(K)ein 1. Mai in Andijon

Ein Besuch bei GM in Usbekistan

in (31.07.2012)

 

Wenn drei gewerkschaftlich aktive Linke Urlaub machen, kann es vorkommen, dass sich Politisches am Wegesrand auftut. Im Rahmen ihrer siebenwöchigen Reise durch Zentralasien schien es Anna Leder und Peter Haumer aus Wien* und ihrem Kollegen Cemalettin Efe aus Istanbul naheliegend, den 1. Mai standesgemäß im wahrsten Sinne des Wortes auf der Seidenstraße zu »begehen« und im GM-Werk bei Andijon in Usbekistan vorbeizuschauen, um Eindrücke von den Produktionsmethoden eines Automultis in Zentralasien zu gewinnen. Im Folgenden ihr Bericht:

Pünktlich zum 1. Mai sind wir im Zuge unserer Zentralasienreise in Andijon, der Stadt des Aufstandes, angekommen. Im Mai 2005 wurden hier während einer Demonstration 400 bis 600 Menschen durch usbekische Militär- und Polizeikräfte erschossen. Die mehrtägigen Unruhen, die neben Andijon auch Qorasuv und andere Städte nahe der Grenze zu Kirgisistan erfassten, wurden, so haben wir uns über Wikipedia informiert, den Islamisten der Hizb ut-Tahrir (Partei der Befreiung) zugeschrieben, ihre Niederschlagung gab der autokratisch regierende Präsidenten Islam Karimov als Kampf gegen den islamistischen Terror aus. Aus der gleichen Quelle erfahren wir, dass die Unruhen wohl eher durch soziale und politische Ursachen wie hohe Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Armut, neue Handelsgesetze, wilde Enteignungen von Bauern und politische Unterdrückung ausgelöst wurden.

Von Andijon aus fahren wir in den Vorort Asaka zum dortigen General Motors-Werk, um uns hier auf die Spuren des 1. Mai in Usbekistan zu begeben.

GM Usbekistan nahm am 27. November 2008 die Produktion auf. Das erste Fahrzeug, das an diesem Tag vom Band rollte, war ein Chevrolet Lacetti – es war laut Firmenangaben zugleich das einmillionste Fahrzeug, das von UzAvto, dem staatlichen Monopolisten und Joint Venture-Partner von GM, produziert wurde. Die Jahresproduktion liegt bei 250 000 Einheiten. Seit Beginn des dritten Quartals rollt in Asaka auch der Chevrolet Spark M300 vom Band, der bislang lediglich für den Export gedacht ist. Noch handelt es sich bei den Chevrolet-Modellen um montierte CKD-Bausätze. Doch plant GM Usbekistan, demnächst mindestens 50 Prozent aller Fahrzeugteile selbst herzustellen. Über das neu gegründete Unternehmen GM Powertrain Usbekistan soll in Taschkent, der Hauptstadt Usbekistans, eine eigene Motorenproduktion aufgebaut werden, die noch in diesem Jahr anlaufen soll. Auch Türverkleidungen, Sitze und Armaturenbretter sollen demnächst selbst hergestellt werden. Ein Werk, in dem jährlich jeweils über 200 000 Front-, Heck- und Seitenscheiben für die Modelle der Uz-DaewooAvto und die des Chevrolet Lacetti hergestellt werden, wurde bereits eröffnet.

Das Werk in Asaka gleicht einer Festung: Polizeisperren und Straßensperren am Anfang und Ende der Zufahrtsstraße. Entlang der Werksmauer immer wieder Wachtürme mit Scheinwerfern. Die Fabrik selbst liegt mitten in einer recht ärmlichen Wohngegend. Die Häuser grenzen stellenweise direkt an die Werksmauer. Bei unserem Rundgang ums Werk klagen Bewohner über den Lärm durch das Presswerk und Risse in den Mauern, verursacht durch die Erschütterungen.

Es ist Mittag, eine Gruppe von Arbeitern hält Pause vor dem Haupteingang des Werkes. Überraschend schnell kommen wir mit ihnen ins Gespräch. Auf die Frage, was aus dem ersten Mai in Usbekistan geworden sei, erfahren wir, dass dieser bereits mit der nationalen Unabhängigkeit 1992 abgeschafft wurde.

Im Werk arbeiten gegenwärtig an die 9 000 Beschäftigte, Frauen gibt es nur bei den Angestellten. Die Arbeitsplätze sind in der Region heiß begehrt. GM zahlt zwischen 300-500 Dollar durchschnittlich – bei einem landesweiten Durchschnittslohn von 200 Dollar. Nicht nur die vergleichsweise gute Bezahlung, sondern auch die Aussicht auf eine der Werkswohnungen (für die gerade ein ganzer Stadtteil niedergerissen wurde) und einen möglichen Auslandsaufenthalt in einem Schwesterwerk in Russland, Südkorea, Indien oder Brasilien machen das Arbeiten bei GM attraktiv.

Das Werk läuft im vollkontinuierlichen Schichtbetrieb, pro Schicht elf Stunden. Drei Arbeitstagen folgen jeweils zwei freie Tage. Gearbeitet wird in Teams zu je ungefähr zehn Arbeitern. Die Aufgabe des Teamsprechers sei es, so beschreiben es die Arbeiter, »die formelle Sprache des Managements in die informelle der Arbeiter zu übersetzen«. Wenn ein Teammitglied etwas »Verbotenes« tut, drohen dem Teamsprecher dafür Lohnabzüge.

Die Arbeiter, mit denen wir sprechen, sind stolz auf ihre Fabrik. Für sie ist sie das Symbol für Fortschritt und Modernisierung des Landes. Das Symbol, mit dessen Hilfe endlich der sowjetische Fluch des rückständigen, baumwollproduzierenden Hinterhofs überwunden werden könne. Wir sollten in einigen Jahren wieder vorbeikommen, dann könnten wir uns davon überzeugen. Wir würden es ihnen von Herzen gönnen, doch allein: Uns fehlt der Glaube.

Die Autokonzerne haben doch seit Jahrzehnten die Wanderstiefel an auf der Suche nach dem schnellen Extraprofit. Das Land und die Belegschaften sind ihnen ziemlich egal. GM-Arbeiter in Andijon sind ein Unkostenfaktor auf zwei Beinen, und Kostenreduzierung ist das Schmiermittel für die Kapitalakkumulation. Andijon ist ihnen genauso gleichgültig wie ehedem Detroit und heute Bochum. Heute rechnet es sich eben in Andijon, aber das bedeutet noch lange nicht, dass GM-Autos auf den Straßen von Zentralasien und Russland als gesellschaftlicher Fortschritt zu werten sind. Und dass über die westlichen Industriekonzerne so etwas wie Demokratie in den Ländern Zentralasiens Einzug halten wird, ist ein Irrglaube: Das GM-Werk in Andijon schottet sich nicht nur nach außen ab wie eine Festung. Es ist auch nach innen eine Festung, an deren Zugängen alle demokratische Gesinnung zurückgelassen werden muss: eine Festung des Industriedespotismus, trotz oder auch wegen der Schimäre einer industriellen Demokratie durch die vielgerühmte Teamarbeit. Die GM-Arbeiter in Usbekistan hoffen verständlicherweise auf eine lebenswerte Zukunft, so wie es die FIAT-ArbeiterInnen in Polen gemacht haben, als Produktion von Italien nach Polen verlagert wurde. Als FIAT daran ging, die Produktion von Polen nach Serbien zu verlagern, haben sie begonnen, die Mechanismen des Kapitalismus zu verstehen.

Immerhin: Aus dem Besuch in Andijon sind dauerhaftere Kontakte entstanden – und wir informieren unsere Gesprächspartner nun auch über die aktuellen Geschehnisse bei Opel in Rüsselsheim und Bochum.

 

* Peter Haumer hat bei Opel/GM in Aspern bei Wien gearbeitet. In dem 2011 erschienenen Buch »Arbeitskämpfe im Zeichen der Selbstermächtigung. Kollektive Gegenwehr in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Österreich und Serbien« (Hg. Anna Leder) hat er den Beitrag ›Selbstermächtigung in Österreich: Zwischen Befriedung und Revolte‹ verfasst. Im express hat er zuletzt über »Serbiens wilden Weg in den Westen« (Nr. 1/2010) und die Kämpfe der ArbeiterInnen gegen die Privatisierungspolitik der dortigen Regierung berichtet (Nr. 11-12/2009)

 

 

erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 6-7/12

express im Netz unter: www.express-afp.info, www.labournet.de/express