„Zwangsheirat hat nichts mit Religion zu tun“

Der Verein Orient Express unterstützt von Zwangsheirat bedrohte und betroffene Mädchen und Frauen. Die an.schläge fragten Selma Demir und Sevim Gedik nach ihren politischen Forderungen .

an.schläge: Wie definiert sich Zwangsheirat, und wie unterscheidet sie sich von anderen Formen der Eheschließung? Was ist etwa der Unterschied zur „arrangierten Ehe“?

Orient Express: Unter Zwang zu heiraten bedeutet, dass eine Person ohne freie Willenserklärung zu einer Heirat mit einem ihr oder ihm vorgeschriebenen Menschen gezwungen wird. Häufig ist es die Familie, die durch Ausübung psychischer und/oder physischer Gewalt die betroffene Person zu einer Eheschließung zwingt.
Für uns besteht der  Unterschied zwischen einer Zwangsheirat und einer arrangierten Ehe darin, dass bei  arrangierten Ehen die Person das Recht hat, zu bestimmen, ob sie einer Heirat mit dem/der vorgeschlagenen PartnerIn zustimmt oder nicht. Hat sie kein Zustimmungsrecht und wird sie zur Ehe genötigt, sprechen wir von einer Zwangsheirat.

Schon seit über zehn Jahren bietet Orient Express Beratung für Frauen, die von Zwangsheirat betroffen sind. Was sind die dringlichsten Probleme?

Während unserer jahrelangen Arbeit haben sich folgende Forderungen als besonders dringlich herauskristallisiert. Erstens: Es braucht geschützte Unterkunftsmöglichkeiten speziell für von Zwangsheirat bedrohte oder betroffene Mädchen und Frauen. Zweitens müssen genügend Beratungskapazitäten geschaffen werden, dazu braucht es eine finanzielle und personelle Aufstockung von Beratungseinrichtungen, muttersprachliche Beraterinnen, eine Verankerung in den Familienberatungsstellen bzw. eigene Anlaufstellen für Familien und muttersprachliche Elternarbeit. Und es braucht österreichweite Sensibilisierungskampagnen. Wir fordern zudem einen eigenständigen Aufenthaltstitel unabhängig von der Staatsbürgerschaft für betroffene Mädchen und junge Frauen sowie einenAnspruch auf Grundsicherung für von Zwangsheirat Betroffene und Bedrohte, die das Elternhaus verlassen müssen, ebenfalls unabhängig von der Staatsbürgerschaft. Und zuletzt: Es braucht auch eine eigene Beratungsstelle für männliche Jugendliche, speziell bei Bedrohung und Betroffenheit von Zwangsheirat.

Im Rahmen der internationalen Konferenz, die Orient Express im Mai organisiert hat, wurden Best-Practice-Beispiele aus u.a. Großbritannien, Bulgarien und Rumänien vorgestellt. Welche Vorbilder gibt es? Und welche politischen Forderungen stellt Ihr Verein?

In Großbritannien beispielsweise gibt es eine eigene staatliche Institution, die „Forced Marriage Unit“, die zwischen Außen- und Innenministerium angesiedelt ist. Sie bietet Unterstützung bei Fällen von Zwangsheirat. In Bezug auf Rückkehrmöglichkeiten bei drohender Zwangsverheiratung im Ausland – und auch in vielen anderen Bereichen – hat die „Forced Marriage Unit“ aufgrund ihrer Nähe zu den Ministerien einen größeren Einflussbereich als eine einfache Beratungsstelle.
Auch in Deutschland finden sich einige vorbildliche Beispiele: So leistet die Polizei bereits seit vielen Jahren Präventionsarbeit gegen Zwangsheirat in Zusammenarbeit mit NGOs, und die Bundesregierung hat eine Studie mit aktuellen bundesweiten Statistiken zu Zwangsheirat herausgebracht.
Was bei der Konferenz besonders deutlich wurde, ist, dass fast alle west- und mitteleuropäischen Länder seit vielen Jahren spezielle Unterbringungsmöglichkeiten für von Zwangsheirat Bedrohte/Betroffene haben. Eine solche Unterbringungsmöglichkeit auch in Österreich zu schaffen, ist schon seit langer Zeit eine unserer Forderungen. Ein Konzept dazu findet sich seit fünf Jahren im Regierungsprogramm.

„Zwangsheirat“ gehört wie „Ehrenmord“ zum Lieblingsvokabular derer, die vor einer „Islamisierung“ warnen. Der gesellschaftliche Diskurs zum Thema Zwangsheirat ist über weite Strecken rassistisch. Wie grenzt sich Orient Express gegen diese rechte Hetze ab?

Wir tun das, indem wir in unserer Öffentlichkeitsarbeit immer wieder betonen, dass Zwangsheirat keine kulturellen oder religiösen Hintergründe hat, sondern eine Gewaltform darstellt. Zwangsheirat hat nichts mit Religion zu tun, sondern mit patriarchalen Machtstrukturen. Sie muss als Gewalt betrachtet werden, und nicht als familiäre, religiöse oder kulturelle Angelegenheit!

Angesichts des reißerischen medialen Umgangs mit dem Thema werden kaum seriöse Studien und verlässliche Zahlen genannt. Wie viele Frauen werden beispielsweise in Österreich und Deutschland gegen ihren Willen verheiratet? Gibt es überhaupt statistisches Material?

In Österreich haben wir keine verlässlichen Zahlen darüber, wie viele Mädchen und Frauen von Zwangsheirat betroffen sind. Allein unser Verein hat 2011 allerdings 83 Frauen bezüglich Zwangsheirat beraten und betreut. Von diesen waren 54 von Zwangsheirat bedroht (die meisten davon minderjährig, zwischen 15 und 19 Jahre alt) und 29 bereits von Zwangsheirat betroffen (fast alle zwischen 15 und 24 Jahre alt). In den letzten Jahren ist die Zahl der Personen, die uns erreichen, gestiegen. Das hat aber weniger damit zu tun, dass es mehr Bedrohte/Betroffene gibt, sondern damit, dass durch unsere Präventionsarbeit, durch Workshops in Schulen sowie durch Sensibilisierungsarbeit und Aufklärungskampagnen mehr Frauen zu uns finden.

In Deutschland ist im Sommer 2011 ein eigenes Gesetz gegen Zwangsheirat in Kraft getreten. Welche Erfahrungswerte gibt es bislang? Lassen sich Zwangsehen so tatsächlich verhindern?

Unsere Erfahrung zeigt, dass Gesetze Zwangsheirat nicht verhindern können. In den meisten Fällen lassen sich TäterInnen auch durch drohende Strafen nicht abschrecken. Außerdem erstatten Bedrohte/Betroffene nur in seltenen Fällen Anzeige gegen die eigenen Familienangehörigen, da es ein Tabuthema ist, über die erfolgte Eheschließung zu sprechen und dadurch die Familie zu „verraten“. Die Frauen haben oft  Angst vor psychischer wie physischer Gewalt bzw. davor, von der Familie ausgestoßen zu werden.

Um beim deutschen Beispiel zu bleiben: Zwangsheirat als eigenen Straftatbestand zu definieren ist auch auf heftige Kritik gestoßen – u.a. hieß es, dass Zwangsverheiratung bereits mittels bestehender Regelungen geahndet werden könnte und die Regierung  populistische Symbolpolitik betreiben würde. Stattdessen leiste das Gesetz einer restriktiven Einwanderungspolitik Vorschub, da u.a. die sog.  Ehebestandszeit1  verlängert wurde. Wie steht Orient Express zu solch einer Kritik?

 Wir können uns dieser Kritik anschließen und sind der Meinung, dass es wichtiger ist, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es den betroffenen Mädchen und Frauen ermöglichen, ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in Anspruch zu nehmen. Unter dem Vorwand des Problems „Zwangsheirat“ wird in Österreich – so wie in anderen europäischen Ländern auch – eine restriktive Migrationspolitik betrieben. Dem Thema Zwangsheirat wird derzeit große politische und mediale Aufmerksamkeit zuteil und von einigen politischen Positionen genutzt, um das angebliche Scheitern der Integration anzuprangern Mit Argumentationen dieser Art werden infolge auch strengere Einwanderungsgesetze legitimiert.
Beispielsweise wurde in Österreich 2009 die Altersgrenze für EhegattInnen, die aus Drittstaaten nachziehen, von 18 auf 21 Jahre erhöht – mit der Begründung, Zwangsheirat verhindern zu wollen. Aus unserer Sicht verstößt es jedoch gegen die Menschenrechte, einer volljährigen Person das Heiratsalter vorzuschreiben.

 

 

Orient Express ist ein gemeinnütziger, politisch und konfessionell unabhängiger Verein, der eine Frauenberatungsstelle sowie ein Kurszentrum betreibt. Die vom Verein seit über zwanzig Jahren geleistete Arbeit ist beruflich geleistete Solidarität mit Frauen, insbesondere Frauen mit Migrationshintergrund aus der Türkei und den arabisch sprachigen Ländern in sozialen und/oder gesellschaftlichen Notlagen. Seit 2000 ist „Zwangsheirat“ einer der Sonderschwerpunkte des Vereins.

1 Mit dem neuen Strafgesetz wurde in Deutschland die zweijährige Frist für ein eigenes Aufenthaltsrecht für Ehepaare aus Drittstaaten auf drei Jahre verlängert.

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin, www.anschlaege.at