Demokratischer Kapitalismus?

Über das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus sinnierte unlängst Dirk Kurbjuweit im Spiegel. Unter dem viel sagenden Titel „Rückkehr der Ruchlosen“ waren da manche Wahrheit, viel Halbwahrheiten mit Widersprüchen und auch Irrtümer niedergeschrieben. „Rettet den Kapitalismus!“ hätte der Essay auch betitelt werden können. Immerhin mehren sich ja die Stimmen, welche das heutige System in Frage stellen. Laut ARD-Deutschlandtrend sagten unlängst 51 Prozent der befragten Deutschen, die Wirtschaftsordnung müsse grundlegend verändert werden – was natürlich noch nicht bedeutet Sozialismus „ante portas“.
Der Spiegel-Autor verneint eine „klare Alternative für Sehnsüchte nach einem anderen System“, denn der Sozialismus sei gescheitert und ein dritter Weg liege derzeit außerhalb der Realität. Mit dem Fall der Mauer sei der Kapitalismus von seiner größten Angst – vom Sozialismus „unter Verlust der Eigentumsrechte“ überrollt zu werden – befreit worden. Daher brauche er die demokratischen Staaten nicht mehr für seine Sicherheit. Der – von Kurbjuweit personifizierte – Kapitalismus habe, anders als der brave Bürger, wieder starke Alternativen zur Demokratie. Das seien „autoritäre Staaten wie China, Vietnam, Russland, Kasachstan, die zwar noch keine entwickelten Rechtssysteme bieten, aber dafür den Kapitalismus nicht mit vielen Moralvorstellungen hemmen.“ Der könne jetzt wieder ruchlos sein, Millionen chinesischer Wanderarbeiter ausbeuten, Waren zu Billigpreisen für die wohlhabende Welt unter unmenschlichen Bedingungen herstellen lassen.
Dem Spiegel-Leser sollen wohl die Tränen kommen! Verdanken denn die Industrieländer ihren Wohlstand nicht schon immer zu einem Großteil dem nichtäquivalenten Austausch, sprich: der Ausbeutung der übrigen Welt? Sind wir im Westen denn nicht längst wieder zu Jägern und Sammlern geworden und mitschuldig am Elend der übrigen Welt – durch unsere Jagd nach Schnäppchen und auf der Suche nach Punkten, Gratifikationen, Jobs, Ideen, die „sich rechnen“? Wo sind die besser verdienenden „Demokraten“, die ihr nicht unmittelbar zum Wohlleben benötigtes Einkommen – statt es in sich selbst vermehrende „Wertpapiere“ zu verwandeln – den Bedürftigen dieser Welt zur Verfügung stellen? Wer von ihnen verzichtet freiwillig auf auch nur einen einzigen Prozentpunkt an Zinsen oder Dividenden? Und wer oder was ist das: „der“ Kapitalismus, der sich mal der Demokratie und mal des Totalitarismus bedient, mal sozial-marktwirtschaftlich und mal „ruchlos“ ist?
Und was hat Kapitalismus überhaupt mit Demokratie zu tun? Kurbjuweit tut sich mit dieser Frage schwer, bemüht die Freiheit, die Würde des Staatsbürgers als Souverän und die „christlich-aufgeklärte“ Moral sowie die Gleichheit vor dem Gesetz einerseits und die Freiheit wirtschaftlichen Handelns und die ihr entspringende Ungleichheit andererseits, um schließlich zu der Schlussfolgerung zu gelangen: „Demokratie und Kapitalismus haben also eine relativ kleine Schnittmenge. Von den Freiheiten braucht der Kapitalismus die Freiheit zum Eigentum und zum wirtschaftlichen Handeln. Er braucht vom Rechtsstaat einen verlässlichen Rahmen für Geschäfte. Die moralischen Ansprüche der Demokratie können dagegen lästig sein, genauso die Bestrebungen, die Ungleichheit nicht ausufern zu lassen.“
Damit hat der Spiegel-Autor dem Kapitalismus ganz allgemein eine mögliche demokratische Legitimation zugesprochen und einer Unterscheidung zwischen „demokratischem“ und „ruchlosem“ Kapitalismus den Weg geebnet. Dass dem Kapitalismus immer die mehr oder weniger offene Diktatur des Geldes in der menschlichen Gesellschaft eigen ist, wird aus durchsichtigen Gründen übersehen. Denn sonst könnte ja nicht die Demokratie mit dem Kapitalismus versöhnt und so dem wieder zunehmenden demokratischen Wunsch nach einer Veränderung des Wirtschaftssystems der Wind aus den Segeln genommen werden. Den Herrn K. ficht nicht an, dass ökonomische Macht immer auch politische Macht bedeutet, weil der Staat, auch der „demokratische“, entgegen allen bürgerlichen Beteuerungen, eben doch „das Machtinstrument der jeweils herrschenden Klasse“ ist, wie wir dereinst einmal lernten. Und wenn er nicht umhin kommt, einzugestehen, dass im „angstfreien Kapitalismus … die Finanzinstitute einflussreicher geworden“ sind und „sich eine Parallelwelt geschaffen haben, in der sie mit merkwürdigen Finanzprodukten einen sinnlosen Handel betreiben, geleitet allein von der Gier“, so ist dies halt „ruchloser Kapitalismus. Er lässt die Menschen körperlich unversehrt, beutet nicht Kolonien oder Arbeiter aus, er handelt gleichwohl ohne Moral, ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl, auf die Demokratie.“ Und woher kommt das? „Ein großer Fehler der Demokratien war, sich dem Kapitalismus anzubiedern, ihm die Zügel zu lockern. […] Und fast alle Demokratien haben sich durch exzessive Schuldenpolitik in die Hände der ruchlosen Kapitalisten begeben.“
Zu dieser halben Wahrheit gehört aber wenigstens folgende Ergänzung: Die Staatsverschuldung war – bei etwa in Deutschland zeitparallel immer üppigeren Steuergeschenken an das Großkapital, die natürlich der Öffentlichkeit als zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Welt unumgänglich verkauft wurden, – nur der demokratisch-opportunistische Weg zur Finanzierung staatlicher Zielsetzungen und Aufgaben. Er belastete die privaten Haushalte – egal ob arm oder reich – zunächst nicht durch eine entsprechende Besteuerung. Erst im Zuge der jüngsten Finanzkrise mit ihrer Entwicklung zur Staatsschuldenkrise wurde eine Lösung des Problems (das nicht nur die so genannten PIG-Staaten, sondern die gesamte EU einschließlich Deutschland und darüber hinaus praktisch die ganze „demokratische“ Welt betrifft) unaufschiebbar. Und die jetzigen Sparlösungen fallen – entsprechend den realen „demokratischen“ Machtverhältnissen – zu Ungunsten der ohnehin schon Ärmeren dieses Gesellschaftstyps aus.
Das Problem sei, meint Kurbjuweit, dass der Kapitalismus Alternativen zur Demokratie habe, aber die Demokratie nicht zum Kapitalismus. Dieser simplen Behauptung folgt gleich die ebenso dreiste zweite als Totschlagargument gegen alle Veränderungswilligen: Der Sozialismus müsse „die Freiheiten drastisch beschränken, damit er leben kann“. Allerdings, auch der Kapitalismus zerstöre die Demokratien, wenn er sich so aufführt wie zuletzt. Die Bürger würden nicht verstehen, warum den Banken ständig geholfen werde, wo doch die „ruchlosen Sparten“ der Banken ein großer Teil des Problems seien. Sind sie das wirklich?
Das Problem besteht doch wohl seinem Wesen nach darin, dass wir es schon lange mit einer Diktatur nicht mehr einer ganzen herrschenden Klasse, sondern nur noch einer global agierenden Finanzoligarchie zu tun haben, die zwar, so Max Otte, keinen Masterplan besitzt, aber dennoch ihre Interessen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verfolgt. Seit Jahrzehnten beherrscht sie mehr und mehr alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Und zu ihren wichtigsten Mitteln gehört eine instrumentalisierte Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie, die in ihrem Wahrheitsgehalt und in ihren geradezu absurden Konsequenzen kaum noch von jemandem durchschaut wird (auch nicht von Politikern und selbst von Fachleuten nicht – so die Einschätzung von Altbundeskanzler Helmut Schmidt!). Zu den Opfern solcher „wissenschaftlicher“ Meinungsbildung sollte man gerechterweise auch Dirk Kurbjuweit zählen, der einmal Volkswirtschaftslehre in der Altbundesrepublik studierte und nun keinen besseren Rat zu geben weiß als: „Auf keinen Fall … (sollten) sich die europäischen Demokratien auf einen Wettlauf mit den autoritären Staaten um die größte wirtschaftliche Freizügigkeit einlassen. Damit gäben sie ihre moralische Grundlage und ihre Würde auf, langfristig ihre Existenz. […] Sie dürfen nur den Kapitalismus zulassen, den sie vertragen können, sie müssen Regeln setzen, sie müssen die Gier beschränken, zum Beispiel durch eine Finanztransaktionssteuer und eine strengere Regulierung der Banken. […] Damit wird der Kapitalismus in Europa nicht aufgegeben.“ Und Kurbjuweits Hoffnung wäre erfüllt.