1-0-1 Intersex

 

Bis heute sind operative Eingriffe bei Neugeborenen und Kleinkindern, deren biologisches Geschlecht sich nicht eindeutig bestimmen lässt, weit verbreitet, ohne dass diese medizinisch notwendig wären. Über ihre Geschlechtszugehörigkeit dürfen intersexuelle Menschen noch immer nicht selbst bestimmen. Wie sehen die Rechtslage und die medizinische Praxis aus? Und welche Forderungen stellen Intersex-Organisationen? 

„Intergeschlechtliche Menschen sind nicht nur ein Teil der Gesellschaft, sondern zeigen auf, dass andere Lebensmodelle neben dem traditionellen Zweigeschlechterdenken existieren“, sagt Simôn Zobel vom Bundesverband Intersexuelle Menschen e.V. und verweist damit klar auf die gesellschaftliche Relevanz und die Herausforderungen, die eine Auseinandersetzung mit dem Thema Intersexualität mit sich bringt. Die Geburt eines intersexuellen Kindes wird heute meist immer noch als „psychosozialer Notfall“ und Tragödie behandelt. Dass ein Neugeborenes nicht als „weiblich“ oder „männlich“ bestimmt werden kann, bedeutet für Eltern und Ärzt_innen eine Ausnahmesituation. „Die meisten von uns leben versteckt in einer Gesellschaft, die nur zwei Geschlechtern Anerkennung und Wertschätzung entgegenbringt. Statt soziokulturelle Ansätze zu entwickeln, um mit intergeschlechtlichen Menschen umgehen zu lernen und hierzu Räume zu schaffen, wird es allein der Medizin überlassen, mit ihrer Bestimmungshoheit ‚Lösungen‘ zu liefern“, kritisiert Dan Ghattas, der bei der Internationalen Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen (IVIM) und TransInterQueer (TrIQ) aktiv ist. Damit bringt Ghattas ein zentrales Problem auf den Punkt: Nicht Intersexuelle werden als Expert_innen ihrer Sache gesehen, sondern es wird allein auf die Kompetenz der Ärzt_innen gesetzt, was die pathologisierende Sicht auf Intersexualität offenlegt. Bei einzelnen, mit „uneindeutigen“ Genitalien einhergehenden lebensbedrohlichen Erkrankungen ist das zwar legitim, etwa wenn es darum geht, einen offenen Bauchraum zu operieren oder beim sog. Salzverlustsyndrom den Salz-Wasser-Haushalt zu stabilisieren. Allerdings stellt sich im heterogenen Feld der intersexuellen Erscheinungsformen schon bald die Frage, welche Eingriffe tatsächlich als „Heilbehandlung“ zu definieren sind.

Heterogene Identitäten. „Die Intersexuellen“ sind keine homogene Gruppe. Es gibt Neugeborene, die unmittelbar nach der Geburt wegen eines „uneindeutigen“ Genitals auffallen. Es gibt intersexuelle Personen, die erst in der Pubertät „vermännlichen“ oder „verweiblichen“, und solche, die gar nie diagnostiziert werden. Es gibt Intersexuelle, die sich gänzlich weiblich oder männlich fühlen, und solche, die sich dazwischen verorten. Manche sprechen von sich selbst als „Zwitter“ oder „Hermaphrodit“, andere als „intersexuell“. Einige nehmen ihr diagnostiziertes Syndrom bzw. DSD (Disorder of Sex Development, siehe S. 23) als Identität an oder aber definieren DSD ganz neu: „Discriminated and Socially Distanced“. Auch das sexuelle Begehren ist, wie bei jedem_r anderen auch, individuell unterschiedlich. Eines aber ist fast allen gemeinsam: „Unsere Körper werden untersucht, analysiert, normiert, misshandelt und fehlbehandelt, vermessen und zugerichtet. Unsere Seelen werden dem Diktat der Zweigeschlechternorm unterworfen, bis wir unser ‚Anderssein‘ und dessen Bekämpfung als unser persönliches Schicksal verinnerlicht haben. Sich dieser scheinbar ausweglosen Situation nicht ‚freiwillig‘ zu fügen, ist unglaublich schwer“, wie Ghattas sagt.

Heute erwachsene Intersexuelle wurden zu einem Zeitpunkt geboren, zu dem die Devise des US-Sexualwissenschaftlers John Money galt: möglichst früh operieren (damit sich, so seine These, die Gender-Identität nach dem zugewiesenen Geschlecht ausbilden kann) und mit dem Kind nie über seinen Zustand sprechen. Außerdem war es bis in die 1990er Jahre üblich, eher in Richtung „weiblich“ zu operieren – dies wurde als „technisch einfacher“ betrachtet. Intersexuelle, die mit dieser Gender-Politik konfrontiert waren, leiden heute meist unter schwerwiegenden Folgen: Traumatisierungen und beschädigte Genitalien (mit Vernarbungen etc.) sowie eine eingeschränkte sexuelle Empfindsamkeit (siehe Interview mit Daniela Truffer auf S. 18). Oft mussten die damaligen Kinder erst vierzig, fünfzig Jahre alt werden, um durch frühere Krankenakten zu erfahren, wie ihr Körper bei der Geburt und vor den chirurgischen Eingriffen beschaffen war – Tabuisierung war Normalität. Verständlich, dass es hier einerseits viel Trauer, andererseits viel Wut auf die behandelnden Ärzt_innen und/oder die Eltern gibt.

Status quo. Ein Neugeborenes mit nicht zuordenbaren Geschlechtsorganen wird üblicherweise an ein spezialisiertes Zentrum überwiesen, in Österreich gibt es solche Zentren in Wien und Innsbruck. Es folgen Untersuchungen: Erst muss die lebensbedrohliche Salzverlustkrise ausgeschlossen werden. Danach werden die Chromosomen, Gonaden und Hormone untersucht und im Idealfall eine Diagnose über das vorliegende Syndrom gestellt. Allerdings ist letzteres oft nicht möglich, wie Stefan Riedl, Kinderendokrinologe am AKH Wien, klarstellt. Eine genaue Diagnose wird nicht nur deshalb für wichtig erachtet, um auf damit einhergehende mögliche gesundheitliche Risiken vorbereitet zu sein (zum Beispiel ein Tumorrisiko) – sie ist auch der Versuch, die spätere Geschlechtsidentität zu prognostizieren. Denn wenn man wisse, ob sich das Kind später als weiblich oder männlich identifizieren wird, falle die Entscheidung leichter, welche Eingriffe getätigt werden sollen: Nimmt man überhaupt hormonelle oder operative Eingriffe vor, und wann setzt man diese? Welche Eingriffe sind reversibel, welche irreversibel? Gibt man Östrogene oder Testosteron? Operiert man an den Genitalien, um sie einem „typischen“ Geschlecht anzugleichen? Entfernt man Hoden und/oder Eierstöcke? Wäre das Kind mit einer bestimmten Geschlechtszuweisung später fruchtbar, mit einer anderen nicht? Jedoch wissen auch Mediziner_innen spätestens seit den Debatten um Transsexualität: „Welche Geschlechtsidentität eine Person entwickeln wird, kann man bei niemandem zu hundert Prozent im Voraus sagen – auch nicht bei Personen mit Intersexualität“, bestätigt die Sexualmedizinerin Hertha Richter-Appelt.

Ein- und Ausschlüsse. Relativ häufige Intersex-Formen sind das Adrenogenitale Syndrom (AGS) und die Hypospadie. Allerdings ist umstritten, inwieweit diese geschlechtlichen Varianten überhaupt als „intersexuell“ eingestuft werden sollen. Das AGS ist eine Stoffwechselstörung, deren Begleiterscheinung es ist, dass Neugeborene mit XX-Geschlechtschromosomen ein „vermännlichtes“ Genital aufweisen. Wie viele Menschen mit AGS sich als weiblich identifizieren, ist unklar (Mediziner_innen gehen von 90 Prozent aus), genaue Statistiken gibt es nicht. Eine Hypospadie liegt vor, wenn die Harnröhre nicht an der Spitze des Penis, sondern unterhalb davon mündet – geschlechtschromosomal XY, Gender-Identität meist männlich. Während viele Intersex-Organisationen und aktuelle medizinische Leitlinien das AGS als Intersex-Form einordnen, sieht das die AGS-Eltern- und Patienten-initiative e.V. anders. Auch der Deutsche Ethikrat hat in seiner Stellungnahme das AGS als eigene, nichtintersexuelle Erscheinungsform ausgeklammert (siehe Artikel auf S. 21).Dasselbe gilt für die Hypospadie: Nicht von allen wird sie zu den intersexuellen Erscheinungsformen gezählt. Ärzt_innen weisen fast immer beim AGS weiblich, bei der Hypospadie männlich zu und operieren auch in diese Richtung, wie Stefan Riedl bestätigt. Und genau darin liegt ein strittiger Punkt – so erklärt etwa die Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org: „Die Definition von ‚Intersexualität‘ wird oft stark verengt auf die ‚wenigen wirklich uneindeutigen Fälle‘, bei denen die Problematik von Operationen diskutiert wird, während die häufigsten Diagnosen (Hypospadie, AGS) herausgenommen bzw. zu ‚eindeutigen Jungen/Mädchen mit einem kleinen Problem‘ definiert werden, welche kosmetisch zu operieren angeblich nicht problematisch ist.“

Nach medizinischer Logik gibt es Intersex-Formen mit einem klaren Geschlecht, das operativ vereindeutigt werden soll (wie bei AGS und Hypospadie), und uneindeutige, bei denen geschlechtszuweisende Eingriffe getätigt werden. Laut Riedl könnte zumindest bei der Hypospadie eine aktuelle Diskussion zu einem Paradigmenwechsel führen: Möglicherweise kommt es zu weniger Komplikationen, wenn eine Hypospadie nicht im Kleinkindalter, sondern erst in späteren Lebensjahren operiert wird.

Fremdbestimmt. Eine weitere wesentliche Facette in den Auseinandersetzungen sind die gesetzlichen Vorgaben. Von rechtlicher Seite her sind Eltern hierzulande zwar bis zum 18. Lebensjahr ihres Kindes dessen gesetzliche Vertreter_innen und somit berechtigt, in medizinische Behandlungen stellvertretend einzuwilligen – dies aber nur, solange es um eine Heilbehandlung geht, wie die Juristin Eva Matt erklärt: „Grenzen für die stellvertretende Zustimmung der Eltern finden sich dort, wo es nicht um Heilbehandlungen im engeren Sinne, sondern zum Beispiel um kosmetische Behandlungen geht. Für mich hat eine vergrößerte Klitoris keinen Krankheitswert, daher ist eine (geschlechtsvereindeutigende) Operation, mit der eine Klitoris verkleinert wird, keine Heil-, sondern eine kosmetische Behandlung, in die Eltern nicht anstelle des Kindes einwilligen dürfen. Ein derartiger Eingriff verletzt das Recht auf körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Empfindsamkeit und das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Solch massive Eingriffe in die Persönlichkeit eines Menschen darf niemand außer dem Menschen selbst gestatten.“

Das stellvertretende Einwilligungsrecht wird nicht nur von juristischer Seite, sondern auch von Intersex-Organisationen und progressiven Mediziner_innen kritisch gesehen: TrIQ und IVIM fordern eine Einschränkung der stellvertretenden Einwilligung, wenn es um kosmetische Eingriffe geht, „die der Normierung des geschlechtlichen Erscheinungsbilds dienen“. Zwischengeschlecht.org fordert ein „gesetzliches Verbot von Genitalverstümmelungen an Kindern und Jugendlichen“.

Auch der Endokrinologe Riedl sieht zumindest bei den Neugeborenen, bei denen die „optimale“ Geschlechtszuweisung aus medizinischer Sicht unklar ist (also nicht bei zum Beispiel Hypospadie/AGS), ein Problem: „Dem stellvertretenden Einwilligungsrecht der Eltern müssen Grenzen gesetzt werden. Es ist schwierig, einem Elternteil das Gefühl zu nehmen, er hätte die Kompetenz, über einen Eingriff zu entscheiden. Ich treffe meistens auf Eltern, die sich eine frühe geschlechtsangleichende Operation ihres Kindes wünschen. Nur sehr selten wollen die Eltern die Geschlechtsorgane intersexuell lassen.“

In strittigen Fällen plädiert Riedl dafür, mit Operationen abzuwarten. „Wenn die Eltern sagen, sie haben ein großes Problem, die intersexuellen Geschlechtsorgane ihres Kindes zu akzeptieren, dann lassen wir es durch die Chirurgie ansehen. Bei den schweren Formen wird dann meist eine Operation geplant. Es ist schwierig zu verhindern, wenn von den Eltern ein geschlechtsvereindeutigender Eingriff gewünscht wird.“ Bei geschlechtszuweisenden Fällen wird die Rechtsabteilung des AKHs eingeschaltet – was mitunter dazu führen kann, dass diese einer Operation nicht zustimmt, obwohl die Eltern das wollen. Ganz andere Erfahrungen hierzu hat Zwischengeschlecht.org gemacht: In den meisten Fällen würden Mediziner_innen die Eltern zu einer Operation drängen. Neben dem der stellvertretenden Einwilligung gibt es jedoch noch ein anderes massives Problem – nämlich das der Nicht-Einwilligung: Es kommt vor, dass Eltern bestimmten Eingriffen nicht zustimmen, diese aber trotzdem und ohne deren Wissen vorgenommen werden. Aktuelle Fallbeispiele, bei denen Eltern eine Anästhesie, nicht aber eine Gonadenentfernung gebilligt hatten oder über bestimmte Prozeduren nicht aufgeklärt wurden, finden sich unter anderem im Schattenbericht von Intersexuelle Menschen e.V./XY-Frauen.

Dritte Option. „Menschen mit intersexueller Geschlechtsentwicklung sind ein Teil unserer Gesellschaft und haben als gleichberechtigte Bürger*Innen ein Recht auf freie Entfaltung und Entwicklung“, sagt Simôn Zobel für den Bundesverband Intersexuelle Menschen e.V. Auch Selbstorganisationen wie IVIM und TrIQ fordern das Recht auf eine „freie Entwicklung und Entfaltung der eigenen geschlechtlichen Identität ohne Bevormundung und Zwang“. Intersexuelle Kinder sollen nicht „zwanghaft geschlechtstypisch“ erzogen werden, der Geschlechtseintrag im Personenstand soll gestrichen werden, oder es soll zumindest für alle Interessierten eine zusätzliche Option (neben „weiblich“/„männlich“) offenstehen. Auch Riedl steht dem positiv gegenüber: „Wenn es die Gesellschaft ermöglicht, dass das Geschlecht nicht mehr angegeben werden muss, hätten wir mehr Möglichkeiten, die Entscheidungen bezüglich eines individuellen Geschlechts offen zu lassen.“

In Österreich muss der Personenstand von Neugeborenen zwar innerhalb einer Woche eingetragen und somit auch das Geschlecht festgelegt werden, doch es gibt die Möglichkeit, dies per Randvermerk zu ändern. „Die Änderung mittels Vermerk ist ohne Limit, und ich glaube nicht, dass die einwöchige Frist so zwingend ist oder es hier Strafen gibt, wenn kein Geschlechtseintrag erfolgt. Ich bin dafür, dass man den Geschlechtseintrag im Personenstandsbuch prinzipiell offen lassen können sollte. Allerdings sehe ich in Österreich kein Potenzial, den Geschlechtseintrag im Personenstandsgesetz gänzlich abzuschaffen“, erklärt die Juristin Eva Matt.

Einseitige Expertise. Bislang wurde den (politischen) Forderungen von Intersex-Organisationen nur unzureichend nachgekommen. „Es wurden bisher keine Forderungen erfüllt, aber immerhin wird mittlerweile schon darüber geredet“, bilanziert Zwischengeschlecht.org. Derzeit werden nicht einmal medizininterne Empfehlungen, wie etwa die nach multidisziplinären Behandlungsteams, die nicht nur Endokrinologie und Chirurgie abdecken, sondern aus Expert_innen mehrerer unterschiedlicher Disziplinen bestehen sollen, umgesetzt. „Es gibt bisher nur ganz wenige solcher Teams“, bestätigt auch Richter-Appelt. Sie weist außerdem darauf hin, dass die unterschiedlichen Intersex-Formen in der Fachärzt_innen-Ausbildung stärker berücksichtigt werden müssten, „aber nicht nur die rein medizinischen Fragen, sondern auch die psychosozialen nach der Geschlechtsidentität, Geschlechtsrolle und sexuellen Orientierung“. In den Kliniken ist die Elternberatung derzeit noch dadurch geprägt, von Spezialist_in zu Spezialist_in weitergeleitet zu werden. Und obwohl Riedl und Richter-Appelt die Relevanz eines Austauschs mit Betroffenen und von Selbsthilfeorganisationen betonen, gibt es bis heute an den Kliniken keinen direkten Peer Group Support.„Die Erstellung von verbindlichen Leitlinien, von ‚Standards of Care‘ in Zusammenarbeit und ein grundsätzlicher Peer-Support an Kliniken ist noch Zukunftsmusik. Ebenso unser Anliegen eines Aufbaus eines Beratungsstellenrings. Hier ist noch sehr viel zu tun“, sagt Zobel. In medizinische Entscheidungsprozesse sind Intersex-Organisationen bis heute nicht eingebunden. Trotz allem: Es gibt sie mittlerweile, die Jurist_innen und Mediziner_innen, die die bisherige Behandlungspraxis ablehnen und intersexuelle Menschen als Expert_innen ihrer selbst anerkennen. Es gibt vereinzelt Gerichtsurteile, die erwachsenen Intersexuellen Schadenersatz zusprechen. Und es gibt einige wenige Studien, die sich der Lebensqualität und der sexuellen Zufriedenheit Intersexueller widmen. Angesichts der Tatsache, dass Intersexuelle seit vielen Jahrzehnten in ihren Rechten missachtet werden, sind die aktuellen Vorgänge allerdings nur kleine Schritte.

www.transinterqueer.org
www.intersexualite.de
www.intersexuelle-menschen.net
www.dgti.org
www.xy-frauen.de
www.ags-initiative.de
http://zwischengeschlecht.org

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin, www.anschlaege.at