Die Euro-Krise als Zäsur: Eine neue Finanz-, Geld-, und Wirtschaftspolitik in Europa

Seit über 2 Jahren lesen wir in den Zeitungen täglich über die Krise in Griechenland bzw. die Krise der Europäischen Währungsunion und längst hat sich daraus eine grundsätzliche Infragestellung der Europäischen Union insgesamt entwickelt. Europäische Vertragswerke werden in bislang ungekannter Geschwindigkeit mit heißer Nadel umgestrickt, Kompetenzen verlagert und tiefgreifende Eingriffe in nationale Souveränitätsrechte durchgesetzt.

Die Krise der Europäischen Währungsunion, kurz Euro-Krise, wird häufig als Staatsschuldenkrise Griechenlands, Portugals und anderer Euro-Länder dargestellt. Diese Analyse greift zu kurz und kommt zu völlig falschen Schlussfolgerungen.

Die Europäische Währungsunion war von Anfang an eine Fehlkonstruktion, weil die Vereinheitlichung der Geldpolitik nicht durch eine Koordination der Wirtschafts-, Sozial- und Fiskalpolitik ergänzt wurde. Eine einheitliche Geldpolitik für eine Gruppe von Ländern mit recht unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen, Arbeitsmärkten und Unternehmenslandschaften führt unter Konkurrenzbedingungen notwendigerweise dazu, dass sich die Unterschiede dieser Länder eher verstärken. Die Europäische Union ist spätestens mit dem Vertrag von Maastricht und der Einführung des europäischen Binnenmarktes Anfang der 1990er Jahre ein Projekt der Staatenkonkurrenz geworden. Die nationalen Ökonomien der EU sollten in Konkurrenz miteinander treten, weil eben diese Konkurrenz nach neoliberaler Ideologie das beste Ergebnis für die Bürgerinnen und Bürger Europas bringen sollte: „schlanke“ Staaten, niedrige Steuern, innovative Unternehmen, viele neue Arbeitsplätze etc.

Etliche diese „Versprechungen“ sind eingetreten, aber nicht zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger. Die Staaten sind „schlanker“ geworden, soziale Leistungen und Rechte wurden abgebaut, die soziale Absicherung gegen Lebensrisiken wie Krankheit oder Erwerbslosigkeit wurden immer stärker zusammengestrichen, die Bildung verkümmert und die öffentliche Infrastruktur – seien es nun Straßen, (Hoch-)Schulen, Versorgungsnetze oder Abwassersysteme – verfällt immer mehr.

Auch in Sachen Steuern findet der von den neoliberalen EU-Vordenkern erwünschte Steuerwettlauf statt, und zwar massiv. Die derzeitigen Schuldenprobleme vieler Euro-Staaten sind zu einem erheblichen Teil durch einen Rückgang ihrer Steuereinnahmen bedingt, weil die Steuern für Unternehmen und vermögende Privatpersonen gesenkt und die reale Eintreibung genau dieser Steuern immer systematischer vernachlässigt wird. Hier reicht es übrigens nicht, mit dem Finger auf griechische Verhältnisse zu zeigen. Es ist auch in Deutschland in einigen Regionen längst üblich, dass um Unternehmensansiedlungen mit dem Argument geworben wird, das Finanzamt vor Ort würde schon mal ein Auge zudrücken.

Die EU – und in noch stärkerer Form die Euro-Zone – ernten mit der derzeitigen Krise daher die Früchte ihres Leitbild: Im Wettlauf gibt es nur einen oder wenige Gewinner, und Gewinner gibt es nur, wo es auch Verlierer gibt. Und die Verlierer werden nun mal – auch das eine unausweichliche Konsequenz der Marktlogik – von den Märkten abgestraft.

Man kann sich lange darüber streiten, ob es nicht ein notwendiges Übel oder gar ein Segen der Marktwirtschaft ist, dass schwache Unternehmen aus dem Markt ausscheiden, zerschlagen werden, verschwinden. Wie dumm das neoliberale Leitbild einer EU als Staatenkonkurrenz aber ist, wird spätestens bei der Frage klar, wohin denn eigentlich die EU-Mitgliedsländer verschwinden sollen, die im Staatenwettlauf verlieren. Sollen sie vom „Staaten-Markt“ verschwinden? Soll Griechenland nun zerschlagen werden und die Belegschaft der Griechenland AG – sprich die griechische Bevölkerung – sucht sich eine neue Wirkungsstätte?

Durch die aktuelle Krise sind die Neoliberalen mit ihrem Konzept einer Konkurrenz-EU streng genommen genau da gelandet, wo sie vermeintlich hinwollten: „der Markt“ straft die Verlierer der Staatenkonkurrenz ab und zwingt sie so zu „Anpassungen“. Offensichtlich wurden die dominierenden Regierungen der EU, allen voran die deutsche Bundesregierung, aber von der Wucht überrascht, mit der die Finanzanleger den Krisenstaaten den Geldhahn zudrehten. Deswegen war Krisenmanagement gefragt. Die Regierungen der Euro-Zone haben deshalb zwei Entscheidungen getroffen. Die erste – richtige – Entscheidung war, Griechenland, Portugal und Irland „vom Markt zu nehmen“ und die (Re-)Finanzierung der Krisenstaaten zeitweise über staatliche Kredite der Regierungen abzudecken. Die zweite – verheerend falsche – Entscheidung war, diese Kredite mit extrem brutalen Sparauflagen, Lohnkürzungen und Privatisierungszwängen zu verbinden. Wenn ein Land ohnehin in einer Wirtschaftskrise ist, wirkt jeder gesparter Euro doppelt: Erstens schrumpft die Wirtschaft, weil z.B. die öffentlichen Bediensteten niedrigere Gehälter bekommen. Im Zweitrundeneffekt schrumpft die Wirtschaft noch mal, weil dieselben Bediensteten das fehlende Gehalt nicht mehr zum Bäcker, Klempner oder Friseur tragen. Solange die Wirtschaft schrumpft, kann ein Staat seine Schulden nicht senken, denn ihm fehlen plötzlich viele Einnahmen (v.a. Steuern), er kann seine Ausgaben aber nicht kurzfristig gleich stark senken. Bei Schuldenproblemen muss daher das oberste Credo immer sein, das Einkommen zu halten und langsam zu steigern, und dann durch wohl überlegte zielgenaue Einsparungen (z.B. bei ökologisch kontraproduktiven Subventionen) die Überschüsse zu erhöhen. Die Sparauflagen der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds haben es Griechenland aber verboten, diese ökonomische Binsenweisheit zu befolgen.

Wie sehr sich die Euro-Zone in der Konkurrenz auseinanderentwickelt hat, zeigen die dramatischen Ungleichgewichte in den Handelsbilanzen, wo vor allem Deutschland mit seiner aggressiven Exportorientierung mittels Niedriglohnsektor, Lohndrückerei und Sozialabbau (Agenda 2010, Rente mit 67 etc.) seine europäischen Konkurrenten niederkonkurriert hat. Deutschland hat von 2000 bis 2010 über 1.000 Mrd. Euro an Exportüberschüssen gegenüber dem Ausland aufgehäuft, der größte Teil davon gegenüber den EU-„Partnern“. In keinem anderen Land der Euro-Zone sind die Reallöhne seit Beginn der Währungsunion so wenig gestiegen wie in Deutschland. Deutschland hatte daher die niedrigste Lohnstückkostenentwicklung in ganz Europa und den am schnellsten wachsenden Niedriglohnsektor. Deutschland ist das einzige Land der EU, in dem es weder einen gesetzlichen Mindestlohn noch alternative flächendeckende Schutzmechanismen vor Lohndumping gibt.

Im gleichen Maße, wie Deutschland Exportüberschüsse erwirtschaftet hat, mussten andere Länder Importüberschüsse hinnehmen, denn die Überschüsse der einen sind immer die Defizite der anderen. Allein die Euro-Krisen-Länder Griechenland und Portugal haben von 2000 bis 2010 377 Mrd. Euro an Leistungsbilanzdefiziten aufgehäuft und mussten sich dieses Geld überwiegend im Ausland leihen. Die Krise der Euro-Zone ist daher vor allem und zuerst eine Auslandsschuldenkrise ganzer Länder (inkl. der Auslandsschulden der Privaten Haushalte, Banken und Unternehmen) und nicht primär eine Staatschuldenkrise der öffentlichen Haushalte. Es waren erst die erzwungenen Rettungspakete für die maroden Banken, die aus diesen Auslandsschulden des Privatsektors in Griechenland und Portugal, aber noch stärker in Irland und Spanien, öffentliche Schulden gemacht haben. Die in einzelnen betroffenen Ländern bestehenden Missstände (z.B. die Steuerverwaltung in Griechenland oder das Steuerdumping in Irland) haben diese Situation weiter verschärft. Summa summarum bleibt es aber eine bodenlose Unverschämtheit, wenn die Finanzinvestoren den Staaten nach den erzwungenen Rettungspaketen für Versager-Banken nun vorwerfen, die Staaten könnten nicht mit Geld umgehen.

Wenn die Euro-Krise also zunächst und vor allem eine Auslandsschuldenkrise infolge sehr ungleich verteilter Exporte und Importe in der EU ist – und erst in zweiter Linie eine Folge gewachsener staatlicher Schulden, dann ist eine Lösung der Krise ohne ein Gegensteuern gegen die Leistungsbilanzungleichgewichte völlig aussichtslos. So traurig es ist: die brutalen Spardiktate für die Krisenländer sind nicht nur sozial völlig ungerecht und ökonomisch kontraproduktiv, sie gehen auch schon im Ansatz komplett am Problem vorbei.

Wenn Europa eine ökonomisch stabile und wenigstens in Ansätzen soziale Zukunftsperspektive haben soll, dann braucht Europa erstens ein Regime für eine sehr viel ausgeglichenere wirtschaftliche Entwicklung in den einzelnen Länder. Dazu wird im nächsten Abschnitt die Etablierung einer Europäischen Ausgleichsunion vorgeschlagen. Des Weiteren brauchen die europäischen Gemeinwesen neue Instrumente der Staatsfinanzierung, um sich aus der Umklammerung und von der Willkür der privaten Finanzmärkte zu emanzipieren. Darauf wird im übernächsten Abschnitt eingegangen.

1. Eine Europäische Ausgleichsunion

Die LINKE fordert, den derzeitigen – im Laufe der Krise noch weiter verschärften – Stabilitäts- und Wachstumspakt durch eine „Europäische Ausgleichsunion“ zu ersetzen. Diese Ausgleichsunion wäre ein Regime, das die Wirtschafts-, Sozial-, Fiskal-, und Steuerpolitik der EU-Länder – mindestens aber der Mitgliedsländer der Währungsunion – durch eine Mischung aus Angeboten und Sanktionen zu einem koordinierten und auf Kohärenz gerichteten politischen Handeln bewegt[1] .

Der Ausgangspunkt der Europäischen Ausgleichsunion ist die Überzeugung, dass es verbindliche Obergrenzen für Leistungsbilanzungleichgewichte geben muss. Kurzfristig, d.h. pro Jahr, sollten Leistungsbilanzüberschüsse bzw. -defizite nicht höher als drei Prozent des BIP des jeweiligen Landes betragen dürfen. Eine solche Obergrenze wäre ein ausreichender Puffer für konjunkturelle Schwankungen, wenn ein Land wegen guter inländischer Konjunktur zeitweise mehr importiert oder wegen guter Konjunkturen im Ausland vorübergehend mehr exportiert. Eine Begrenzung der jährlichen Ungleichgewichte auf drei Prozent des BIP reicht aber nicht aus, denn ein Land, das permanent Ungleichgewichte in dieser Höhe ansammelt, landet früher oder später unweigerlich in einer Schuldenfalle (bei dauerhaften Importüberschüssen) bzw. baut Gläubigeransprüche gegenüber seinen Handelspartnern auf (bei dauerhaften Exportüberschüssen), die früher oder später wegen Überschuldung dieser Handelspartner uneinbringlich und damit wertlos werden. Im statischen Fall (kein BIP-Wachstum, keine Zinsen auf aufgelaufene Schulden) hat ein Land mit dauerhaft drei Prozent Importüberschuss nach 25 Jahren Auslandsschulden von 75 Prozent des BIP angehäuft. Realistischer ist hingegen, dass ein solches Land in diesem Zeitraum mit ca. 2,5 Prozent jährlich wächst, aber auf die sich anhäufenden Schulden Zinsen (angenommen 5 Prozent) zahlen muss. In diesem Fall lägen die Auslandschulden nach 15 Jahren bei 61 Prozent des BIP. Ein doppelt so hohes BIP-Wachstum von fünf Prozent reduziert diese Dynamik nur begrenzt: nach 25 Jahren lägen die Auslandsschulden bei immerhin 47 Prozent des BIP. In den vergangenen Jahren waren die Ungleichgewichte in der Euro-Zone freilich viel größer als drei Prozent pro Jahr. So sammelte Griechenland in den Jahren 2000 bis 2010 Leistungsbilanzdefizite von 91 Prozent des BIP an, bei Portugal waren es sogar 98 Prozent. Die bereits genannten über 1.000 Mrd. Euro deutscher Überschüsse in diesem Zeitraum entsprechen 41 Prozent des deutschen BIP.

Neben einer kurzfristigen Obergrenze für Ungleichgewichte bedarf es also offensichtlich auch einer mittel- und langfristigen Obergrenze, um Defizitländer vor der Sackgasse einer außenwirtschaftlichen Überschuldung zu bewahren. Je größer der Exportsektor eines Landes ist, desto größer sind seine Chancen, Auslandsschulden durch Exportüberschüsse abzubauen. Wir plädieren daher dafür, die maximale Höhe der Auslandsschulden aus Leistungsbilanzungleichgewichten (zugegebenermaßen etwas willkürlich) auf die Höhe der jährlichen Exporteinnahmen zu begrenzen. Für ein Land vom Typus Deutschland, in dem knapp die Hälfte des BIP im Exportsektor entsteht, entspräche das einer Begrenzung der aufaddierten Ungleichgewichte auf 50 Prozent des BIP. Wo auch immer eine solche Obergrenze gezogen wird: das Vorhandensein einer derartigen Obergrenze bedeutet für alle Länder, dass sie nach einem begrenzten Zeitraum von fortgesetzten Überschüssen oder Defiziten zu ausgeglichenen oder ins Gegenteil verkehrten Leistungsbilanzen wechseln müssen. Die Höhe der Obergrenze legt daher letztlich nur den maximalen Zeitraum fest, innerhalb dessen ein Land seine Außenwirtschaft auf den Pfad des Gleichgewichts bringen muss.

Zur Veranschaulichung ein Zahlenbeispiel (ohne Wachstum und ohne fällige Zinszahlungen): Ein Land A hat ein BIP von 100 Euro, produziert also Güter und Dienstleistungen im Wert von 100 Euro im Jahr. Davon werden – ähnlich wie in Deutschland – 50 Prozent, also Güter im Wert von 50 Euro exportiert. Die kurzfristige Schwankungsbreite für Leistungsbilanzungleichgewichte beträgt 3 Prozent von 100 Euro, also 3 Euro. Die langfristige Obergrenze in Höhe der Exporterlöse beträgt entsprechend 50 Euro. Wenn dieses Land A nun über zehn Jahre den maximal zulässigen jährlichen Leistungsbilanzüberschuss von drei Prozent erzielt, dann haben sich diese Überschüsse nach zehn Jahren auf 30 Euro addiert. Bei einer langfristigen Obergrenze von 50 Euro wird rechnerisch klar, dass das Land A auf die Dauer so nicht weitermachen kann, weil es ansonsten im siebzehnten Jahr diese Obergrenze verletzt.

Abbildung: Zielkorridore für Leistungsbilanzen in der Europäischen Ausgleichsunion über 15 Jahre für ein Land mit 50% Exportanteil am BIP

 

Um die Einhaltung der kurzfristigen Schwankungsbreite und der langfristigen Obergrenze durchzusetzen, erhält die Europäische Ausgleichsunion ein verbindliches Verfahren gestaffelter Anreize und Sanktionen ähnlich dem existierenden Stabilitäts- und Wachstumspakt für die öffentlichen Haushalte. Diese Sanktionen enthalten einerseits Strafzahlungen und andererseits politische Auflagen.

Die politischen Auflagen haben die Form eines Vertragsverletzungsverfahrens und greifen, sobald ein Land die kurzfristige Grenze von drei Prozent des BIP verletzt oder die langfristig zulässige Obergrenze in Höhe der Exporterlöse zur Hälfte ausgeschöpft hat, d.h. wenn im oben genannten Beispiel die kummulierten Ungleichgewichte des Landes A auf 25 Euro angewachsen sind. In beiden Fällen würde die EU-Kommission einen „Blauen Brief“ verschicken, der das Land verpflichtet, sich gegenüber dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament öffentlich zu erklären, wie das Land die Ungleichgewichte abzubauen gedenkt. Sollte diese Erklärung von einer der beiden Institutionen nicht akzeptiert werden oder das Land die selbst gemachten Verpflichtungen zum Abbau der Ungleichgewichte nicht einhalten, muss das Land entsprechend nachbessern und erneut vor Rat und Parlament Rechenschaft ablegen.

Schon vor der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahren würde ein schrittweise eskalierender finanzieller Sanktionsmechanismus greifen. So sollten Länder eine jährliche Strafgebühr von einem Prozent für den Teil ihrer kumulierten Ungleichgewichte zahlen müssen, der 25 Prozent der langfristigen Obergrenze übersteigt (im o.g. Fallbeispiel also ein Prozent auf alles, das über 12,50 Euro kumuliertes Ungleichgewicht hinausgeht). Über 25 Prozent – also parallel zur Eröffnung des politischen Vertragsverletzungsverfahrens – wären zwei Prozent fällig. Bei kumulierten Überschüssen über 75 Prozent der langfristigen Obergrenze würden vier Prozent Strafgebühr erhoben. Diese dritte Stufe gilt aber nur für Überschussländer, da es denen grundsätzlich eher zuzumuten ist ihnen deutlich mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen, um Ungleichgewichte zu reduzieren.. Bei Überschreitung der langfristigen Obergrenze für Überschüsse wird die Notbremse gezogen und die Strafgebühr für die darüber hinaus gehenden Überschüsse erhöht sich schlagartig auf 100 Prozent. Die Strafgebühren sind selbstverständlich von den nationalen Regierung zu zahlen und nicht von einzelnen Exporteuren oder Importeuren, die mit ihrer Geschäftstätigkeit die jeweiligen Grenzwerte überschreiten.

Die Strafgebühren würden einem Fonds zufließen, aus dem Projekte der europäischen Struktur- und Kohäsionsförderung finanziert werden könnten, um den auf Ausgleich der Leistungsbilanzen gerichteten Strukturwandel in Überschuss- und Defizitländern zu beschleunigen.

Der beschriebene Sanktionsmechanismus ist vornehmlich als Drohkulisse zu verstehen, die dafür sorgt, dass sich alle Länder der EU bzw. der Währungsunion an einer verbesserten und vertieften makroökonomischen Koordinierung beteiligen. Denn nur, wenn die Mitgliedsländer ihre Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Sozial-, Steuer- und Strukturpolitik sinnvoll und vorausschauend abstimmen, können die Grenzwerte der Ausgleichsunion eingehalten und ein Vertragsverletzungsverfahren sowie Strafzahlungen abgewendet werden.

Für ein Land wie Deutschland, das in der Vergangenheit Exportüberschüsse von über 6 Prozent des BIP produziert hat, bedeutet ein Ausgleich der Leistungsbilanz eine gewaltige Aufgabe, die sowohl Maßnahmen zur Steigerung der Importe als auch eine Senkung der Exportabhängigkeit erforderlich macht. Die sinnvollste Lösung wäre zweifellos eine Ausweitung der Binnenkaufkraft durch eine Anhebung des Lohnniveaus, weil dies gleichzeitig hilft, aus ökonomischer Sicht die deutsche Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu den Nachbarländer wieder auf ein für Europa verträgliches Niveau zu senken bzw. aus verteilungspolitischer Sicht die Lohnentwicklung endlich wieder auf ein sozial verträgliches Niveau anzuheben. Für die deutsche Bundesregierung kommt dazu unmittelbar z.B. die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, höhere Löhne im öffentlichen Dienst, eine Erhöhung der staatlichen Transferleistungen für Erwerbslose, RentnerInnen und andere Personen mit niedrigem Einkommen und öffentliche Investitionen in den sozialökologischen Umbau (z.B. in den Bereichen Bildung, Energieeffizienz, Wärmedämmung, Erneuerbare Energien, Gesundheit, Kinderbetreuung, ökologischer Aus- und Umbau des Personen- und Güterverkehrs in Richtung Schiene, ÖPNV und Elektromobilität) in Frage. Zu den indirekten Möglichkeiten der Politik, die Lohnfindungsprozesse in der Privatwirtschaft zugunsten der Lohnabhängigen zu beeinflussen, gehören z.B. das Zurückdrängen des Niedriglohnsektors, eine Senkung des Renteneintrittsalters, die gesetzliche Stärkung von Flächentarifverträgen oder ein Ausbau des Streikrechts.

Ohnehin stehen wir vor der Aufgabe, die heimische Wirtschaft in eine klimaneutrale umzubauen, und aufgrund des demografischen Wandels neue, hochwertige Arbeitsplätze in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Pflege und Infrastruktur zu schaffen. Eine Stärkung der Binnennachfrage ist eine wesentliche Stütze für einen solchen Strukturwandel hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft.

Eine Europäische Ausgleichsunion wäre ein wichtiger Katalysator bzw. wichtiges Druckmittel, um in Deutschland einen lange überfälligen Strukturwandel hin zu stärkerer Binnenorientierung und weg von der Exportabhängigkeit zu schaffen. In diesem Sinne stellt eine „Europäische Ausgleichsunion“ nichts anderes als eine ins Hier und Jetzt übertragene internationale Anwendung des nach wie vor gültigen Stabilitätsgesetzes von 1967 dar („Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“), in dem die Bundesregierung verpflichtet wird, zur Wahrung des gesamt-wirtschaftlichen Gleichgewichts unter anderem wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahmen zu ergreifen, die zu einem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht beitragen. Statt das europäische Projekt durch die europäische Verallgemeinerung der jüngst beschlossenen deutschen Schuldenbremse zum Stillstand zu bringen, sollte eine „außenwirtschaftliche Schuldenbremse“ das Auseinanderdriften Europas verhindern und Europa auf dem Wege einer „Ausgleichsunion“ gesamtwirtschaftlich und solidarisch zusammenführen.

2. Eine Staatsfinanzierung ohne Diktat der Investoren

Die Euro-Krise hat allen deutlich vor Augen geführt, wie anfällig die bisher als quasi selbstverständlich und zuverlässig angesehenen Instrumente der öffentlichen Finanzierung sind: innerhalb weniger Monate wurde es für mehrere EU-Länder unmöglich und für einige andere EU-Länder unsicher, sich die für den regulären Betrieb eines Staatswesens nötigen Finanzmittel am privaten Kapitalmarkt zu besorgen. Dabei geht es gar nicht so sehr um die laufenden staatlichen Defizite, also die Aufnahme zusätzlicher Schulden. Viel größer ist der Bedarf an Kreditaufnahme, um die bestehenden, mit bestimmten Fristen auslaufenden Altschulden durch neue Schulden abzulösen. Wenn das oben genannte Land A bei einem BIP von 100 Euro die geltende Verschuldungsgrenze der EU von 60% Staatsschulden/BIP einhält, und seine Schulden eine durchschnittliche Laufzeit von 10 Jahren haben, dann müssen im Mittel jedes Jahr 6 Euro Altschulden zurückgezahlt werden. Das ist doppelt so viel wie die nach Maastricht-Vertrag zulässige Neuverschuldung des Landes A von 3 Prozent bzw. 3 Euro. Wollte sich das Mitgliedsland A der Europäischen Währungsunion von den Unsicherheiten und Turbulenzen eines privaten Kapitalmarktes unabhängig machen – oder wäre es aufgrund seiner gesunkenen Bonität dazu gezwungen –, dann muss es also nicht nur auf Nettoneuverschuldung verzichten, sondern darüber hinaus die anfallenden Tilgungen der Altschulden aus Haushaltsüberschüssen finanzieren, um nicht als zahlungsunfähig zu gelten. Kaum ein Land ist zu so einem Kraftakt in der Lage.

Wer die Finanzierung demokratischer Gemeinwesen von der Willkür bzw. Unsicherheit privater Kapitalmärkte möglichst abschotten will, um für demokratische Politik Gestaltungsspielräume freizuhalten, der muss sich zwangsläufig nach neuen Refinanzierungsformen des Staates umsehen. Im Folgenden wird in diesem Sinne auf die Rolle der Europäischen Zentralbank und die Potentiale gemeinschaftlich begebener europäischer Staatsanleihen, sog. Euro-Bonds, eingegangen.

A. Für eine neue Rolle der EZB

Dass die Mitgliedsländer der Europäischen Währungsunion besonders anfällig für Refinanzierungsprobleme bei der Staatsverschuldung sind, ist kein Zufall. Es ist vielmehr die Folge eines zweiten grundlegenden Konstruktionsfehlers der Währungsunion, genauer gesagt der Fehlkonstruktion der Europäischen Zentralbank (EZB). Während andere Länder wie die USA, Großbritannien oder Japan mit einer zum Teil vergleichbaren, zum Teil deutlich höheren öffentlichen Verschuldung kaum oder gar nicht von Refinanzierungsschwierigkeiten betroffen sind, hat die Konstruktion der EZB bei internationalen Kapitalanlegern für erhebliche Verunsicherung gesorgt und damit die Euro-Krise erheblich verschärft. Denn in den genannten Ländern wirken die nationalen Zentralbanken als Garanten der Zahlungsfähigkeit der Nationalstaaten. Das dortige politische Establishment wie auch die meinungsführenden Ökonomen und Banker finden es selbstverständlich, dass die Federal Reserve Bank, die Bank of England und die Bank of Japan „ihren“ Zentralregierungen durch „Marktpflege“ – spricht Interventionen – die Finanzierung der öffentlichen Haushalte erleichtern. In den Verfassungen dieser Zentralbanken werden bewusst erhebliche Spielräume für diese konstruktive Rolle gelassen, während eine solche unterstützende Rolle der EZB untersagt ist. Das liegt daran, dass die EZB auf Druck der Regierung Kohl/Waigel und der Deutschen Bundesbank Ende der 1990er Jahre sehr weitgehend nach dem Vorbild der Bundesbank konzipiert wurde. So wie heute die EZB brüstete sich die Bundesbank schon immer, eine Unterstützung des Staates durch die Zentralbank bei der Kreditaufnahme sei ein Sündenfall und mit ihnen nicht zu machen.

Der internationale Vergleich zeigt, dass eine solche Position maßlos ideologisch überhöht ist. Zum Glück wird sie von der EZB – nicht zuletzt aufgrund der dramatischen Probleme − in der Praxis schon heute deutlich pragmatischer gehandhabt. Durch ihre Anleihekäufe auf dem Sekundärmarkt hat die EZB, wenn auch zunächst nur sehr unwillig, bewusst dazu beigetragen, die Refinanzierungskosten für Länder wie Portugal, Spanien oder Italien zu senken. Noch eindeutiger als Unterstützung der Staatsfinanzierung sind die beiden 3-Jahres-Tender der EZB anzusehen: Kurz vor Weihnachten 2011 und nochmals Ende Februar 2012 hat die EZB den Geschäftsbanken Liquidität im Gesamtumfang von ca. 1.000 Mrd. Euro für die außergewöhnlich lange Laufzeit von drei Jahren bereitgestellt. Die meisten Beobachter gehen davon aus, dass ein großer Teil dieser Mittel von den Geschäftsbanken dazu verwandt wurde bzw. wird, europäische Staatsanleihen zu kaufen und so die Refinanzierung der Euro-Staaten deutlich zu erleichtern.

Die Praxis der EZB gerät damit immer mehr in Konflikt mit ihren sehr restriktiven Statuten. Dieser Konflikt muss gelöst werden, aber keinesfalls dadurch, dass die EZB ihre „außergewöhnlichen, temporären Maßnahmen“ einstellt. Es ist vielmehr längst überfällig, dass die EZB-Statuten endlich den in der realen Welt erforderlichen Handlungsspielräumen und existierenden Herausforderungen angepasst und entsprechend entdogmatisiert werden.

Es ist aber keineswegs nur die EZB, die mit ihrer immer noch übertrieben vorsichtigen Haltung einen pragmatischen Umgang mit den Zahlungsprobleme in der Euro-Zone behindert. Die europäischen Regierungen selbst sind es, die sich und den Bürgerinnen und Bürgern in Europa – und zwar auf Druck einer komplett starrköpfigen deutschen Bundesregierung – ein pragmatisch-intelligentes Vorgehen verwehren.

Ausdruck dieser Selbstbehinderung sind die Strukturen der sogenannten „Euro-Rettungsschirme“. Die als Provisorium konzipierte „Europäische Finanz-Stabilisierungs-Fazilität (EFSF), die 2010 ins Leben gerufen wurde, und der auf Dauer angelegte „Europäische Stabilitäts-Mechanismus“ (ESM), der ab Mitte 2012 den EFSF ablösen soll, sind beide mit dem Anspruch geschaffen worden, Finanzinvestoren zu beruhigen und Refinanzierungsschwierigkeiten zu überwinden. Dies soll erreicht werden, indem die beiden Rettungsschirme bei Zahlungsschwierigkeiten eines Landes der Euro-Zone kurzfristig mit Hilfszahlungen einspringen können sollen und dadurch eine Vertrauenskrise der Anleger bestenfalls schon im Vorhinein vermieden oder sonst spätestens zu Beginn eines Zahlungsproblems schnell beendet wird. Beide Schirme können diesem Anspruch nicht genügen, denn beide dürfen Hilfskredite erst bereitstellen, wenn mit dem Nehmerland ein dezidiertes und im Details ausverhandeltes Anpassungsprogramm vereinbart wurde. Nicht erst seit Griechenland und Portugal wissen alle Beteiligten aber sehr genau, dass ein solches Programm nicht über Nacht entsteht bzw. von den dazu bestimmten demokratischen Institutionen in den einzelnen Krisenländern beschlossen werden kann. Wer ein brennendes Haus löschen will, ist stets gut beraten, sofort bei Entdeckung des Feuers mit dem Löschen zu beginnen und nicht das Eintreffen sämtlicher Feuerwehr-Einheiten und die notariell beglaubigte Fassung der dritten Ausfertigung des Brandbekämpfungsplans abzuwarten. Auch ist es wenig sinnvoll, erst mal die Verhandlungen mit dem Hauseigentümer darüber abzuschließen, wo dieser nach Abschluss der Löscharbeiten Rauchmelder und Löschwasserrohre installieren muss. In beiden Fälle wäre das Feuer bis dahin längst außer Kontrolle und das (europäische) Haus wäre abgebrannt.

Auch bei der Ausgestaltung der Schlagkraft der Rettungsschirme, sozusagen bei den Löschmittelvorräten der Finanzfeuerwehr, wurde ähnlich dilettantisch vorgegangen. So wurde beiden Rettungsfonds eine kurzfristige Refinanzierung über die Zentralbank untersagt. In unserem Beispiel gleicht das dem Beschluss, dass die Feuerwehr auf gar keinen Fall Löschwasser aus dem öffentlichen Trinkwassernetz entnehmen darf, was kurzfristig unbegrenzt Löschwasser zur Verfügung stellen könnte. Aus Angst, das Löschwasser könnte die Umgebung überfluten, plädiert insbesondere die deutsche Bundesregierung dafür, lieber nur die abgezählten Löschmittel der bewilligten Feuerwehrwagen auszuschöpfen. Und wenn das nicht reicht, um den Brand zu löschen? „Darüber wird dann zu reden sein, wenn es soweit ist“, lautet dazu die Aussage des Bundesfinanzministers. Für die unmittelbaren Nachbarn, die Angst davor haben, gleich mit in Flammen aufzugehen, ist das sicherlich keine sonderlich beruhigende Aussage.

Es wäre ein Leichtes gewesen (und das wurde im Übrigen von der französischen Regierung mehrfach vorgeschlagen), den EFSF und den ESM mit einer Banklizenz auszustatten. Als Bank hätte sich der EFSF – wie die Geschäftsbanken – bei der EZB z.B. für drei Jahre Zentralbankgeld zum Leitzins von einem Prozent leihen können, um dieses Geld dann zu niedrigen Zinsen an die Krisenstaaten weiterzugeben. Allein aufgrund der deutschen Blockadehaltung muss sich der EFSF mangels Banklizenz das Geld statt dessen zu deutlich höheren Zinsen (derzeit über 3 Prozent) bei den Banken und Kapitalanlegern leihen. Zugespitzt muss man sagen, dass die dogmatische Haltung der Deutschen Bundesbank und der deutschen Bundesregierung ein gigantisches Subventionsprogramm für die europäischen Banken ist, denn diese realisieren hohe Zinsmargen mit völlig risikolosem Geschäft (die EFSF-Anleihen sind durch alle Euro-Staaten gesamtschuldnerisch garantiert).

Hätte der Rettungsfonds eine Banklizenz, könnte er unter den heutigen Bedingungen seine Kreditkapazität unbegrenzt ausbauen und notfalls unbegrenzt zu günstigen Bedingungen Staatsanleihen aufkaufen. Spekulieren gegen den Rettungsfonds oder Staaten wäre dann schlicht sinnlos und die drohende Staatsinsolvenz der Euroländer gebannt.

Bundesbank, Bundesregierung und orthodoxe deutsche Ökonomen haben derartige Refinanzierungsmöglichkeiten stets mit dem Argument zurückgewiesen, ein solches Modell würde massive Inflationsgefahren in sich bergen. Dieses Argument ist aber bei genauerer Betrachtung völlig unbegründet. Wo liegt der ökonomische Unterschied in Bezug auf Inflationsgefahren, ob ein Staat einen Euro Kredit direkt von der EZB oder vermittelt über eine Geschäftsbank aufnimmt? Es ist derselbe Euro an Kaufkraft, der dadurch in Umlauf kommt, egal auf welchem der beiden Wege. Ein EFSF mit Banklizenz bekäme natürlich nur solange unbegrenzt Liquidität von der EZB, solange alle Geschäftsbanken von der EZB unbegrenzt mit billigem Geld versorgt werden. Dieser vermeintliche Ausnahmezustand hält aber inzwischen seit über drei Jahren an. Im Übrigen ist natürlich sehr verdächtig, dass von den vorgenannten orthodoxen Ökonomen niemand erklärt, warum die 1.000 Mrd. Euro in den Händen der Banken inflationsmäßig unbedenklich sein sollen, wenn sie gleichzeitig jede Überlegung hinsichtlich einer direkten Beteiligung der EZB am Griechenland-Rettungspaket (z.B. in Höhe eines niedrigen zweistelligen Milliardenbetrags) als Einstieg in eine Inflationsspirale verteufelt haben. Sobald sich ernstzunehmende Inflationsrisiken abzeichnen, kann man bei der heutigen Verfasstheit der EZB sicher sein, dass die unbegrenzte Liquiditätsversorgung ein sofortiges Ende hat und die Leitzinsen steigen. Die Inflationsgefahr, die von einem EFSF mit Banklizenz ausginge, ist daher genau so groß wie die der Banklizenz der Deutschen Bank, der Commerzbank, der Landesbank Baden-Württemberg oder der DZ-Bank.

Betrachtet man die weiter oben geschilderte pragmatische Abweichung der EZB von ihren Statuten, so wird das ganze Ausmaß des selbst auferlegten Statuten-Irrsinns deutlich: Um ihre eigenen Regeln nicht zu verletzten, muss die EZB den Banken riesige Gewinnmöglichkeiten einräumen, wenn sie den Staaten die Refinanzierung wenigstens ein wenig erleichtern möchte. Sie ist im sprichwörtlichen Sinne dazu verurteilt, soviel Hafer wie möglich an die Pferde zu verfüttern, um dann darauf zu hoffen, dass die Vögel in den Pferdeäpfeln anschließend mehr Haferreste zu Essen finden.

Natürlich sind die Aktivitäten des EFSF und zukünftig des ESM sehr kritisch zu sehen, weil an die Kredite die oben geschilderten Austeritäts-, Kürzungs- und Privatisierungsauflagen geknüpft sind, die gleichermaßen unsozial wie ökonomisch kontraproduktiv wirken. Sieht man aber von diesen Konditionalitäten ab, so ist ein schlagkräftiger und kurzfristig handlungsfähiger Europäischer Finanzierungsmechanismus für Krisenfälle grundsätzlich durchaus wünschenswert. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat in diesem Sinne die Gründung einer Europäischen Bank für öffentliche Anleihen vorgeschlagen, die als reguläre Bank Staatsanleihen am Primärmarkt ankauft und sich über die EZB refinanziert. Die Verzinsung der Staatsanleihen müsste dann nur geringfügig über dem EZB-Leitzins liegen, auf eine Fristenkongruenz müsste natürlich geachtet werden.

Ob EFSF mit Banklizenz oder Europäische Bank für öffentliche Anleihen: längerfristig kann es nicht Sinn der Sache sein, sich intelligent an den gesetzten dümmlichen Regeln vorbei zu mogeln, sondern erkennbar dümmliche Regeln müssen geändert werden. Das ist nicht nur eine ökonomisch-technische, sondern auch eine demokratische Frage, denn kaum eine Bürgerin und ein Bürger in Europa kann sich derzeit mit der EZB als „seiner Zentralbank“ identifizieren. Zu komplex und letztlich widersinnig sind die Statuten der EZB und es kommt nicht von ungefähr, dass viele Bürgerinnen und Bürger die EZB eher als Anwalt der Banken denn als Anwalt der Bevölkerungen wahrnimmt. Es sind aber insbesondere die Bevölkerungen in den vermeintlichen Krisenstaaten Griechenland, Portugal, Irland, Spanien und Italien, die für die verbohrte Position der deutschen Bundesregierung, der Bundesbank und der EZB die Zeche zahlen. Einer vermeintlich demokratisch legitimierten Zentralbank ist ein solches Verhalten unwürdig, einer Bundesregierung natürlich auch.

B. Euro-Bonds als ein langfristiger Refinanzierungskanal einer demokratischen Staatengemeinschaft

Wie vorgehend erläutert gibt es sehr vernünftige Gründe, dass eine Zentralbank den öffentlichen Haushalten ihres Landes zu denselben Konditionen Geld bereitstellen sollte, wie sie dies gegenüber den Banken tut. Im Fall der Währungsunion sollte daher die EZB den Mitgliedsländern der Euro-Zone entsprechend Kredite zum Leitzins anbieten.

Damit sind aber auch die Grenzen eines solchen Refinanzierungskanals abgesteckt: wenn aufgrund einer wirtschaftlichen Erholung die Nachfrage zunimmt, die Auslastung der Produktionskapazitäten zunimmt und zusätzliches Zentralbankgeld dann primär zu Inflation führen würde, zieht eine Zentralbank üblicherweise die Zinszügel an und schränkt die Verfügbarkeit von Zentralbankgeld ein. In einer solchen Situation, in die Europa und Deutschland hoffentlich bald als Ergebnis eines Endes der Krise kommt, braucht der Staat andere Refinanzierungsinstrumente, wenn er sich von den Finanzmärkten emanzipieren will. Der einfachste Weg, die einzelnen Euro-Länder vor der Willkür und Sprunghaftigkeit der Kapitalmärkte zu schützen, wäre eine (Teil)Vergemein-schaftung der Ausgabe von Staatsanleihen, häufig unter dem Begriff „Euro-Anleihen“ bzw. „Euro-Bonds“ bekannt.

Hinter dem Begriff verbergen sich im Detail recht unterschiedliche Konzepte, die jedoch folgendes gemein haben: die Euro-Länder mit schlechten Ratings, d.h. niedriger Bonität und entsprechend hohen Zinskosten, sollen von den niedrigeren Zinskosten der Euro-Länder mit besserem Rating profitieren. Dazu müssten Anleihen ausgegeben werden, für die nicht nur ein einzelnes Land, sondern die Gemeinschaft der Euro-Staaten bürgen.

Für die konkrete Ausgestaltung gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Vorschläge. Nachdem die Frage gemeinschaftlicher Anleihen schon einmal in den 1990er Jahren – und dabei mehrheitlich ablehnend – diskutiert wurde, machte das Breugel-Institut im Zeichen der Krisen in Griechenland und Portugal 2010 den Vorschlag, dass Euro-Länder entsprechend der Verschuldungsgrenze des Maastricht-Vertrags bis zu 60 Prozent ihres BIP Euro-Anleihen aufnehmen dürften, für die die anderen Euro-Länder mithaften (sog. „Blue-Bonds“). Alle darüber hinausgehenden Staatsschulden müssten die Länder weiterhin in einzelstaatlicher Haftung begeben (sog. „Red-Bonds“) (siehe Delpla/von Weizsäcker; 2010). Auf diesen Vorschlag gab es drei gegensätzliche Reaktionen: die Rechts-Nationalen lehnten ihn – wie alle anderen realen oder vermeintlichen Hilfen für Krisenländer – aus nationalistischen Gründen ab. Die Neoliberalen argumentierten, damit werde die „disziplinierende Wirkung“ der Finanzmärkte sabotiert und lehnten jegliche Ansätze gemeinschaftlicher Anleihen daher ebenfalls ab. Die Pragmatiker von Mitte bis Links hingegen zweifelten an der Sinnhaftigkeit der 60%-Schwelle: Alle Länder, für die Euro-Anleihen eine ernsthafte Zinsentlastung bringen sollen, haben deutlich höhere Verschuldungsquoten als 60% des BIP. Die bereits bestehenden europäischen „Hilfskredite“ (bilateral zwischen den Regierungen der Euro-Zone und durch den Rettungsschirm EFSF – Europäische Finanzstabilistäts-Fazilität), die ebenfalls als eine Form der Vergemeinschaftung von nationalstaatlichen Kreditrisiken angesehen werden können, überschritten ebenfalls die 60%-Schwelle und daher könnten die Krisenländer nach dem Breugel-Vorschlag derzeit überhaupt keine Blue-Bonds emittieren. Offen ist dann also die Frage, ob man die Schwelle deutlich anheben, oder ob man überhaupt keine Schwelle haben will bzw. ob und wie Bedingungen mit einer Kreditaufnahme über vergemeinschaftete Anleihen verbunden werden sollten. Dabei ging es auch um die Frage, ob Euro-Anleihen primär zur akuten Finanzierung einiger, eher kleinerer Euro-Krisenstaaten dienen sollten, oder ob alle Länder der Euro-Zone ihre bisher nationalen Anleihen ganz oder teilweise auf Euro-Bonds umstellen sollten.[2]

Wichtig für letztere Frage ist, wieweit eine weitgehende Umstellung der Staatsfinanzierung in der Euro-Zone mehr ist als ein Nullsummenspiel, bei dem die stärkeren Euro-Staaten die Krisenländer über ihre Bonität quasi quersubventionieren, sie dafür aber für die damit verbundenen Risiken im Gegenzug mit einem moderaten Rückgang ihrer eigenen Kreditwürdigkeit rechnen müssten. Das ist zwar nicht ausgeschlossen, aber in der Summe ist sicher zu erwarten, dass sich mit gemeinschaftlichen Euro-Anleihen für Krisenländer wie Griechenland, Portugal oder Irland mehr Zinskosten einsparen ließen, als es die anderen Euro-Länder belasten würde. Es gibt im Gegenteil sogar die Argumentation, dass sogar für Länder wie Deutschland die Zinsen durch Euro-Anleihen fallen könnten. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass durch eine weitgehende Umstellung auf Euro-Anleihen in Europa ein einheitlicher Staatsanleihemarkt entstehen würde, der es im Volumen mit den US-Staatsanleihen aufnehmen könne und dadurch für viele Anleger deutlich attraktiver würde. Für das Anlagekalkül der Zentralbanken Chinas, Japans und anderer nicht-europäischer Überschussländer klingt das jedenfalls durchaus plausibel, denn sie bekämen damit eine ernstzunehmende Alternative zum US-Dollar bei der Anlage ihrer Devisenreserven.

Ob und wieweit derartige Synergieeffekte greifen würden, bleibt weitgehend Spekulation. Gäbe es allerdings einen wie in Abschnitt zur Europäischen Ausgleichsunion geschilderten Politikwechsel, der auch Deutschland zu einer für seine Europäischen Nachbarn erträglichen Wirtschaftspolitik nötigen würde, dann gibt es keinen Grund, einen weitreichenden Umstellungsversuch auf Euro-Anleihen nicht zu machen. Erstens wäre ein solcher Politikwechsel eine wichtige Voraussetzung und durchaus realistische Chance, dass die Krisenländer zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung zurückfinden und ihre Staatschulden bedienen können. Dann dürfte das Projekt „Euro-Anleihen“ ein Erfolg werden. Wenn es umgekehrt bei der Umstellung auf Euro-Anleihen im schlechtesten Fall dazu kommt, dass Deutschland einen Teil von weiteren, krisenbedingten Kreditausfälle Griechenlands und Portugals übernehmen muss, dann wäre das eben der Preis für die unsolidarischen Leistungsbilanzüberschüsse, die Deutschland zuvor angehäuft hatte. Im übrigen sind dieselben Risiken heute ohnehin schon vorhanden, denn wenn Griechenland und andere Krisenländer in die Zahlungsunfähigkeit rutschen, wird Deutschland über seine bilateralen Kredite und seine Beiträge zu den „Rettungsschirmen“ EFSF und ESM ohnehin als Gläubiger einen Großteil der Kosten übernehmen müssen.

Zusammenfassend ist es daher sinnvoll und wünschenswert, dass sich die Regierungen der Euro-Zone auf das Experiment Euro-Anleihen einlassen, wenn sie – und insbesondere die deutsche Bundesregierung – gleichzeitig die notwendigen Schritte zum Abbau der Leistungsbilanzungleichgewichte einleiten.

Solange letzteres nicht passiert, machen Euro-Anleihen allerdings nur eingeschränkt Sinn, denn die Währungsunion wird dann so oder so in wenigen Jahren auseinanderbrechen. Für einen danach – hoffentlich doch irgendwann noch stattfindenden – zukünftigen Anlauf zu einem solidarischen Projekt einer europäischen Währungszusammenarbeit wäre es dann schade, wenn die Idee von Euro-Anleihen bereits zuvor von einer falsch konstruierten Währungsunion mit in den Abgrund gezogen und politisch verbrannt worden wäre.

Ausblick

„Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“, so beschrieb Bundeskanzlerin Merkel ihre Einschätzung der Lage. Muss sich also die LINKE an der Rettung des Euro beteiligen? Es ist sicher richtig, dass es nicht Aufgabe der LINKEN sein darf, die EU in ihrer bestehenden Form zu befestigen. Die EU in den Verträgen von Maastricht und Lissabon verdient keine Unterstützung. Umgekehrt ist es aber brandgefährlich, mit der Euro-Krise die Hoffnung zu verbinden, das Ziel einer europäischen Annäherung und guten Nachbarschaft sei durch einen Kollaps der EU leichter zu bewerkstelligen.

Entweder gelingt es, einen neuen Prozess der europäischen Integration anzustoßen, oder das – in seiner heutigen Ausprägung durchaus ambivalente – Projekt verstärkter europäischer Nachbarschaft in der EU könnte zu Ende gehen.

Es ist daher heute notwendiger denn je, dass Europa aus Deutschland auch andere Stimmen als das Merkelsche Spardiktat hört. Andernfalls verfestigt sich in Europa nicht nur der Eindruck, dass Deutschland gegenüber seinen Nachbarn rücksichtslos ignorant vorgeht. Sondern noch schlimmer: in Europa wächst rapide die Befürchtung vor einem neuen wirtschafts-imperialen deutschen Chauvinismus, und dies weckt berechtigterweise sehr böse Erinnerungen. Wie berechtigt diese Befürchtungen sind, hat Volker Kauders überhebliche Äußerung, Europa spreche jetzt deutsch, beängstigend klar gemacht.

Auch wenn es manchem übertrieben erscheinen mag: die Überwindung der verhärteten deutschen Exportüberschüsse und damit ein Abbau der Europa dominierenden deutschen Gläubigerposition ist nicht nur ein Gebot ökonomischer Vernunft, sondern könnte zur Gretchenfrage einer friedlichen Zukunft des Kontinents werden.

Schön wäre es, die Bevölkerungen und die Politik würde sich auf dem Weg dorthin auch endlich wieder aller Instrumente und öffentlichen Institutionen bedienen und deren Spielräume im Interesse des Gemeinwesens ausnutzen und ausbauen. Solange die herrschende europäische Politik an der dogmatischen Verfasstheit der Europäischen Zentralbank und einer auf Austerität orientierten Fiskalpolitik festhält und lieber den Banken als den Staaten hilft, solange werden die Bürgerinnen und Bürger Europas für „ihre“ Regierungen vornehmlich Verachtung empfinden. So traurig es für die Demokratie in Europa ist: diese Verachtung ist berechtigt und kann daher leider sehr leicht in eine Verachtung der Demokratie selbst umschlagen. Auch das hat Europa bereits mehrfach erlebt, niemals mit positivem Ausgang. Die deutsche Bundesregierung steht im Zentrum eines europäischen Prozesses, der das Unglaubwürdig-Werden und die Verachtung gegenüber der Demokratie massiv beschleunigt. Eine systemische Krise der Demokratie ist der sicherlich größte anzunehmende Unfall, den die systemischen Krisen des globalen Finanzsystems und der Europäischen Währungsunion nach sich ziehen können. Deutschland muss das als historische Lektion besser wissen als jedes andere Land der Welt.

Literatur

Delpla, J./von Weizsäcker, J. (2010), The Blue Bond Proposal, Breugel Policy Briefs 420, Bruegel, Brüssel 2010

Europäische Kommission (2011): Grünbuch über die Durchführbarkeit der Einführung von Stabilitätsanleihen, KOM(2011) 818, Brüssel

Keynes, John Maynard (1941/1980): Activities 1940-1944: Shaping the Post-War World: The Clearing Union, in: The collected writings of John Maynard Keynes, Vol. XXV, Macmillan/Cambridge University Press, London/Cambridge: 1980.

Troost, Axel/Paus, Lisa (2011): Eine Europäische Ausgleichsunion – Die Währungsunion 2.0, Schriftenreihe Denkanstöße des Instituts Solidarische Moderne Nr. 13, Berlin

 


[1] Die Idee einer Europäischen Ausgleichsunion ist inspiriert vom Vorschlag von John Maynard Keynes, der in den 1940er Jahren im Aufrag der britischen Regierung mit der „International Clearing Union“ einen ähnlich gerichteten Vorschlag in die Verhandlungen über das Weltwirtschaftssystem der Nachkriegszeit einbrachte (siehe Keynes, 1941/1980; Troost/Paus, 2011).

[2] Die Europäische Kommission hat in ihrem „Grünbuch über die Durchführbarkeit der Einführung von Stabilitätsanleihen“ eine Bestandsaufnahme dieser vielfältigen Vorschläge versucht (EU-Kommission 2011).

 

P.S.: Zu linken Strategien in der Eurokrise siehe LuXemburg 2/2012 "Europa, links"