Aus Deutschlands hohler Mitte oder Vom Dreckschweinfest zum großen Aufstand

Volker Brauns neue Erzählung >Die hellen Haufen<

DAS ARGUMENT 295/2011: 817-823

 

Dieter Schlenstedt

 

Aus Deutschlands hohler Mitte oder Vom Dreckschweinfest zum großen Aufstand

Volker Brauns neue Erzählung Die hellen Haufen[1]

 

Die heruntergewirtschaftete »Vorstadt Schweineöde«, Berlins Schöneweide, gab den Spielort her für eine der ersten Geschichten, die sich Volker Braun aus den gesellschaftlichen Umwälzungen nach 1989 aufdrängten. Erzählt wird von Vorgängen, in denen die aus der DDR herkommenden Industriebetriebe als »herrenloser Besitz« der Treuhand unterstellt und »Interessenten« überlassen wurden, die »die Kaufsumme lösen« (1996/2002, 113) konnten. Oder genauer, da es des Autors »Natur« (2008, 14) ist, am einzelnen zu hängen: Es werden Bilder gegeben von vier Arbeitern, die in die Gefahr geraten, mit der Achtung, welche ihnen früher, in ihrer privilegierten Position als Werkzeugmacher, geschenkt worden war, auch die Selbstachtung zu verlieren. Der in der Marktfreiheit erzwungene Identitätsverlust von Leuten aus einer »arbeiterlichen« (Engler) Gesellschaft, das viele betreffende Erleben eines jähen, aber als anhaltend angelegten Überflüssigwerdens gewinnen hier Gestalt. Ihre Gültigkeit konnte von Literaturbeobachtern, die auf ganz andere Darstellungen der sogenannten Wende scharf waren, kaum bemerkt werden.[2]
Ein Dezennium später bildete die Niederlausitz den Hintergrund weiterer Geschichten, die Braun den Jahren grundstürzender Geschichte ablas. Ruhig rauchend liegt diese Landschaft da. Die Arbeit ist durch sie hindurchgegangen, sie hat es hinter sich und ist von Mannschaften und Maschinen verlassen: Nur »Halden, Wüstungen, wiederbewachsene Böden sieht man, das Endbild großer Zeiten« (2008, 13), einen Bezirk zugleich, in dem die Natur sich das Land zurückholt, eine Rekultivierung beginnt, die wiederum alles verwandelt. Vielleicht aber nicht oder in sehr merkwürdiger Art den Meister Flick aus Lauchhammer, eine Figur, in der uns ein früherer Experte für alle möglichen Havarie-Einsätze vorgestellt wird, ein »Durchreißer«, welcher sein ganzes Leben mit Arbeit, »seinem obersten Lebensbedürfnis«, zugebracht hat. Die will er nun, im Zuge der sozialökonomischen Veränderungen sogleich entlassen, mit einer »wahren Sucht und Besessenheit« (2008, 15), als ein zurückgekehrter Don Quichotte, wieder für sich erzwingen. Dass solches Verhalten immer zu Zusammenstößen mit den neuen Verhältnissen führen muss, bringen die achtundvierzig komisch-bitteren Stories zu den Schicksalen dieses Ritters von der traurigen Gestalt vor Augen.

Volker Braun bleibt auch in seiner jüngsten Arbeit bei dem Thema, das ihn schon am Anfang seines Weges, in der Erzählung »Der Schlamm« (1959), im Stück »Die Kipper« (1965) beschäftigte, bei den Erfahrungen von Arbeitern, Angehörigen einer inzwischen aus dem öffentlich gemachten Bewusstsein und vermutlich auch beinahe aus dem Eigengefühl der Beteiligten verschwundenen Klasse. In »Deutschlands hohler Mitte« (41) spielen nun die Geschichten unter dem Titel »Die hellen Haufen«. Das südöstliche, südliche Harzvorland ist mit dieser (von Wilhelm Bartsch erfundenen) Metapher aufgerufen, der sachsen-anhaltinische und thüringische Umkreis von Hettstedt bis Merkers. Ernüchternd-Polemisches schwingt in der Rede mit: Wohl wird einmal die holde Gegend, die Goldene Aue, beschworen, der eigentliche Horizont der vorgestellten Ereignisse aber ist eine in bald tausendjähriger Arbeit geschaffene Industrielandschaft – geprägt von den weithin sichtbaren Abraumhalden der Kupferbergwerke und des Kaliabbaus, mächtig mitunter bis in die Dörfer dringend und bewachsen mit seltsamen, von giftigen Schwermetallablagerungen hervorgetriebenen Pflanzen; gekennzeichnet durch offene oder zubetonierte Mundlöcher der Gruben und Seilfahrten, die in die Tiefe führen, zu den von den Naturbewegungen und Produktionen zurückgelassenen unterirdischen Gängen und Höhlen, welche die Oberflächen auf unabsehbar verzweigte Art unterkellern.
Einen der Brennpunkte der neuen Erzählung gaben die Ereignisse her, die sich 1993 im Umkreis von Bischofferode abspielten, in der mit dem Kaliwerk »Thomas Müntzer« bekannt gewordenen Gemeinde kurz vor der ehemaligen Grenze nach Niedersachsen. Der in der Erzählung gesetzte Name »Bitterrode« hält diesen Bezug fest und erweitert ihn zugleich durch die veränderte Metapher. Gleich nebenan, in der Ortschaft Holungen, lässt Braun den Untertagearbeiter Berndt und die ihn widerwillig treu unterstützende Frau Barbara wohnen, zwei der Protagonisten der Geschichten vom Protest gegen die Entscheidungen der Treuhand, die Begleitmusik der Politik, die Maßnahmen der Privatisierung, gegen den bis heute geheim gehaltenen Kali-Fusionsvertrag[3], in dessen Vollstreckung das besagte Werk geschlossen wird. Erzählt wird von Aktionen der Besetzung des Schachts, vom Gebet unter Tage, von einer Kreuzwegandacht, vom Besuch beim Papst, von einem durch den Bischof angeführten Zug an die nun offene Grenze (»Im Eichsfeld waren die Demonstrationen Prozessionen«, 12), an der die von drüben nun Schilder zu lesen bekommen, auf denen die Warnung steht »KEIN KOLONIALGEBIET« (12). Und weiter erhalten wir Bilder vom Hungerstreik der Bischofferöder und schließlich von ihrem Marsch nach Berlin, von den Auseinandersetzungen mit den Regierungen und der Polizei. Literarisch zu Wort kommt ein bedeutender Versuch zu tun, was die vorangegangene Zeit den Menschen abgewöhnt hat, in einen Arbeitskampf einzutreten, Widerstand gegen Ungerechtes und Unrichtiges zu leisten, und das Scheitern solchen Bemühens. Wollten die Menschen »das Alte zurückhaben?«, fragt der Erzählerkommentar in anderem Zusammenhang, »Nein! Schon indem sie kämpften, sagten sie sich davon los.« (83)

Das Mansfelder Land gibt einen zweiten Brennpunkt des erzählten Geschehens her, darin die Ansiedlung Hergisdorf, wo andere Protagonisten zu Hause sind, Henning, seine Frau Hanna und ihr Sohn Martin. »Heringsdorf« heißt die Ortschaft in der Erzählung – mit einer Anspielung auf den im dort gelegenen Koenen-Schacht gefundenen Kupferhering. Wir hören von Henning, einem Reviersteiger, der, ein »Zuhälter der Zukunft« (29), im Zuge der Privatisierung der Mansfeld AG zuerst noch bei Demontagearbeiten in der ihm vertrauten Schachtanlage beschäftigt ist. Da ihm alles, auch seine Frau Hanna an einen Mann aus Göttingen abhanden kommt, verliert er seinen Stolz und beteiligt sich nun bereitwillig am Plattmachen des Landes, an der Krepelei beim Verwerten der Abraumhalden. Er ist einer von den Mansfeldern, die wehrlos zusehen, wie man auch viele der ihnen früher dienenden sozialen Einrichtungen vernichtet, einer von denen, die im Gefühl für die Unterschiedlichkeiten der verschiedenen Industriezweige, im Wissen um das schon früher eingeleitete Ende des Kupferbergbaus im Land nicht mit den Kali-Leuten marschieren. »Hier war nichts mehr zu gewinnen«, erklärt der Erzähler, »wie sollten sie darum kämpfen? Wie konnten sie aufbegehren in ihrem verlornen Revier. [...] Bitterrode war überall, aber das Mansfeld verschwand. Wo sollten sie alle hin?« (30-32). Eine »neue besondere Wut« beseelt dabei die in diese Lage Versetzten, ein diffuser »kalter Haß« (48) steigt auch in Henning hoch. Die macht ihn zu einem der Schläger in der Erzählung von einem Pfingstfest, da, wie es die Tradition in Hergisdorf und Umgebung verlangt, die Winterdreckschweine mit den Frühlingsläufern um die Herrschaft zu kämpfen haben, der Spaß aber nun in einen gewalttätigen Streit ausartet »zwischen dem armen, grauen, lausigen Säkel und der neuen hellen geleckten Zeit« (48).

Das Dreckschweinfest gibt es wirklich an dem genannten Ort – so wundersam erfunden es wirken mag. Und das gilt auch für alle die unpersönlichen Umstände und Abläufe in den vorgestellten Geschichten. Ein riesiges zeitgeschichtliches Material, das unmöglich allein aus dem Langzeitgedächtnis Brauns kommen kann, geht in die hingetupften Szenen, die lakonisch verkürzenden Sätze der Erzählung ein. Der Autor bezieht sich bis in Details auf wirkliche Gegebenheiten und Vorkommnisse, auch wenn er weiß, als wie veraltet solcher Realismus im neueren Literaturdenken abgetan werden könnte.
»Wie ein Narr«, so erklärt selbstironisch der Erzähler, der sich in die Geschichten immer wieder einmischt, beginnt er in den ersten zwei Kapiteln der Erzählung »mit den Fakten« (9) des ihn interessierenden Transformationsprozesses in Mitteldeutschland. Die Büchner-Preis-Rede von 2000 bereits offenbarte, dass die hier zu beobachtenden Ereignisse Braun stark bewegten. In einem grandiosen Bild erinnerte er schon damals an das Aufbegehren der Bischofferöder, an ihren gewagten, doch misslingenden Streik, ihren tapferen, aber isoliert bleibenden Zug zur Treuhandanstalt in Berlin. Doch bleibt er jetzt dabei nicht stehen, er verlässt in der neuen Erzählung, so heißt es, »das Feld der Fakten«, er öffnet sich für den »unermesslichen Bereich der Erfindung« (53). Einbildungskraft verschärft die Konflikte, lässt Berndt beim Hungerstreik umkommen und einen »Zug voll Trauer und Wut« von Hunderten Empörten (53) aufbrechen, »munitioniert« die Geschichte und gebraucht das Material, »einen Kampf zu fintieren« (56), in dem nun nicht mehr nur die eine Seite »Krieg führt« und die andere stillhält (9). Ein drittes Kapitel erzählt (oder, wie es der Erzähler in schöner Verdrehung will, »berichtet«) von einem »Aufstand [...], der nicht stattgefunden« hat, der »seine Wahrheit hat, nicht weil er gewesen wäre, sondern weil er denkbar ist« (9).

Wie kann das sein bei dem Realismus, der bei Braun arbeitet? Das verbindende Scharnier zwischen den entgegengesetzten Abschnitten der Erzählung, zwischen der Realitätsbindung der beiden ersten Kapitel und der Imaginationsfreiheit des letzten, ist nicht poetische Willkür, sondern eine Philosophie, die als Wirklichkeit mehr annimmt als das, was der Fall war oder ist, was sich ereignet oder ereignet hat. Die Tatsachen transzendierend, rechnet sie auch das Feld des Möglichen zum Erwirkten, Wirkenden, darin das nicht aus seiner Potenzialität Erlöste, das Missglückte, »das Nichtgeschehene, Unterbliebene, Verlorene [...]. All das Ersehnte, nicht Gewagte, und die alte Lust zu handeln« (9). Sie fragt danach, was werden könnte, wenn zu den Gegebenheiten weitere Bedingungen hinzuträten, die aus dem angelegten Möglichen manifest Wirkliches machen. Was so die Gegenwart vorwärts treibt und aus der Vergangenheit treibend in das Heute ragt, bindet in solchem Denken das Interesse.
Man wird diese Richtung im Nachdenken Volker Brauns immer wieder entdecken können. »Wir sind in dem Raum, wo die Interessen am Werk sind, das grobe und feine Zeug, woraus Zukunft gemacht wird«, so heißt es in einer Rede von 2010. »Was immer wird, es wühlt im Hier und Jetzt. Die Gegenwart zeichnet dafür: verantwortlich. [...] Auch die Vergangenheit hat genug liegengelassen, rostige Probleme, stinkende Konflikte, all das Unerledigte, Unabgegoltene, von einem Milleniumsplan in den nächsten geschleppt. Das Feld der Unterdrückung, die nie recht aufgegangene Gerechtigkeit. Es stehen noch Barrikaden herum für die virtuelle Empörung. Da können die Toten zur Hand gehen.« (2010, 12; 2011, 10f)

Bloch wirkt hinein in diese Überlegungen. Schon in Brauns Skizze »Die Geschichte vom schwarzen Berg« heißt es: »›Die Geschichte wiederholt sich nicht, doch wo etwas nicht Geschichte wurde und Geschichte nicht gemacht hat, wiederholt sie sich durchaus‹, sagte Bloch, was ich (der Skizzenschreiber Volker Braun) eben darum, wiederhole.« (2004, 101) Bloch ist es auch, den der Autor mit dem Motto seiner Erzählung in Anspruch nimmt: »Was wir nicht zustande gebracht haben, müssen wir überliefern.« (7) Der Verfasser der vorliegenden Rezension kennt Blochs Werk nicht gut genug, um Auskunft geben zu können, ob dieser Satz wortwörtlich von dem genannten Philosophen stammt, er kann aber doch sagen, dass hier eines von dessen Grundmotiven aufgerufen wird. Bloch wollte, überzeugt, dass es Zukunft in der Vergangenheit gibt, die Trennung der Kategorie Tradition von der Kategorie Utopie beenden und dachte, dass »noch nicht Ausgereiftes aber sehr gut Gemeintes, [...] als ein Aufruf, ein Postulat« wirken kann, »das uns aus der Vergangenheit uneingelöst, aber auch unabgegolten und in jedem Falle verpflichtend entgegenkommt« (1966/1978, 291). Er suchte die Momente auf, »wo etwas gemacht wurde und noch gärte und abgebrochen wurde, nicht zu seiner vollen Reife, zur Vollendung kam« und so eine Affinität »zu dem Werdenden, dem Heraufkommenden, dem Nichtvollendeten, dem Gestörten, dem durch äußere Umstände vor allem Mißratenen, dem Unabgegoltenen« hat (294).

Es erstaunt so nicht, dass Braun den Aufstand in seiner Phantasie, die aus historischen Möglichkeiten imaginierte Realitäten aufsteigen lässt, nach dem Muster und mit Elementen früherer Kämpfe und Niederlagen gestaltet: »Reserven liegen in Mitteldeutschland gebunkert seit der Märzaktion 1921. Insonders das Mansfeld bewahrte das Andenken, wo Max Hoelz die Arbeiter bewaffnet hatte und die gesamte Region bestreikt worden war; viertausend eingebuchtet, viere zum Tode verurteilt. Und schon vor vierhundertsiebzig Jahren die Bauernhaufen hatten auf die mansfelder Knappen gesetzt.« (56f) Der Titel »Die hellen Haufen« und der Auftritt eines kampfbereiten »Sächsischen Haufens« (82), eines »Sangerhäuser«, eines »Hallehaufens« (62, 74) öffnet den Bezug der Erzählung auf die Gruppen der Aufständischen im deutschen Bauernkrieg 1525, auf des Florian Geyers »Schwarze Haufen«, auf den »Hellen lichten Haufen« des Götz von Berlichingen. Bis in die Gegenwart aktuelle Sätze aus Thomas Müntzers »Fürstenpredigt« (50) und der »Hochverursachten Schutzrede« (68) sind der Erzählung einmontiert.
Vor allem aber wird eine Szene poetisch konstruiert, da in einer verborgenen Höhle, in einem »ungeheuren leuchtenden Gewölbe« (63) ein »Treffen der Brigadiere« (61) stattfindet. Die »Wortführer«, die Abgesandten der verschiedenen Haufen, wollen »gemeinsame Forderungen formulieren« (62), die aus dem Protest der Einzelnen eine gemeinsame Aktion machen können. Man einigt sich darauf, dass das Programm den Namen »Mansfelder Artikel« tragen soll. Die »12 Artikel [...], die die schwäbischen Bauern in Memmingen abgefasst hatten« (66), sind damit ins Spiel gebracht, als ein Vorbild für etwas »Greifbares« ohne »großen Summs«, als ein historisches Produkt, für dessen Sätze sich moderne Äquivalente aufdrängen: Ein Mann, der anspielungsreich »Mintzer« heißt – als theoretisch Fragender durchgeistert er die ganze Erzählung –, liest, wo »vom Großzehnt, von den Diensten, vom Frevel die Rede« ist, »mühelos Profi t, Leiharbeit, Steuerhinterziehung« (66). Und so kommt man diskutierend und keineswegs ohne bleibende Meinungsverschiedenheiten auf »DIE MANSFELDER ARTIKEL von den gleichen Rechten aller« (69). »Die historische Rückerinnerung«, die auch die Niederlage der Bauern in Frankenhausen einschließt, zeitigt unter den »Geschichtsbewussten« eine »dumpfe Wut; als hätten sie einem jahrhundertealten Raubzug ein Ende zu setzen« (84).
Recht betrachtet, handelt es sich bei der Neufassung der 12 Artikel um mehr als um einen feinen literarischen Einfall, der auf Folgen nicht geprüft werden soll. Der Verfasser des Vorliegenden gesteht, dass ihm beim Lesen dieser Passagen der Wunsch überfiel, die heutigen Linken aller Couleur könnten die zwölf Formeln finden, die ihre Bewegung verdeutlichen und über die Empörung hinausführen.
Soll man wieder unter der Losung »KEINE GEWALT« vorgehen? »Würde das Zauberwort ein zweitesmal wirken oder wie ein Witz, den man kennt, seine Kraft verlieren?« (88) In Situationen, da einem Gewalt geschieht? (95) Das sind Fragen, die in der herbeiphantasierten Bewegung gestellt, nicht aber eindeutig beantwortet werden: »Einer aus dem Vogtland, Braun (Figur eines Ahnen des Autors, wie aus der Erzählung »Der berüchtigte Christian Sporn« erfahrbar ist) rief im Jähzorn GEWALT, GEWALT, und es war nicht klar, wollte er sie konstatieren oder ausrufen.« (96) Soll man wieder unter weißen Fahnen (88) marschieren oder, angesichts der Toten, in den eigenen Reihen »eine rote Fahne« (94) mitschleppen? Wie soll man die Sache von dem verlorenen, verscherbelten Eigentum verstehen?

Da ist so ein gewisser Finger, der wie Mintzer durch den Text geistert, in Bitterrode die Leute auffordert, ihren »Anteil« (16) am Volksvermögen zu verlangen, im Mansfeldischen ganz vergeblich an den Plan erinnert, jedem Bürger seinen Anteil am Volkseigentum zu beurkunden – als Pfandbrief, dessen Rendite die nicht mehr zu subventionierenden Brot- und Bierpreise ausgleichen könnte, die die Belegschaften in Stand setzen könnten, »ihre Betriebe zu kaufen« (34). Es ist dieser Finger, der in der Zeit des imaginierten Aufstands, im »Torpedokäfer« (einem Lokal, das Freunden der Anarchie in Berlin wohl bekannt ist) mit anderen zur Beratung zusammensitzt. Mit Heise, Geist und Mintzer, »Vordenkern [...], die nie zum Zuge kamen, weil sie nachdachten, die pluralen Marxisten und Theoretiker der Praxis, die mit Hammer und Sichel philosophierten« (58), die, geheilt von den Utopien, versuchen, die Sachen, wenn schon nicht in den Griff, so doch auf den Begriff zu bringen. Sie sinnieren über die »Eigentumsfrage«, den Unterschied zwischen Staatseigentum und Volkseigentum, über den Staat und das Volk, die Verwandlung des unverkäuflichen Volkseigentums in verkäufliches Staatseigentum, über die »verbotene Losung« »Volkseigentum plus Demokratie« (60f), die von Volker Braun selbst stammt.
Novalis’ »Bergmannslied« aus dem Roman Heinrich von Ofterdingen kommt in der Erzählung vor (29, 35, 96), Goethes Gedicht »Eigentum« (87), Fontanes Meinung zum Eigentum als Hauptsache der praktischen Leute (58f) und zur Farbe Rot als Haupt- und Grundfarbe aller Geschichte (59), Brecht mit der »Kinderhymne« und anderen Texten in allerhand Verdrehungen; Tucholsky mit seiner Ansicht, dass ein Volk nicht untergeht, es nur verlausen und sich umgruppieren kann (73). Es ist unmöglich, die gedrängten Zusammenhänge der Braunschen Erzählweise auf wenigen Seiten zu entfalten. Und das gilt ähnlich auch für die Vielfalt der Realitätsverweise, die bei aller Phantastik seiner Erfindung mitgegeben sind.
Mit leichter Hand weisen z.B. die Figuren »Heise« (60) und »Geist« (59) auf Züge historischer Personen wie die des Philosophen Wolfgang Heise und des Literaturbegleiters Peter Geist, oder die schrägen Äußerungen eines »Althistorikers Meier« (71) auf die von Hermann Lübbe übernommenen Theorien des wirklichen Christian Meier. Und so kann die Erzählung auch dem Teusch vom Vorstand der Kali und Salz AG oder dem Investor Peine die angestammten Namen lassen, zumal die sprechend genug sind. In anderen Fällen halten Namensvariationen Persönlichkeitszüge und Bewertungen wirklicher Menschen parat. So erinnert etwa »Hilde Brand« (36 u.ö.) an die Resolutheit von Regine Hildebrandt; »Schufft« (41 u.ö.) zeigt auf Rede- und Verhaltensweisen, die dem berüchtigten Klaus Schucht vom Vorstand der Treuhand und ab 1995 Minister in Sachsen-Anhalt zuschreibbar sind; hinter der »Treuhand-Oberin Pleuel« (71) steht selbstverständlich Birgit Breuel; »Landvogt Vogt« (41 u.ö.) lässt an den thüringischen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel denken; »Schurlamm« (43 u.ö.) ist nicht nur ähnlich gebildet wie der wirkliche Name von Friedrich Schorlemmer, er setzt mit den Bedeutungen seiner Kompositionsglieder auch Assoziationen frei, die wenigstens in die Nähe des wirklichen Pfarrers führen; oder es wird dem Bevollmächtigten der Schweizer Holding GTC Kupelwieser mit »Kuppelwieser« (81) ein Name gegeben, der das Kriminelle des Treuhandkunden ausstellt. Erkennt man beim Lesen dieses Hin und Her zwischen Realitätsbindung und Erfindung, wird der Humor freigesetzt, der den Geschichten eingeschrieben ist.

Es ist ein bitterer und mitunter auch böser Humor, der hier spürbar wird. Das dritte Kapitel lässt Protagonisten der vorgestellten Geschichte im Aufstand zu Tode kommen. Berndt verliert sein Leben schon beim Hungerstreik. Henning, schließlich einer der Aktivisten des phantastischen Aufruhrs gegen die Herren von Industrie, Treuhand und Regierung, wird bei der Bekämpfung des Aufstands durch die herbeigerufene, schwer bewaffnete Bundeswehr und Polizei erschossen: »Jetzt war er auch das Leben los.« (95), und Finger, der provozierend Fragende, wird nach den Kämpfen bei Volkstedt »unter den Toten« (96) gefunden.
Freilich bleibt all das dem Bild vom Aufstand geschuldet. Letzte Sätze führen in die Wirklichkeit der Gegenwart zurück. Sie verraten, dass sich Henning in der Tat eine »Abfindung ansagen« ließ und dass »bei Berndts [...] das Leben auch weiter(ging)«. Die von der Erzählung gebotene »Geschichte«, so heißt es am Schluss mit Verweis auf die unaufhebbare Ambivalenz des Versuchs, den Willen zu Gesellschaftsveränderung in aufständische Aktionen zu überführen, hat sich ja nicht ereignet. »Sie ist nur, sehr verkürzt und unbeschönigt, aufgeschrieben. Es war hart zu denken, daß sie erfunden ist; nur etwas wäre ebenso schlimm gewesen: wenn sie stattgefunden hätte.« (97)

 

Literatur

Bloch, Ernst, »Gibt es Zukunft in der Vergangenheit?« (1966), in: ders., Tendenz – Latenz – Utopie, Frankfurt/M 1978

Braun, Volker, »Die vier Werkzeugmacher« (1996), in: Wie es gekommen ist, Frankfurt/M 2002

ders., »Die Verhältnisse zerbrechen«, in: Die Verhältnisse zerbrechen, Frankfurt/M 2000

ders., »Die Geschichte vom Schwarzenberg«, in: Das unbesetzte Gebiet. Im schwarzen Berg, Frankfurt/M 2004, 101

ders., Der berüchtigte Christian Sporn. Ein anderer Woyzeck, Frankfurt/M-Leipzig 2004

ders., Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer, Frankfurt/M 2008

ders., »Die ewige Beschäftigung mit der Zukunft«, in: Tucholsky Literaturmuseum Schloß Rheinsberg, Rheinsberger Bogen 32, 2010

ders., »Die Zukunftsrede«, in: Das Argument 290, 53. Jg., 2011, H. 1, 3-13



[1] Volker Braun, Die hellen Haufen, Suhrkamp, Berlin 2011 (96 S., Ln., 14,90 €).

[2] Wie die Rezension von Sabine Brandt (»Abgelebte Weltsichten«, in: FAZ, 1.12.2011) zeigt, hält diese Urteilsart bis heute an. Ein nicht zu zügelnder Unmut angesichts kritischer Einwände zum »deutschen Einheitsstaat« führt zu einem vorsätzlichen Unverständnis, das seine intellektuelle Dürftigkeit und Empathielosigkeit mit dem Argument rechtfertigt, »wir« müssten und sollten der Erzählung den »Eingang in Herz und Hirn« nicht gewähren.

[3] Vgl. z.B.: »Ein gut behütetes Geheimnis. Matthias Thüsing zur Zukunft des Kali-Fusionsvertrages«, in: thueringer-allgemeine.de, 13.10.2011.