Wo stehen die arabischen Aufstände heute?

Von der gewaltfreien Revolte in den Bürgerkrieg – oder zurück?

Dies ist der Versuch einer vorläufigen Bestandsaufnahme der arabischen Aufstände aus gewaltfrei-anarchistischer Sicht. Wo haben die Widerstandsbewegungen entscheidende strategische Fehler gemacht? Gibt es eine unaufhaltsame Tendenz zum Versinken in den Bürgerkrieg oder kann diese Entwicklung noch aufgehalten werden? Wie ist die Kampagne „Adopt a Revolution“ (AaR), die mit „Revolutionspatenschaften“ syrische AktivistInnen unterstützen will, zu bewerten? Das sind Fragen, die wir in dieser Ausgabe der Graswurzelrevolution auf den Seiten 16 bis 20 im Rahmen eines Schwerpunkts diskutieren. (GWR-Red.)

 

Der algerische Schriftsteller Boualem Sansal  hat mit seinem Roman Das Dorf des Deutschen Aufsehen erregt. Er beschrieb als erster arabischer Schriftsteller selbstkritisch die militärische Unterstützung durch in Algerien untergetauchte Nazis für die Befreiungsorga­nisation Front de Libération Nationale (FLN) in den Fünfzigerjahren, die im antikolonialen Krieg ihren Nazi-Kampf gegen Frankreich fortsetzten. (1)

Innerhalb der FLN gab es einen großen Anteil judenfeindlicher Strömungen, während die antikoloniale Konkurrenzströmung der „Messalisten“ (sog. MNA, um Messali Hadj, von Camus unterstützt) sofort jede Kampagne abbrach, sobald sich antijüdische Tendenzen zeigten.

Sansal erinnert an den algeri­schen Befreiungskrieg als Bürgerkrieg: „Wir kämpften gegen die Kolonialtruppen und gegen uns selbst, es kämpften FLN gegen MNA, Araber gegen Ber­ber, Religiöse gegen Laizisten, und so bereiteten wir künftigem Hass und künftigen Spaltungen schon den Boden. [...] Die Befreiung brachte keine Freiheit und Freiheiten schon gar nicht.“ (2)

Sansal lebt als Schriftsteller – noch – in Algerien, seine Bücher sind dort jedoch verboten. Er ist Camusianer geblieben.

Mit seiner Stimme soll hier zu­nächst an die Anfänge der arabischen Aufstände erinnert werden. In seiner Rede zum Erhalt des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels vom 16. Oktober 2011 beschrieb er sie geradezu euphorisch:

„Wir spüren alle, dass sich seit der tunesischen Jasminrevolution in der Welt etwas geändert hat. Was in der verknöcherten, komplizierten und schwarzseherischen arabischen Welt unmöglich schien, ist nun eingetreten: [...] Was derzeit geschieht, ist meines Erachtens nicht nur eine Jagd auf alte bornierte und harthörige Diktatoren, und es beschränkt sich nicht auf die arabischen Länder, sondern es kommt eine weltweite Veränderung auf, eine kopernikanische Revolution: Die Menschen wollen eine echte universelle Demokratie, ohne Grenzen und ohne Tabus. Die Menschen lehnen Diktatoren ab, sie lehnen Extremisten ab, sie lehnen das Diktat des Marktes ab, sie lehnen den anmaßenden und feigen Zynismus der Realpolitik ab, sie verweigern sich dem Schicksal, auch wenn jenes das letzte Wort haben mag, sie lehnen sich gegen alle Arten von Verschmutzern auf; überall empören sich die Leute und widersetzen sich dem, was dem Menschen und seinem Planeten schadet.“ (3)

Sansal erinnerte in seiner Rede noch an eine weitere Friedenspreisträgerin, die nicht nur stellvertretend für den Frauenwiderstand in Algerien, sondern für die Rolle der Frauen insgesamt bei den arabischen Revolten steht:„Im Jahr 2000 wurde hier meine Landsfrau Assia Djebar geehrt, die viel für die Durch­setzung des eigentlich selbstverständlichen Gedankens getan hat, dass auch bei uns in den arabisch-muslimischen Ländern die Frau ein freies We­sen ist, und dass es ohne Frauen im Vollbesitz ihrer Freiheit keine gerechte Welt geben kann, sondern nur eine kranke, lächerliche und gehässige, die ihr Dahinsterben nicht wahrnimmt.

Ich kann hier sagen, dass ihr Kampf Früchte getragen hat: „Echter Widerstand, also ein Widerstand voller Würde und Zähigkeit, wird in Algerien [und in den arabischen Ländern, erinnert sei etwa an die Jemenitin Tawakkul Karman; d.A.] heute hauptsächlich von Frauen geleistet.“ (4)

 

Libyen und Kollateralschaden Sahelkrieg

Am schnellsten zerstob die Anfangseuphorie im libyschen Bürgerkrieg in Verbindung mit Waffenlieferungen, westlichen Ölinteressen und dem NATO-Bombardement.

Es sei daran erinnert, dass eine Vielzahl der libyschen Revolutionäre anfangs in alle Kameras sagten, sie würden ihre Waffen nur dazu gebrauchen, um Gaddafi zu stürzen, danach würden sie sie wieder abgeben und frei ihrem Wunschberuf nachgehen.

Solche Illusionen stehen oft am Anfang des bewaffneten Widerstands. Der zunächst völlig legitime Aufstand gegen das blutige Gad­dafi-Regime führte nach dem Sturz Gaddafis keineswegs zur Waffenrückgabe der Milizionäre. Libyen ist heute ein waffenstarrendes Land, in dem die innenpolitische Lage mit ihren rund 60 Folterlagern unter Kontrolle der zum Teil verfeindeten Milizen sind. (5)

Längst wird der libysche Bürgerkrieg exportiert und befeuert Kriege in der ohnehin leidgeplagten Sahelzone.

In Mali gab es am 22. März 2012 einen Putsch gegen den halb­wegs demokratisch gewählten A.T. Touré durch junge Militärs, die ihm vorwarfen, nicht energisch genug gegen die Tu­areg-Milzen im Norden Malis vorzugehen. Der Putsch verschaffte diesen Milizen, die sich seit 2011 Mouvement national de libération de l’Azawad (MN­LA) nennen und sich mit den salafistischen Ançar Eddine (Helfer des Glaubens), die wiederum eng mit der Al-Qaida au Maghreb islamique (AQMI) zusammenarbeiten, verbündeten, Zeit und Raum, den Norden Malis militärisch zu kontrollieren.

Der Konflikt hat zum Teil seine historischen Ursachen in der kolonialen Grenzziehung mitten durch die Wüste. Das jetzt besetzte Nord-Mali umfasst 65 % des Territoriums Gesamt-Malis (zweimal so groß wie Deutschland) mit rund 14 Mio. Menschen, von denen be­reits 200.000 geflohen sind.

Die Putschisten in Süd-Mali konnten sich nicht halten und übergaben die Macht an eine neue zivile Regierung unter D. Traoré, die nun in Kooperation mit den Anrainerstaaten alles daran setzt, die MNLA und die Salafisten im Norden, die sich wenige Tage nach ihrem Sieg bereits zerstritten und getrennt haben, militärisch anzugreifen.

Interessant ist, wer bei dieser Tuareg/Salafisten-Offensive militärisch gekämpft hat. Im jüngsten Bericht von Le Monde diplomatique heißt es dazu: Die MNLA habe „gut tausend Kämpfer, davon 400 Ex-Waffenbrüder von [...] Gaddafi.“ (6)

Die Absurdität geht noch weiter: Denn die Salafisten ihrerseits rekrutierten ihre Milizionäre über AQMI-Hilfen eben­falls zu einem großen Teil aus Libyen, sodass Gaddafi-Büttel und islamistische Anti-Gaddafi-Milizen in Nord-Mail bereits Seit’ an Seit’ gegen die Armee Malis kämpften. Eine Reporte­rin von Le Monde zitiert westafrikanische Quellen wie den mauretanischen Nachrichtendienstler El-Maaly, der von weiteren „Schläfer-Zellen von Kämpfern, die sich in Libyen gebildet haben [spricht]. ‚Das ist Nachschub’, sagt er. Am 23. März haben Kämpfer von AQ­MI nicht gezögert, sich bei einer Militärparade zu filmen. Das wurde in Arabisch auf YouTube verbreitet. Ein Video zeigt einen Konvoi von 30 Pick-Ups, ausgerüstet mit Raketenwerfern, [...] mit drei Feuerwehrwagen am Schluss, von denen einer noch die Aufschrift ‚Die Rebellen von Syrte’ trug.“ (7)

 

Einmal bewaffnet – immer bewaffnet!

Der bewaffnete Kampf überspringt schnell alle früheren Fronten, die ursprünglichen Kampfziele werden zweitrangig, wer einmal bewaffnet kämpft, sucht sich nach dem Sieg einfach neue Kampfziele. Solch eine Verkettung kann am Anfang bekämpft werden, aber kaum noch, wenn der Zug einmal abgefahren ist.

Angesichts des neuen Bürgerkriegs in Mali wird in der Region selbst von Politikern von einer Afghanisierung der Sahel-Zone gesprochen und die aktuelle Intensivierung der Kriege als „Kollateralschaden der libyschen Krise“ bezeichnet. (8)

Die Sahel-Zone sitzt auf einem Pulverfass, das nun durch Milizionäre und Waffen aus Libyen befeuert wird: Bürgerkrieg in Mali, Ölkrieg zwischen Sudan und unabhängigem Süd-Sudan, Bürgerkrieg in Somalia, ei­ne „Bewegung für Gerechtigkeit“ – was sonst ? – will gerade in Darfur erneut den bewaffneten Kampf aufnehmen, eine islamistische Guerilla im Nord-Niger kämpft seit Jahren gegen den neokolonialistischen Uran-Abbau französischer Atomfir­men und die Armee des Niger, und zu guter Letzt: Jüngst rief noch der Präsident des Tschad, Idriss Déby, dem jüngst die französische Armee zum Machterhalt verhalf (9), zu einer großen Allianz zwischen MNLA, AQMI, den West-Sahara-Guerillas der Polisario und seiner Regierung auf.

Derweil gibt es aktuell Dürre und Hunger im Sahel und 5-7 Millionen Menschen bräuch­ten dringend medizinische Versorgung.

 

Syrien: Der verpasste Strategiewechsel

Als in den ersten Wochen nach dem 15. März 2011 die Menschen in den meisten Städten Syriens massenhaft und ge­waltfrei auf die Straße gingen, hatte die überkonfessionelle Einheit der Protestbewegung noch Bestand.

Haytham Manna, der Präsident des „Arabischen Komitees für Menschenrechte“ konnte am 15. April 2011 sechzehn beteiligte Städte, darunter Damaskus und Aleppo, vermelden: „Die Revolte kommt gut voran, in einem vernünftigen Rhythmus. Sie umfasst nunmehr alle Konfessionen, die Minderheiten, die Christen sowie die Ala­witen [schiitische Minderheit, zu der der Assad-Clan zählt; d.A.], die Araber wie auch die Kurden.“ (10)

Die Ausdauer und der Mut der gewaltlos Demonstrierenden in Syrien über Monate hinweg war schier unglaublich.

Bevor der Übergang zur Befürwortung des bewaffneten Kampfes begann, hatte dieser Widerstand immerhin erreicht, dass heute die Herrschaft des As­sad-Clans und seiner Geheimdienste innerhalb Syriens desavouiert ist. Und allen deutschen Linken, der marxistischen Tageszeitung junge Welt und jenen Antiimperialis­tInnen, die noch immer meinen, das Syrien Assads sei ein irgendwie sozialistisches, antiimperialisti­sches Bollwerk, das es zu schützen gilt, sei ins Stammbuch der Nimmer-Lernenden geschrieben: Eine Staatsclique, die über Monate hinweg die eigene Bevölkerung mit brutaler militärischer Repression bekämpft, hat jeden ideologischen Kredit verspielt!

Rony Brauman, Aktivist von „Médecins Sans Frontières“ und französischer Intellektueller, pries noch Ende November 2011, nach dem Sturz Gaddafis in Libyen, die Gewaltfreiheit der syrischen Revolte als beispielhaftes Gegenmodell zu Libyen, obwohl damals der Formie­rungsprozess der „Freien Syrischen Armee“ (FSA) aus ehemaligen Deserteuren der As­sad-Armee bereits im Gange war. (11)

Heute gibt es zwar weiter auch unbewaffnete Demonstrationen und nicht-gewaltsam vorgehende Komitees (Local Coor­dinating Committes) und Komitees der SRGC (Syrian Revolution General Commission) im Land, die von der Kampagne „Adopt a Revolution“ unterstützt werden. Doch nicht alle LCC sind gewaltfrei. Die Selbstdarstellung der LCC erwähnt auf ihrer Homepage kein Bekenntnis zum gewaltfreien Widerstand, wie es „Adopt a Revolution“ gleichwohl behauptet. (12) Die Informationen über die SRGC sind kaum zu überprüfen, deren Website steht bisher nur auf Arabisch zur Verfügung. Und die ASKYA (As­sembly of Syrian Kurdish Youth Abroad) ist vor allem eines: „abroad“, also im Exil.

Im Verlauf der Entwicklung des Widerstands kam der Ruf nach bewaffnetem Widerstand sogar leider zunächst aus den Komitees der Basis. Der außerhalb Syriens agierende Syrische Na­tionalrat (SNC) rief dann Anfang März 2012 offen zur westlichen Militärintervention auf. Inzwischen ist der SNC in westliche und US-amerikanische Strategien eingespannt, die da­von ausgehen, es sei realistischer, die FSA zu bewaffnen, als eine 330.000 Mann starke Armee wie die Assads mit einer direkten NATO-Militärinter­vention klein zu kriegen. Darin treffen sie sich mit den Interessen Saudi-Arabiens, das zu den wichtigsten Waffenlieferanten der FSA zählt. (13)

Alain Gresh von Le Monde dip­lomatique beschreibt den Syrischen Nationalrat inzwischen als „von Islamisten dominiert, mit einigen liberalen Figuren als Fassade.“ (14) Dem Regime sei es gelungen, die überkonfes­sionelle Einheit aus den Anfangstagen zu spalten, die Opposition habe ihren Einfluss bei Alawiten und KurdInnen verloren. Alain Gresh:

„Die Opposition zeigt sich unfähig, ernsthafte Garantien für die Zukunft zu bieten. Sie sieht sich nun damit konfrontiert, dass sich einstige Unterstützer von ihr abwenden. Die Kurden, die unter den ersten waren, die mitdemonstrierten [...], halten sich nun zurück, abgeschreckt durch die Weigerung des SNC, ihre Rechte anzuerkennen.“ (15)

Interessant ist, dass Alain Gresh für das „Nationalkomitee für den demokratischen Wandel“ (NCC) zu einer anderen Einschätzung kommt als Christine Schweitzer in ihrer Antwort auf die Kritik von Marischka/Wagner, die in dieser GWR abgedruckt ist: Dem SNC werde von vielen AktivistInnen vorgeworfen, die Alawiten und Turkme­nInnen zu marginalisieren, „be­sonders vom NCC, das sich der Konfessionalisierung und der Militarisierung des Aufstands widersetzt, ebenso wie der ausländischen Militärintervention“ und das Gresh keineswegs so isoliert von der Bevölkerung darstellt wie Schweitzer. (16)

Die vom SNC protegierte FSA ihrerseits, die zahlenmäßig mit rund 4-7000 Kämpfern gegen die noch immer nicht substantiell gespaltene syrische Armee keine Chance hat, ist dagegen zersplittert und der jüngste Human Rights Watch-Bericht wirft ihr religiös motivierte Angriffe auf AlawitInnen und SchiitIn­nen vor. (17)

Durch diese Re­konfessionalisierung, die der SNC und der bewaffnete Widerstand vorantreiben, werden diese Minderheiten nur wieder in die Arme des Regimes getrieben und verbarrikadieren sich dort. Fazit: Ein „Mix“ ist nicht wirklich eine Alternative zum bewaffneten Kampf, denn ge­nau besehen war noch jeder bewaffnete Kampf in der Geschichte real ein „Mix“.

Aus gewaltfrei-anarchistischer Sicht war das Problem der Dynamik des syrischen Widerstands das über fast ein dreiviertel Jahr währende Festhal­ten an offenen Straßendemon­strationen, auch dann noch, als Polizei, Geheimdienste und Militär wiederholt ohne Hemmungen in die Menge schossen.

Ursprünglich war die Revolte zu fast 100 Prozent gewaltfrei, und zwar spontan gewaltfrei.

Doch solche zermürbenden offenen Erschießungen über sehr lange Zeit hinweg mussten früher oder später zu einem Umschlag im Denken der Betroffenen führen, welche fast alle keine Strategie bewusster gewaltfreier Aktion kennen. Es zeigte sich bitter das Fehlen einer ge­waltfreien Aufstandsstrategie, die zu anderen, weniger direkt angreifbaren Aktionsformen auf Massenbasis übergehen kann, wie das etwa Gandhi oder etwa auch der burmesische ge­waltfreie Widerstand über Jahre hinweg immer wieder taten und damit auch bittere Niederlagen wie in Burma 1988 oder 2009 unbeschadet und vor allem ohne innere Militarisierung überstehen konnten.

Es fehlte ein Gespür für die strategische Kombination von Boykottstrategien, Streiks (eher dezentral in Form von Betriebsbesetzungen als offen), Sabotage besonders bei Zulieferfir­men des Militärs sowie breit angelegte Verweigerungskam­pagnen für Regierungsbürokra­ten und in Soldatenkreisen.

Dabei müssten Deserteuren Al­ternativen angeboten werden, anstatt sie für eine Gegenarmee zu verwenden.

Weil ab einem bestimmten Zeitpunkt solche gezielten und bewusst ange­wandten Aktionsstrategien fehlten, schlug die Stärke der anfänglichen spontanen Ge­waltfreiheit der Massen schließlich in eine Schwächung des spontan-gewaltfreien Bewusstseins um: Die Erfahrung, auf offener Straße immer wieder vom Kugelhagel umgemäht zu werden, ließ den Ruf gerade von unten, gerade von vielen Basiskomitees nach Bewaffnung laut werden.

So findet sich Syrien heute im Bürgerkrieg wieder, aus dem nur schwer ein Ausweg erkennbar scheint.

 

Tunesien/Ägypten: Die Unterbewertung der islamischen Kultur

Tunesien und Ägypten sind die Ursprungsländer der arabischen Revolte, in denen auch heute noch der Sog in den Bürgerkrieg auf relativ niedrigstem Niveau bleibt bzw. aufgehalten werden kann. Trotzdem sind, vor allem in Ägypten, Tendenzen erkennbar, die in eine solche Richtung zeigen.

Während der Tage der gewaltfreien Massenrevolten hielten sich die islamistischen Parteien in beiden Ländern noch bewusst im Hintergrund. So bekamen viele BeobachterInnen den hoffnungsvollen, aber falschen Eindruck, dass sie bei der Revolte keine dominierende Rolle spielen würden.

Die Massenminorität, die die gewaltfreie Revolte zunächst durchführte, war nicht mit der jeweiligen Gesamtbevölkerung gleichzusetzen, deren Abstim­mungsverhalten bei den dann folgenden freien Wahlen ein ganz anderes Bild bot.

Es war auch naiv zu glauben – und ent­sprach eher dem Wunschbild der herrschenden westlichen Medien –, etwa ein Wael Gho­neim, seines Zeichens Google-Manager (18), wäre ein repräsentativer Aktivist dieser Revolte.

Nur rund 10-20% aller Haushalte in Tunesien und Ägypten haben heute Internet, doch be­reits die Anfangsrevolte konnte nur siegen, weil schließlich auch große Teile der nicht-wohlsituierten und gut ausgebildeten Bevölkerung auf die Straßen und Plätze gingen – und die waren in Tunesien und Ägypten erstens arm, zwei­tens ohne Internetanschluss und drittens mehr oder weniger an den islamischen Kulturraum und deren Tradition gebunden.

Der islamische Kulturhin­ter­grund des Großteils der Bevölkerung kann bei diesen Revolten nicht ausgeklammert werden – die Hoffnung, in der sich westliche Medien und viele an­tideutsche und/oder atheistische Linke einig waren, dass die Revolte nicht durch die langwierige Auseinandersetzung mit der islamischen Kultur und Tradition hindurch müsse, erwies sich als tragischer, euro­zentrischer Kurzschluss, der dann bei den Wahlen offenbar wurde.

 

In Ägypten waren die Auseinandersetzungen vom November 2011 vorläufig entscheidend

Von vielen unbemerkt be­gann die zweite Tahrir-Platz-Be­set­zung, die von vielen schnell als „zweite Revolution“ bezeichnet wurde, mit einer Sitzblockade von rund 600 Demon­strantIn­nen am 19. November.

Massenhafte Sitzblockaden wurden in dieser Zeit immer wieder durchgeführt und hielten noch bis Mitte Dezember 2011 an (19), gingen aber laut der Berichterstattung in blutigen, opferreichen und sehr militanten Kämpfen auf dem Tah­rir-Platz und einer an ihn grenzenden Seitenstraße, wo militante Jugendliche kämpften, unter.

Diese Bewegung hatte ihr emanzipatorisches Motiv darin, dass zum ersten Mal offen das Militär, das ja nach dem Sturz Mu­baraks faktisch die Macht übernommen hatte, als Gegner begriffen und angegriffen wurde.

Dadurch wurde ein verallgemeinerter Glaube an die Sympathie oder zumindest „Neutralität“ des Militärs gebrochen. Gleichzeitig blieb aber durch die Mi­litanz der Angriffe eine strategisch zu erhoffende und für einen Erfolg unbedingt nötige Spaltung der Armee – wie sie noch in der „ersten“ Revolution in großen Teilen stattgefunden hatte (auch Mubarak kam aus dem Militär) – aus.

Die Armee, auch die Soldaten, schweißte die Militanz der Angriffe zusammen. Sie nahm eindeutig auf der anderen Seite der Barrikade Stellung und schoss nun auch zusammen mit der Polizei in die Menge.

Aus Angst vor einem Bürgerkrieg blieb in dieser „zweiten“ Revolution darum der Zuspruch einer größeren Massenbewegung wie noch bei der „ersten“ Revolution aus, wodurch damals zum Beispiel die sogenannte „Ka­melschlacht“ von der Bewegung gewonnen werden konnte.

Statt diesen Sieg wiederholen zu können, rächten sich schließlich am 1. Februar 2012 die Polizei und das Militär an den jugendlichen Militanten des Tahrir-Platzes, die vor allem aus Fans des Kairoer Fussballclubs Al-Ahly (5-10000 Mitglieder) bestanden, mit dem Stadion-Massaker von Port Said, wo über 70 Menschen, meist Al-Ahly-Anhänger ermordet wurden. Von dieser quasimilitäri­schen Niederlage hat sich die Tahrir-Bewegung bis heute nicht erholt.

Politisch gesehen finde ich übrigens, dass militante Fuß­ballfans kein Schutz vor einem Abgleiten in bürgerkriegsartige Zustände sind – und das nicht nur in Ägypten. (20)

Inzwischen dominieren die islamischen Parteien (Muslimbrüder und Salafisten) die verfas­sungsgebende Versammlung in Ägypten (nur 6 Frauen und 6 Christen von 100 Mitgliedern), linke und säkulare Kräfte haben sie aus Protest verlassen. (21) Entgegen vorheriger Zusagen, auf einen eigenen Präsidentschaftskandidaten verzichten zu wollen, haben die Muslimbrüder erst jüngst erklärt, dass sie nun doch einen eigenen Kandidaten aufstellen wollen.

Sie erheben damit einen hegemonialen Anspruch, das politische Leben Ägyptens, das der Minderheiten und auch das der Frauen kontrollieren zu wollen, die auch die vorbereitete Machtteilung mit der Armee in­frage stellen könnte und für zu­sätzlichen Konfliktstoff sorgt. (22)

Eine Hoffnung scheint die gefestigte Widerstandskultur in Tunesien und Ägypten zu sein, die bis jetzt immer wieder gezeigt hat, dass sie nie mehr Unterdrückung ohne Widerstand hinzunehmen bereit ist.

Entscheidend für deren Wirkmächtigkeit ist jedoch, dass sich das Widerstandspotential nicht in einem wohlsituiert-säkular-modernistischen Milieu einigelt, sondern ihr Solidari­tätspotential bei kommenden, hoffentlich gewaltarmen Konfrontationen wieder verbreitern kann.

Dazu ist eine Auseinandersetzung mit den und mög­lichst ei­ne Spaltung der isla­mistischen Milieus vonnöten. Dies kann nur erreicht werden, wenn man sich auf die islamische Kultur einlässt, Unterschiede (Islamismus, Orthodoxie, Sufismus/Ketzerströmun­gen) wahrnimmt und auch versteht, dass eine einfache Nachahmung westlich-kapitalistischer Lebensweise (und Demokratie) ange­sichts einer jahrhundertelangen kolonialen und kulturellen Ausbeutung und Dominanz für die Menschen dort kein attraktives Ziel ist. Stattdessen kann man nach emanzipatorischen und gewaltfreien islamischen Traditionen Ausschau halten, die es im  islamischen Kulturraum vielfach gibt (Mahmud Taha, Abdul Ghaffar Khan, das Palästinensische Zentrum für Gewaltlosigkeit in Palästina usw. usf.) und die es gegen die dominanten, gewaltsamen isla­mistischen Strömungen stark zu machen gilt. Es geht nicht um einen „Kampf der Kulturen“ (US-Think-Tank-Theoretiker Huntington), sondern um einen interpretatorischen Kampf innerhalb der Kulturen. Dazu gibt es ein Konzept, das in GWR-Artikeln sowie in Buchform be­reits veröffentlicht wurde. (23)

 

S. Tachelschwein

 

Anmerkungen:

(1): Boualem Sansal: Das Dorf des Deutschen oder Das Tagebuch der Brüder Schiller, Merlin Verlag, Gifkendorf 2009

(2): Boualem Sansal: „Das Prinzip des Friedens“, Rede in der Frankfurter Paulskirche, 16.10.2011, abgedruckt u.a. in der FAZ, 17.10.2011, S. 9

(3): Ebenda

(4): Ebenda

(5): Vgl. Erklärung von Médécins Sans Frontières zu den Folterungen in Miliz-Lagern, vgl. Spiegel-Online, 26.1.2012

(6): Vgl. Philippe Leymarie: „Comment le Sahel est devenue une poudrière“, in: Le Monde diplo­matique, frz. Ausgabe, April 2012, S. 8

(7): Isabelle Mandraud: „La riposte s’organise contre une partition du Mali“, in: Le Monde, 17.4.2012, S. 9

(8): In diesem Falle zwar vom Präsidenten des Niger, die Bezeichnung halte ich dennoch für zutreffend; vgl. Philippe Leymarie, a.a.O., S. 9

(9): Vgl. Bernhard Schmid: Frankreich in Afrika, Unrast, Münster 2011, S. 238ff. Leider kaum etwas in dem Buch über den Niger und den Uranabbau durch Areva sowie den dadurch bedingten Bürgerkrieg

(10): Haytham Manna, zit. n. Jean-Pierre Perrin: „La Syrie dans la spirale de la révolte“, in: Libé­ration, 16./17.4.2011, S. 7

(11): Rony Brauman in einem Streitgespräch in: Le Monde, 25.11.2011, S. 24f.; siehe dazu auch: „Libyen: Wem sollen wir glauben?“, in: GWR 365, Januar 2012, S. 9f.

(12): Siehe die Selbstdarstellung der LCCS auf: www.lccsyria.org/about

(13): vgl. Jürgen Wagner: „Syrien: Die Militari­sierung der Proteste und die strategische Unvernunft der Gewalt“, IMI (Informationsstelle Militarisierung), 20.3.2012

(14): Alain Gresh: „Onde de choc syrienne dans une région en ébullition“, in: Le Monde diplo­matique, frz. Ausgabe, April 2012, S. 11

(15): Alain Gresh, a.a.O., S. 10

(16): Ebenda

(17): Siehe den Text „Bürgerkriegspatenschaft?“ von Marischka/Wagner in dieser GWR.

(18): Vgl. bereits die Skepsis gegenüber Wael Ghoneim als Revolutionsheld in: „Zweifelhafte Helden der Revolution“, in: GWR 357, März 2011

(19): Vgl. Johannes Stern: „Ägyptisches Militär greift friedliche Demonstranten brutal an“, in: www.wsws.org/de/2011/dez2011/egyp-d21.shtml

(20): Siehe dazu z.B.: „Die roten Teufel“, in: Spiegel, Nr. 8/2012, S. 104ff.

(21): Marwan Chahine: „Egypte: les islamistes écriront la Constitution“, in: Libération, 29.3.2012, S. 8

(22): Marwan Chahine: „En Egypte, les Frères rompent le pacte“, in: Libération, 2.4.2012, S. 8

(23): Thomas S. Eiselberg: „Für eine libertäre Vermischung der Kulturen“, in: GWR 308, April 2006, S. 8f.; auch als Broschüre „Gewaltfreie Bewegungen im Islam“ bestellbar über Verlag Weber, Zucht & Co, Kassel-Bettenhausen. Im Verlag Graswurzelrevolution ist zu diesem Ansatz das Buch von Ashis Nandy: Der Intimfeind, Heidelberg 2008 erschienen.

 

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 369, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 41. Jahrgang, Mai 2012, www.graswurzel.net