodann prangerte Ramelow selbst sein Verfahren als „Anschlag auf die parlamentarische Demokratie“ an. Entweder wünscht er sich ein Immunitätsverfahren, wie es in Italien gerade der neapolitanische Abgeordnete Nicola Cosentino genießt, den das Netz Berlusconis mit seiner Mehrheit vor der Aufhebung der Immunität schützt, welche die Justiz begehrt, die in ihm den Repräsentanten der Camorra in der Hauptstadt sieht. Oder Ramelow decouvriert (s)ein monarchisches Rechts-, Parlaments- und Demokratieverständnis.

Parlamentarische Demokratien kennen keine Unfehlbarkeit von Abgeordneten. Immunität ist kein Freibrief. Geschützt ist der Abgeordnete insbesondere dagegen, daß sein Abstimmungsverhalten oder seine Äußerungen in parlamentarischer Tätigkeit (also nicht etwa beleidigendes Ausrasten im Bekannten- oder Familienkreis) staatliche Sanktionen zur Folge haben. Die Regelung reflektiert, daß in der Entstehung der modernen Demokratie die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Verwaltung und Jurisdiktion auch eine soziale Staatsgewalt-Verteilung beinhaltete, wobei die Volksrepräsentation sich gegen die in anderen Staatssegmenten noch dominierenden überkommenen Kräfte erst durchsetzen mußte. Man bedenke: bei der Maifeier mußte ein Abgeordneter die „Festrede“ halten. In den Worten des Historikers und Politikwissenschaftlers Heinz Rausch („Der Abgeordnete – Idee und Wirklichkeit“): „Die verfassungsrechtliche Festlegung der Immunität kann nur aus ihrer geschichtlichen Bedeutung verstanden werden. Die Immunität diente dem Schutz des neu aufkommenden Teilmachthabers Parlament gegen die oft tendenziösen Verfolgungen der Exekutive im monarchischen Staat.“

Insofern war die Immunität auch nie ein Individualrecht des einzelnen Abgeordneten, auf das er im Einzelfall hätte verzichten können, sondern ein dem Parlament zustehendes Recht: „Ein solcher Verzicht ist ohne rechtliche Wirkung, denn es handelt sich hier nicht um ein Privileg des Abgeordneten, sondern um ein Privileg des Parlaments“, kommentierte Gerhard Anschütz die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Flankiert wird diese generelle Straflosstellung des genuin parlamentarischen Tuns (Indemnität, Rechtsbegriff „Unverantwortlichkeit“) dadurch, daß auch regelmäßig jede sonstige Strafverfolgung auf den Puffer der Parlamentshoheit trifft (Immunität, Rechtsbegriff „Unverletzlichkeit“), ein Verfahrenshindernis, das beseitigbar ist.

Das Abblocken von Strafverfolgung bedeutet keineswegs, daß damit das in Frage stehende Abgeordnetenverhalten per se nicht rechtswidrig sein könne; nur wird auch bei Rechtswidrigkeit die Verfolgung kanalisiert, der Strafanspruch auf das Parlament umgeleitet: an dieses ist er zuerst zu adressieren. Durch Parlamentsentscheidung kann dann durchaus Strafverfolgung gewährt werden.

Es geht also, wie ebenfalls bereits im Kommentar zur Reichsverfassung von 1919 Friedrich Giese feststellt, um das vom Willen des Abgeordneten unabhängige, „durch seine Initiative weder erreichbare noch verzichtbare, lediglich von der Entschließung des Hauses, dessen Interessen es dient, abhängige Vorrecht“. Zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland erläuterte Giese, daß der Wille des Abgeordneten „selbst unbeachtlich“ ist, daß die Genehmigung der Strafverfolgung zu versagen ist „bei überwiegendem Parlamentsinteresse vor dem Rechtspflegeinteresse“.

Aber worin sollte das Parlamentsinteresse bestehen, einen Abgeordneten davor zu schützen, daß er sich wegen eines Unfalls infolge einer Trunkenheitsfahrt, wegen Steuerhinterziehung, wegen Kinderpornographie oder wegen Gewalt gegen politische Gegner in einem rechtstaatlichen Verfahren verantworten soll?

So hat der Bundestag längst generell die Durchführung von Ermittlungsverfahren bis zur Anklageerhebung gegen seine Abgeordneten genehmigt, soweit es sich nicht um Beleidigungsverfahren politischen Charakters handelt (RiStBV Nr. 192).

In der auf Vorschlag der Linke-Vorläuferin SED gestalteten Landesverfassung Thüringens vom 20. Dezember 1946 war man Trägern des untergegangen Systems gegenüber nicht so tolerant wie jetzt der bundesdeutsche Rechtsstaat: Wer nostalgisch „Errungenschaften“ des alten Systems propagierte, konnte aus dem Landtag ausgeschlossen, wegen solcher Systemnähe konnte ihm mit Zweidrittelmehrheit gemäß Artikel 24 das Mandat entzogen werden.

Zu Zeiten, als Ramelow einst seine Hochzeitsanzeige in die „uz“, die Zeitung der ideologisch und finanziell an der Nabelschnur der SED hängenden westdeutschen kommunistischen Partei, schaltete, hätte er mal nach einem Buch eines gebildeten, alten DKP-Genossen und Juristen greifen sollen: Von Wilhelm Raimund Beyer erschien bereits 1966 im Luchterhand-Verlag „Immunität als Privileg / Eine verfassungsrechtliche Studie gegen die Abgeordneten-Immunität“. Darin legt W. R. Beyer dar, daß die Berufung auf Abgeordnetenimmunität, die im Kaiserreich einen Schutz gegen „oben“ bewirkte, in der Weimarer Republik sich nach „nebenan“, gegen konkurrierende Abgeordnete richtete (im Fall Traub nach dem Kapp-Putsch erzwangen die Linke und die Mitte die Aufhebung der Immunität), und daß sie nun heute, unter Geltung des Bonner Grundgesetzes, einen Immunisierungsversuch nach „unten“, gegen das Volk, bedeutet. Sein Hauptargument steckt in einem Zitat aus einem allseits gern unterschlagenen Reichsgerichtsurteil: „Ob derartige Exemtionen noch einen vernünftigen Sinn haben, ob sie mit den Grundsätzen der Rechtsgleichheit und den Bedürfnissen der Rechtsordnung verträglich sind, darf mit Grund bezweifelt werden“  (RGSt 22, 379ff.).

Obgleich also in der „Dresden“-Aufarbeitung insoweit juristisch alles klar ist, bleibt politisch doch einiges verworren. Etwa ob Linke-Fraktionschef Ramelow, der 2010 seinen widerspenstigen Fraktionsabgeordneten Thomas Hartung, der sich für mehr Demokratie einsetzte, zu zähmen versuchte, nun auch seine Fraktionskollegin Katharina König drangsaliert, die, bei einer thüringisch-sächsischen Linke-Beratung in Dresden, implicite weniger Demokratie forderte – indem sie den Schwarzen Blocks, der nicht auf Demokratie, sondern Gewalt setzt, zur Sturmabteilung der Linken promovierte („daß die dazugehören, daß die ‘ne ganz wichtige Aufgabe haben“, so König im „heute journal“ vom 14. Oktober 2011, in der ZDF-Mediathek noch anzuschauen)?

[Erstveröffentlichung: Oktober 2011]
post scriptum XII/2011:

 

Erinnerung an das Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre nicht nur in der italienischen, sondern auch in der deutschen Linken erreichte Reflexionsniveau:

 

Pier Paolo Pasolini („Ich weiß sehr wohl, wie widersprüchlich man sein muß, um wirklich konsequent zu sein“) widersprach 1974 (in: „Freibeuterschriften – Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft“, Berlin 1978) seinem alten Mitstreiter Italo Calvino, der wünschte, keine „jungen Faschisten von heute“ kennenzulernen, mit der Begründung, „der Wunsch, nie junge Faschisten kennenlernen zu wollen, ist eine Lästerung, denn wir sollten, im Gegenteil, alles tun, um sie zu finden und mit ihnen zu sprechen. Sie sind nicht vom Schicksal auserwählte und prädestinierte Ausgeburten des BÖSEN: Sie sind nicht geboren worden, um später Faschisten zu werden. Niemand hat ihnen, als sie halbwegs erwachsen und im Stande waren, sich zu entscheiden – aus Gründen und Zwängen heraus, die wir nicht kennen -, rassistisch das Brandmal des Faschisten aufgedrückt. Was einen jungen Menschen zu dieser Entscheidung treibt, ist eine Mischung von grenzenloser Verzweiflung und Neurose, und vielleicht hätte eine kleine andersartige Erfahrung in seinem Leben, eine einzige simple Begegnung genügt, um sein Schicksal anders verlaufen zu lassen.“ (Hervorhebung im Original)

 

Bereits 1968 hatte Pasolini mit seinem Gedicht „Die KPI an die Jugend!!“ (in: „Ketzererfahrungen – »Empirismo eretico« Schriften zu Sprache, Literatur und Film“, München/Wien 1979) gewalttätigen Linksradikalen ins Stammbuch geschrieben:

 

„Die Journalisten aus aller Welt (mitsamt

denen vom Fernsehen)

lecken euch (wie man, glaube ich, immer noch sagt in der Sprache

der Uni) den Arsch. Ich nicht, Freunde.

Ihr habt Gesichter von Vatersöhnchen.

Die rechte Art schlägt immer durch.

Ihr habt denselben bösen Blick.

Ihr seid furchtsam, unsicher, verzweifelt

(ausgezeichnet!), aber ihr wißt auch, wie

man arrogant, erpresserisch und sicher ist:

kleinbürgerliche Vorrechte, Freunde.

Als ihr euch gestern in Valle Giulia geprügelt habt

mit den Polizisten,

hielt ich es mit den Polizisten!

[…] eure Schmeichler

(auch die kommunistischen)

sagen euch nicht die banale Wahrheit: daß ihr eine neue,

idealistische Sorte von Mitläufern seid, wie eure Väter“

 

Ceterum censeo

Dresden "nazifrei", i.e. lingua tertii imperii