Großer Widerspruch in der Welt

Editorial, DAS ARGUMENT 296/2012

»Neue Energien«, »neue Werkstoffe«, »Biopharmazeutik«, »durch neue Energien angetriebene Kraftfahrzeuge«, »Integration von Telekommunikationsnetz, Kabelfernsehnetz und Internet«, »Cloud Computing« und »Internet der Dinge«, »Schutz von Ökosystemen und Umweltschutz«, »intelligente Elektrizitätsnetze« und »dezentrale Energieversorgung«, »proaktive Finanzpolitik« und »besonnene und sichere Geldpolitik«: Das sind die Schlüsselworte, mit denen Chinas Premier Wen Jiabao im März 2012 die Entwicklung seines Landes darstellte (Tätigkeitsbericht der Regierung, I/1, I/2 u. I/5, http://german.china.org.cn) – eine Entwicklung anhaltenden rasanten Wachstums (2011 lag das Bruttoinlandsprodukt um 9,2 % über dem von 2010), in deren Ergebnis sich China heute ... wo in der Welt befindet? schon im Zentrum? noch an der Peripherie? irgendwo dazwischen, in neuer Multipolarität ein eigenes Zentrum bildend? Jedenfalls dort, wo Entscheidendes für die ganze Welt passiert. Die Veränderungen vollziehen sich in einem Tempo, das sich mitteleuropäischen Vorstellungen entzieht – nicht nur in Wirtschaft, Städtebau, und Sozialstruktur, sondern auch in der Arbeits- und Lebensweise und den Bedürfnissen der Menschen.

Vor sechs Jahren hat sich Das Argument schon einmal in einem Doppelheft dem »Großen Widerspruch China« zu nähern versucht (H. 268, 2006; http://inkrit. de/argument/archiv/DA268). Nun soll zum einen der Widerspruch in China neu besichtigt werden – Wolfgang Fritz Haug hat ihn damals als einen »im Marxismus« apostrophiert (2) – und zum anderen der Umgang der übrigen Welt mit ihm. Dabei zeigt sich die chinesische Entwicklung weiterhin als »integraler Teil der Marxismusgeschichte«, und zwar sowohl in Gestalt des »Negativen, von dem die gegenwärtige chinesische Politik sich so entschlossen abstößt« (ebd.), als auch im spannungsgeladenen Fortwirken von Unabgegoltenem der Mao-Ära (vgl. dazu Karl und Neddermann in diesem Band) und dem beharrlichen Bestehen der KPCh darauf, die gesellschaftliche Ordnung, die führend zu gestalten sie unverändert beansprucht, als »Sozialismus chinesischer Prägung« (Tätigkeitsbericht, I/4) zu charakterisieren. Ferner zeigt sich, dass die übrige Welt noch (immer) nicht ihren Umgang mit dem Aufstieg des Landes gefunden hat (Adolphi, Haug, Solty, Zinn, Geffken).

Zur Frage, ob die chinesische Gesellschaft sozialer oder ökologisch konsequenter sein könnte als die mit ihr verwobene kapitalistisch globalisierte Welt, sah Minqi Li 2006 das ganze Weltsystem vor einem »Gefangenendilemma«: »Jeder einzelne Staat, der ökologische Anpassungsmaßnahmen ergreift« – auch soziale oder kulturelle, und nicht nur Maßnahmen der Anpassung, sondern erst recht des Erreichens positiver Überdurchschnittlichkeit – »leidet unter den steigenden Kosten und manövriert sich auf dem Feld der weltweiten Kapitalakkumulation in eine nachteilige Position gegenüber anderen« (H. 268, 110). Die Wiederbesichtigung des Großen Widerspruchs ermöglicht einen differenzierteren Blick auf die Wirkungen, die dieses Dilemma in seiner Gleichzeitigkeit mit den ungeheuren Auf- und Umbrüchen in China entfaltet: in der gesellschaftlichen Entwicklung im Allgemeinen (Heberer), in der Sozialstruktur im besonderen (Dieckmann, Li, Suda), in den Kämpfen der Arbeiterinnen und Arbeiter (Chan/Siu, Eifl er), im Umgang mit dem kulturellen Erbe (Kraef), in der Wirtschaft (Ebenau/Schmalz) und Außenwirtschaft (Jungbluth).

In den Beziehungen zwischen Ost und West, meint Zbigniew Brzezinski in bemerkenswerter Umkehr von einstigen Konfrontationsstrategien, stelle sich heute unausweichlich die Frage »entweder reziprok kooperativ oder sich gegenseitig zerstörend« (Foreign Affairs 1/2012, 104), und zum Glück hätten Washington und Beijing sich »auf das Konzept einer ›konstruktiven Partnerschaft‹ in den Weltangelegenheiten geeinigt«. Hier sei »ideologische Selbstbeschränkung« zu üben und »der Versuchung zu widerstehen«, die »jeweiligen sozio-ökonomischen Systeme zu universalisieren und sich gegenseitig zu dämonisieren« (100f). Über das Schicksal von Konzept und Appell in den USA werden die Präsidentschaftswahlen 2012 entscheiden; manches deutet darauf hin, dass ›Falken‹ die Oberhand gewinnen könnten, denen Brzezinski zur ›Taube‹ geworden ist, der sie auf keinen Fall folgen wollen. Auf chinesischer Seite hat das Denken in weltweiten kooperativen Strukturen eine längere Tradition, als es zuweilen scheinen mag. Mao Zedongs Gedicht Kunlun vom Oktober 1935 bezeichnet »ein gewandeltes Welt- und Selbstverständnis der Chinesen«, wie sein Übersetzer Joachim Schickel (China in der Welt, München 1973, 25f) wohlbegründet meint. Auf dem Rückzug befindlich, der dann zum Langen Marsch wurde, aufs Äußerste bedrängt durch japanische Aggression und Bürgerkrieg, habe Mao »eine vom Überqueren des Gebirgsmassivs Kunlun inspirierte Vision« entwickelt, »wie dieser Berg […] und mit ihm die Erde zu teilen sei« (ebd.). Zu teilen – nicht: zu beherrschen! – für den »Großen Frieden«.