Kapitalismus höchster Stufe

Haugs Krisenlektüre der Gegenwart

Ein bescheidener und immenser Anspruch in einem. Und wer wäre besser präpariert. WFHs Leben als ein im besten Sinne öffentliches, darum ein von etablierten Kreisen und ihren Institutionen eher scheel betrachteter Intellektueller, bestand – vorsichtig gesagt – fast von Anfang an darin, zuerst bundesrepublikanische Mängel an radikaler, gegenwarts- und zukunftsorientierter Wahrnehmung der nazistischen Vergangenheit nicht zeigefingerhaft, sondern analytisch herauszuarbeiten. Als solchen hat ihn der Altersgenosse und Rezensent vor Jahrzehnten entdeckt. Dieser Hintergrund erklärt vielleicht nicht, erhellt aber seine spätere Zuwendung zur marxschen Theorie und Analyse. Diese ist durchgehend orientiert an den Möglichkeitsbedingungen und Notwendigkeiten humaner, nicht kapitalistisch zerfressener Vergesellschaftung zum Denkhandeln. Ein solch allgemeines und zugleich besonderes Ziel erklärt sich aus nie unpolitisch rezipier- und weitertreibbarer, letztlich praktisch umgetriebener, wenn nicht umtreibender Theorie. Die humboldtuniversitär an die Wand geschriebene 11. Feuerbachthese wurde die Devise, ohne je philosophischem Er- und Begründen untreu zu werden. »... es kömmt darauf an, sie zu verändern«.

Sich indes die Aufgabe zu stellen, zu »philosophisch reflektiertem Gegenwartsverständnis« beizutragen, so viel und umfassend wie einer Person mit intellektuell habituell weit gespannten Armen möglich, ist dringlicher denn je. Die Universitäten, längst Multiversities2, bestenfalls raumeng unterteilte Stockwerke im alle Lebensbereiche und Institutionen stottern machenden, gegenwartsmythischen Turm zu Babel, leisten in ihrer fachidiotisierenden Ausbildung und mehr noch ihrer analog idiotischen Forschung3 längst nicht einmal Minima der Zusammensicht, geschweige der ungleich anspruchsvolleren und schier unmöglichen Synthese disparat auseinanderstrebender »Wirklichkeiten«. Diese werden darob durch die Hintertür der »Sachzwänge«, ihrer Prämissen und verallgemeinerten Folgen nicht bewussten Spezialkenntnisse und Techniken/Technologien, herrschaftsideologisch und -technisch wirksam. Dazu gehört überwiegend ihre jeweilige Gleichschaltung gemäß kapitalistischer Verwertungslogik. Damit geht die Fähigkeit zur Urteilskraft verloren. Eine ihrer Voraussetzungen, die Zusammensicht Menschen machender Wirklichkeiten, ist im indogermanischen Sprachbereich als Zusammenwissen, con-scientia verbreitet. In deutscher Tradition wurde das Wissen über Zäune hinaus eigenartig ›irrational‹ verinnerlicht. Das dunkel tiefe »Gewissen« rangiert vor allem vernünftig durchdringenden Wissen. Von der möglichst ausgreifenden Vorstellungskraft handelte Kant in seiner ästhetisch nicht zu beschränkenden oder Ästhetik besser noch zu verallgemeinernden, im Sinne Walter Benjamins zu politisierenden Kritik der Urteilskraft.

Was aber heißt und verlangt »philosophisch reflektiertes Gegenwartsverständnis« hier und heute? Die meisten Vorbilder machen sich ökonomisch keine »schmutzigen Hände« (bei Sartre auf die Politik gemünzt). Bleiben sie nicht bei »Stichworten« stehen, drohen sie, zu mehr oder minder kulturkritischen Phänomenschauen ohne zureichenden Logos zu werden. Als jungen Studenten hat mich – für die Nachnationalsozialismuszeit kennzeichnend – die konservativ geeichte Theorie des gegenwärtigen Zeitalters (1955) des Tatkreislers am Ende der Weimarer Republik (»Konservative Revolution«) im Schatten Heideggers und dann nationalsozialistisch lehrenden Soziologen Hans Freyer kurz angezogen. Und sogleich wieder verlassen.

Ganz anders WFH. Wie schon der Titel verheißt, nimmt er sich den weltweit treibenden, tatsächlich jedes Mehlstäubchen durchdringenden Hefekern vor: Hightech-Kapitalismus. Er wird in zwei Teilen in seinem Wirkungssinn, seiner Dynamik und seiner zuerst primär kapitalismuskritisch allgemeinen Bestimmungsmacht, dann primär seinen politisch etatistischen und globalen Verallgemeinerungen samt seinen prinzipiell anmutenden Grenzen daten- und belegreich präpariert. Damit hat es aber nicht sein Bewenden. Am Beginn eher eingestreut, auch als nicht abschließbare Dialektik kapitalistischer Widersprüche immer erneut greifbar und zukunftsoffen, verheißt WFH wägend, nie dezisionistisch voluntaristisch, gegen Ende die docta spes, die in die Schule der Geschichte gegangene gelehrtgelernte Hoffnung Ernst Blochs. Dass es einen Weg ins Freie einer nachkapitalistischen Welt gäbe, inmitten der Widersprüche weitertreibend, getragen auch von einer nur in ihrer vagen Kontur ahnbaren »Welt-Arbeiterklasse«. Viele Temperamente und Töne werden also kombiniert und komponiert, um dem Monstrum globaler Kapitalismus auf die Spur zu kommen, ohne in seinem seltsam unterkomplexen Labyrinth quantitativ und qualitativ hoffnungslos stecken zu bleiben.

Nach einem eher widersprüchlich pointilistischen Bericht der zwei großen Teile – Teil I Die Finanzkrise, Teil II Die Hegemonialkrise – des in 12 Kapitel gegliederten Buches, werde ich mich zuerst eher immanenter, dann eher externer Kritik zuwenden. Meine Kritik versteht sich, indem ich generell die unzeitgemäße Leistung dieses lichtenden Durchblicks anerkenne und ihre hauptsächlichen Prämissen teile. Zusammen mit einigen knappen Erwägungen am Ende ist sie vom errötenden Engagement bewirkt, diese Art der aufrecht gehenden, letztlich praktisch gerichteten Reflexion zu befördern.

 

I

Die titelgebende Hypothese wird früh in der Einleitung statuiert. Die neue Große Krise »leitet einen umfassenden Restrukturierungsprozess ein, der ›alle gesellschaftlichen Bereiche, das Insgesamt von Politik und Ökonomie und infolgedessen der Strukturen kapitalistischer Vergesellschaftung‹ (E. Altvater) betrifft« (9, Anm. 1). Ihre Merkmale sind zum einen ihr »transnationaler« Charakter. Zum anderen bestehen sie im »qualitativen Niveausprung der Produktivkräfte« (11). Er wird bewirkt durch die Informationstechnologie. Ein nachholender politischer Integrationsschub folgt. Im Unterschied zu düsteren Prognosen beharrt WFH darauf, »mit den weiterentwickelten Denkmitteln der Kritik der politischen Ökonomie uns in die Phänomene und die auf sie antwortenden Deutungsversuche zu vertiefen«.

Das mag dazu beitragen, durch Stärkung der kognitiven Ich-Kräfte und der praktischpolitischen Wir-Kräfte der pessimistischen Lähmung entgegenzuwirken und der Handlungsfähigkeit der auf ein solidarisches Gemeinwesen gerichteten sozialen Bewegungen zuzuarbeiten. (40)

Die Krisenanalyse hebt zunächst fast Marx-orthodox an, wenngleich nie in einem rechthaberischen Stil. Die marxsche Dialektik konstruktiver und destruktiver Kräfte des kapitalistischen Fortschreitens, nie schwarz-weiß, nie ambivalenzlos dichotom sich entwickelnd, gilt auch von Beginn an für das innig verzahnte Verhältnis von nicht als solchem »guten« Real- und »schlechten« Finanzkapital. Die gegenwärtig flüggen, moralisierend-psychologisierenden Etiketten sind unangebracht. Der »Omnipräsenz der Spekulation« widmet WFH darum eine Reihe von Abschnitten. In ihnen werden die kapitalismusalte »Überproduktion«, die These der fallenden Profitrate u. a. m. wie in einem trefflichen Seminar erläutert. Das »Neue« an der gegenwärtigen Krise mit ihrem schon von David Ricardo beobachteten Phänomen massenhaft »überflüssiger« Arbeiterinnen und Arbeiter besteht nicht nur darin, dass die kapitalistischen und liberaldemokratischen Vergesellschaftungsmodi einander mehr auszuschließen scheinen, als dies jedenfalls westwärts aufgefallen wäre (vgl. Streeck 2011, zit.b. Haug 2012, 68f).

Das wirklich Neue spielt auf einer Ebene, wo die Entwicklung ebenso unwiderruflich wie wiederholungslos fortschreitet. Es ist die Ebene des produktiv- konsumtiven Stoffwechsels der gesellschaftlichen Menschheit mit der Natur, der sie umgebenden und der eigenen. (72)

Dessen Vernachlässigung in Zeiten rücksichtslos verwertend ausbeutenden Wettbewerbs

unterstreicht WFH.

Dass nach dem Satz von Marx auch das Wie, mit welchen Arbeitsmitteln der Naturstoff verändert wird, die ökonomischen Epochen unterscheidet, ist im Hauptstrom der kapitalismuskritischen und speziell der marxistischen Literatur unterbelichtet, wenn nicht schlicht abwesend. Das ist auf den ersten Blick erstaunlich, weil damit angestammtes marxsches Terrain preisgegeben wird. Auf den zweiten Blick treten besonders drei Gründe hervor. Der erste Grund für jene Abwesenheit ist der den Stalinismus als Begleitideologie der gewaltgegründeten Industrialisierung prägende Technikdeterminismus, der alles Gesellschaftlich-Politische und Kulturelle diesem Primat unterwarf. Der notwendige Bruch mit dieser Ideologie und Praxis hatte bei vielen die entgegen Kapitalismus gesetzte Einseitigkeit zur Folge, die den objektiven Möglichkeitsraum bestimmende Determinante der technischen Arbeitsmittel zu vernachlässigen. Ein zweiter Grund dürfte in der Abwehr der Ideologie der ›Wissensgesellschaft‹ liegen, sofern diese vom Kapitalverhältnis schweigt. […] Als dritter Grund kommt der Einfluss der nicht genuin marxistischen Regulationsschule in Betracht. Mit Recht betont sie die Notwendigkeit, durch die komplexe institutionelle und politisch-kulturelle Einbettung des kapitalistischen Verwertungsprozesses ein konkretes Akkumulationsregime herauszubilden, das die gesellschaftlichen Konflikte zu absorbieren und Produktion und Konsumtion aufeinander abzustimmen vermag. (74f)

Darüber haben sie jedoch, so schließt WFH diesen Abschnitt, »die formative Bedeutung der Produktivkräfte und ihrer Entwicklung« vernachlässigt. Wenn man begreift, »dass Herrschaft und Hegemonie ihre eigene Technobasis haben« (75), kann man herausfinden, »die Produktionsweise« denkend, »was für eine Gesellschaft der Computer auf kapitalistischer Grundlage ergibt« (76), und man wird auf die »systemische Verkettung getriebener Treiber« (77) stoßen und im Hightech-Kapitalismus das »Verhältnis des kapitalismusgeschichtlichen Allgemeinen und seiner hightech-kapitalistischen Besonderung« (78) samt seiner transnational agierten Akteure entdecken. Schade, dass WFH gegen Ende des I. Teils nicht den theoretischen Klimmzug versucht – wenn denn einer, dann er –, das marxsche Kapital auf die Höhe der Zeit zu bringen. In der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem ist das weithin Wirklichkeit geworden, was Marx unübertrefflich als Kapital im Allgemeinen auf den Begriff gebracht hat, lässt aber an seinen Einsichten und den Konsequenzen daraus zweifeln, weil die Fülle des nicht angemessen aufgehobenen Besonderen die höchst wirksame »Basis« zustaubt. Nie galt es so sehr angesichts jedes einzelnen Phänomens, persönliche Verhaltensweisen inklusive, und jedes unvermeidlich abstrakten Begriffs bis hin zum Weltmarkt die auf den ersten Anschein hin wie unsinnig wirkende Einsicht Hegels hinauf und hinunter zu deklinieren: das Konkrete ist das Abstrakte und das Abstrakte das Konkrete. Gerade an den verschiedenen Plateaus finanzkapitalistischer Abstrakta wäre dies zu zeigen, mitsamt ihrer je besonderen Formen à la Börsenkapitalismus und Fülle der Fonds zusammen mit ihren spezifischen Wirkungen und soziopolitischen Kosten.4

Im Vierten Kapitel (»Die Zeit der Spekulation«) wird einsichtig, welche Variantenfülle, Extensivierung und Intensivierung das spekulative ›Urgesetz‹ des Kapitalismus – unübersichtlich und radikal einfach zugleich – in globalen Hightech-Zeiten aufbietet. Ein Wachsen des Spekulationsbaums und der Fülle seiner Verzweigungen, die bis zum Himmel reichen. Doch auch hier gilt real- und finanzkapitalistisch säkular: es ist dafür gesorgt, dass sie aufhaltsam nicht im Himmel bleiben.

In einer die Moderne allgemein über ihre kapitalistische Hefe hinaus charakterisierenden Form-Dialektik von Abstraktion und vereinzelnder Konkretion5 – pardon für die Wiederholung einer wie meist im Ungefähren bleibenden Metapher – wuseln atomistisch kapitaletatistisch gemachte Subjekte in »mannloser Spekulation« (86, bewusst gewählter gendereinseitiger Akzent?). Kaum zu überschätzen in ihrer gesellschaftlichen Penetration und Aufhebung ist die »Hochfrequenz-Werbung« (89). »Die Wahrscheinlichkeit, dass die Werbung vom Adressaten angeklickt wird und der Adressat sich für die Werbung öffnet, steigt sprunghaft, wenn es gelingt, Werbung auf die individuellen Käuferprofi le hin zu flexibilisieren und schließlich sogar zu individualisieren.« (KdWÄ, 266) In diesem Sinne zugespitzt, ersetzt die »digitale Personalakte« (91) in staatlicher Sicherheitsfixierung die anders nicht mehr auffindbare Person. Gesellschaftlicher und zeitlicher Zusammenhang werden › irrationale‹ Störmomente. Ein Unternehmen bildet die ›Einheit‹ ›vergleichend bewerteter Partikel‹ flexibel und mobil wie die entsprechend geschulten, habitualisierten, mal angestellten, mal entlassenen Zeitarbeitenden in globaler Dissoziierung. Leute mit mobilen Eigenschaften bis zu ihrem Überflüssigwerden. Den »finanzspekulativen Begleiterscheinungen« geht das Fünfte Kapitel nach. Es ist insoweit kritisch dem Neologismus »Finanzialisierung« gewidmet, als WFH die angebliche Ablösung des Industriekapitalismus nicht zuletzt mit den Hinweisen bezweifelt, wie produktivistisch gerade die Hightech-Industrie bis in ihre frühkapitalistisch verelendenden Erscheinungsformen beispielsweise in China bleibe.

Die Besonderheit der heutigen Kapitalverhältnisse lässt sich also mit dieser Zirkulationsform allein nicht begründen, sondern allenfalls mit der neuen Qualität, die durch das quantitative Ausmaß und die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der konjunktur- und profitpolitisch eingespannten konsumtiven Verschuldung von Privathaushalten bestimmt ist. (110)

Wichtig wird vor allem, wie vereinzelte Lebensläufe im entgrenzten Spektrum von Arbeit und Konsum verschluckt werden. »Der Hightech-Kapitalismus expandiert derart die Kapitalimmanenz des Lohnarbeiterdaseins über die Grenzen des Arbeitstags in die Freizeit.« (111f) Eine Nivellierung, die ihrerseits einen langen Vorlauf besitzt mit entsprechend psychophysischen Folgen. Die im nächsten Abschnitt folgenden Pensionsfonds belegen, Kapital privatisierend, wie sehr die nun schon ein gutes halbes Jahrzehnt währende Schuldenkrise die Lohnabhängigen zu einem pseudoaktiven Teil der Wirtschaftskrise gemacht und, ein heutiges Fremdwort, bis an die Grenze, eine eigene Person sein zu können, enteignet hat. Die Einsicht bleibt jedoch, dass das Finanzkapital trotz seinem gewachsenen Anteil und seiner elektronisch kaum gehemmten Mobilität bis hin zu seiner rechenmaschinenhaften Steuerbarkeit ›realwirtschaftlich‹ vertäut ist. Menschenköpflich nicht kalkulierbare Quantitäten virtueller Finanzkapitalkapitale haben eine nur noch kollapsartig zu bremsende Eigendynamik freigesetzt. Die Überakkumulation ließ sich darum nicht durch weiteres Absehen von allen Besonderheiten und Raubzügen unter Millionen und Abermillionen Konsumenten und Arbeitenden beheben. Von staatlicher Verschuldung und Verarmung qua Bankensubventionen nicht zu reden, erhielt vielmehr das frühere, nicht nur deutsche Schreckwort von Wilhelm II. bis KG Kiesinger unerhörte Faszination – »ich sage nur China, China« (vgl. vor allem das 10. und 11. Kapitel des II. Teils: »Chimerika«). Das sechste Kapitel schildert die Flucht des Geldes in die Warenform. Besonders im Abschnitt »Gold als Geldware« liest es sich grauenuntermischt spaßvoll als Exempel menschlicher (Selbst-)Täuschungen. Die kaum zählbaren Exempel reichen bekanntlich vom alttestamentarischen Goldnen Kalb, über Fausts Gretchen bis zu Marx allein schon sprachlich genussvollen Geldkapiteln in den Grundrissen zu Chaplins Goldrausch und darüber hinaus. Das sechste Kapitel schließt den I. Teil ab. Dessen analytische, vor allem von Marx geformten Wackersteine ziehen die Überfülle der Ereignisse des letzten Dezenniums erkenntnisschwer hinab. Nach den Blasen der sog. Neuen Ökonomie stiegen viel umfangreichere, allseits verteilte Luftballone, ungleich in analogem Wahn, vom mythischen Ikaros erdwärts fallend erprobt. Sie platzten weltweit. Neoliberal bornierte Interessen der alten und neuen Superreichen und ihrer definitionsmächtigen Macht- und Herrschaftsaggregate ohne Verantwortung erzwingende Kontrolle führen Staaten an ihrem Zaum. Damit fördern sie ein geradezu gesamtgesellschaftlich aufgeherrschtes, emphatisch unfreies Verhalten mitten in sog. demokratischen Staaten, die sozial nackten Strukturfunktionalismen der herrschenden politischen Ökonomie, gen. Kapitalismus, zutage. Letztgenannte trägt nach wie vor die genobelte Tarnkappe angeblich wissenschaftlich »uninteressiert« erwiesener, allgemeiner Gesetze.

Der Methodiker Hans Albert hat sie vor Jahrzehnten in seiner Kritik an der sonst wohl von ihm geteilten Neoklassik deren »kommunistische Fiktion« genannt. Umso aggressiver wird alles, was gesellschaftlich »kommunistisch« riecht, strahlungssicher zu entsorgen gesucht.

 

II

Teil II setzt anders an. Mit einem Ausdruck aus der Hölderlinforschung könnte man einen »Wechsel der Töne« von WFHs Buch hören; seines Verfahrens und seiner Belege. Schon um die Haug Lesenden und hoffentlich von mir Animierten nicht durch eine länglich referierende und zitierende Präsentation aufzuhalten, will und kann ich – dem veränderten Modus des II. Teils gemäß – meinerseits knapper, überblicksartiger und mit manchen auf meine Weise würzenden Bemerkungen verfahren.

»Die Hegemoniekrise« des II. Teils hebt mit begrifflichen Wägungen und Näherungen an. Für alle dort versammelten Bezeichnungen großräumiger Herrschaft mit begriffsrealistischen Implikationen, als da sind Imperium, Imperialismus, Hegemonie u. a. m. gilt in ungleicher Weise – hier folgen wir alle auf Max Weber zurückgehenden Einsichten: Dass Herrschaftsformen, mit unterschiedlich institutionalisiertem, durch- und eingreifendem »Oben« und »Unten«, mit diversen Herrschaftsmitteln und sonstigen Ressourcen allemal prekär stabilisiert, von einer Mischung aus »Zustimmung und Zwang« zusammengehalten werden. Diese Einsicht ist vor allem von Antonio Gramsci in seinen Gefängnisheften ausgeführt worden. Darum ist das, was man Legitimation, die auratisch verschiedene Rechtfertigung von Herrschaft nennt – Weber spricht häufig von »Legitimationsglauben« –, in inhaltlichen Bezügen und Verfahren von geradezu essenzieller Bedeutung.

Erst das Zusammenspiel der selber nicht primär ökonomischen Instanzen«, schreibt WFH, indem er vor anderem auf die fürs Kapital spezifische Herrschaft abhebt,

der ideologischen Mächte und der repressiven Apparate, vermag dem Eigentum an Produktionsmitteln oder auch am abstrakten Reichtum, dem Geld, seine Befehlsmacht über die sachlichen und persönlichen Ressourcen zu sichern. Und erst der konkrete diskursive Betrieb der politischen und ideologischen Auseinandersetzungen wiederum entscheidet über massenhafte Zustimmung oder Ablehnung bestimmter Projekte des Gebrauchs aggregierter gesellschaftlicher Macht. Um diese überaus wichtige Doppelbestimmung geht es beim Begriff der Hegemonie, wie Antonio Gramsci ihn in seinen Gefängnisheften ausgearbeitet hat und zu deren fein-verästelter Thematik er den Schlüssel in die Hand gibt. Dieser Schlüssel verspricht, auch die Gegenwartsproblematik der Imperialität aufzuschließen, die ihre Prägung vom transnationalen Hightech-Kapitalismus empfängt. (135)

Um diese »Imperialität« als dynamischem und zugleich in der Herrschaftskomposition veränderten ›Zustand‹ geht es dem II. Teil hauptsächlich. Seit der lebendig strittigen Diskussion um imperiale Varianten während der vorletzten Jahrhundertwende, fruchtbar zu erinnern vor anderem Rosa Luxemburgs Beitrag, ist die Debatte um veränderte imperiale Formen nach einem kurzen Zwischenspiel vor allem um die Rolle der USA am Exempel des Vietnamkriegs erst im Kontext des global realen Kapitalismus im letzten Jahrzehnt wieder aus der Versenkung aufgetaucht.

Unsere Leitfrage ›Imperium oder Imperialismus?‹ hat sich damit schon verändert. Den Imperialismusbegriff reservieren wir für gewaltbereite zwischenstaatliche Unterwerfungs- und Ausbeutungsverhältnisse und für Zusammenstöße mit rivalisierenden Politiken anderer Staaten. Würden demnach Kapitalexport und Produktionsauslagerungen in dem Moment imperialistisch, in dem sich ›Investoren nicht mehr mit dem hohen Risiko der Auslandsanlagen abfinden und von ihren Regierungen verlangen, diese Sicherheit im Ausland herzustellen‹ (Wissel)? Agieren also ›die Länder […] als imperialistische Staaten, indem sie miteinander im Interesse ›ihres Kapitals‹ um Einfluss und Vorherrschaft kämpfen‹, und ist mithin in Europa die EU der ›Austragungsort dieser Kämpfe‹ (Wehr)? Wohl kaum, denn das brächte den Begriff des Imperialismus um seinen Sinn. Man wird ihn schwerlich auf Fälle anwenden, in denen Staaten im ›Verhältnis konkurrierender Kooperation‹ (Wissel) ihren jeweiligen Kapitalen und deren Personal wechselseitig Sicherheit garantieren, wodurch im Streben nach ›einem homogenen institutionellen Rahmen‹ (Lapavitsas) in immer weiterer Vernetzung bestimmte internationale Kapitalverkehrsformen hegemonial werden. Ein konsensbasierter Staatenbund kann zwar als imperialistischer Akteur dieser Art auftreten, doch seine Innenbeziehungen lassen sich nicht als Imperialismus charakterisieren, wohl aber [...] als Imperium. Imperium steht dann fürs Übergewicht des Moments der Hegemonie, Imperialismus für den Primat der Diktatur. Beides sind Idealtypen, die in Wirklichkeit niemals rein vorkommen. Damit entscheiden wir uns gegen einen ›sehr weiten, strukturellen Imperialismus-Begriff […], der [...] nicht [...] hinreichend von anderen internationalen Herrschaftsformen abgegrenzt werden kann‹ (Bieling). Wir haben demnach konkret die organische Zusammensetzung von Konsens und Gewalt in den jeweils bestehenden Herrschaftsverhältnissen [...] zu untersuchen, und das auf mehreren Systemebenen – Politik, Ideologie, Kultur, Ökonomie (Finanzen, Technologie), Militär –, die nicht notwendig gleichgerichtet sind. (151f)

Im Kontext von dem, was WFH als vier »Wert-Abschöpfungsketten« aufzählt (156), und des hightechnologisch-kapitalistischen »Weltordnungsproblems«, »separate nationale und geopolitische Einheiten« zur »transnationalen ›geoökonomischen‹ Einheit« zu koppeln (157), konzentrieren sich die folgenden Kapitel zuerst auf die USA Obamas, ihrer teeservierenden Hegemoniekämpfe, das irdische Kapitalwunder von der letzten Jahrhundertwende bis heute, die merkwürdige Korrespondenz der seitherigen Supermacht USA mit dem riesenknospig, seltsam staatskapitalistischen, neue Klassen erzeugenden China, bevor über den »Hightech-Antikapitalismus und [die] Krise der Demokratie« (Zwölftes Kapitel) eine »geschichtliche Diskontinuität « (329ff) im späten Morgennebel zu ahnen ist. Aus der anhaltenden Dialektik von global gewordenem Kapital und Neues schaffender Katastrophe erwächst eine zukünftige Perspektive.

Der am Eingang dieses Abschnitts beobachtete Tönewechsel vermindert die Spannung nicht. Sie flutet sogar fast über von Zeugen und Zeugnissen des kapitalistischen, finanzkapitalistisch schier triumphierenden Pyrrhussiegs der USA, ihrer ungebremsten Kaufräusche mitsamt grassierender Verelendung und der einstweiligen »Rettung« durch den neuen Produktions- und Borgeraum: »Ich sage nur China!« Und nicht nur das. Bis zur »virtuellen Vergesellschaftung übers Handy« (301ff) reichen WFHs zuweilen phänomendichte Beschreibungen. Der Tönewechsel, hier dehnt sich die Metapher, äußert sich vor allem darin, dass Teil I durchgehend, von Marx belebendem Schatten, analytisch-systematisch zusammengehalten wird. Daten und Zitate werden dadurch magnetisch geordnet. Das ist nun nach terminologisch erhellenden, aber nicht tiefere Ursachenschichten lotenden Reflexionen nicht mehr der Fall. Liest man die immer informativ, aber auch von fragwürdigen Gewährspersoneneinsichten bespickten Amerika- und China-Amerika-Kapitel – den von Niall Ferguson geborgten Ausdruck »Chimerika« empfehle ich als verführerische (Werbe-)Phrase zurückzugeben –, dann leiden die Einsichten am fast durchgehenden Mangel an analytisch-systematischer Grundierung. Als hätten die im Akzent vorherrschende politische Argumentation und die fast unmittelbar in die Gegenwart lungernden Ereignisse WFH den ansonsten theoretisch festen Boden und die reflexionskritische Könnerschaft seiner marxistisch überbauten ›sokratischen Ironie‹ zurückgedrängt. Das Achte Kapitel – »Rekonstruktion der US-Hegemonie unter Obama?«, schier historisch-genetisch stumpf geschrieben, wenigstens ein Rückblick bis zum von RL trefflich kommentierten spanisch-us-amerikanischen Krieg hätte nahegelegen6 –, liest sich teilweise wie eine Eloge auf den auch im folgenden Kapitel ausführlich referierten Obama. So sehr ich die jungen- und/oder mädchenhafte Faszination über Obama, wenn nicht nachempfinden, so doch verstehen kann, so wenig dürfen analytisch privilegierte Köpfe wie wir – der nicht elitär gemeinte Ausdruck möge nachgesehen werden – das sonst vergeblich erfahrene Wissen um die Produktions- und Reproduktionsformen dessen, was das Politische heißt, nur um des Momentaneindrucks einer situationscharismatischen, redegewandten Person vergessen (die bourdieusche Terminologie benutze ich nur ausnahmsweise, weil die Verwechslung von Metapher und Begriff, den Extremen einer Sprachskala, zu nahe liegt). Als spielten Größenordnungen in den politischen Machtklötzen eine geringe Rolle. Sie hat WFH im Zusammenhang des Finanzkapitals und seiner auch darum notwendigen Hightech-Voraussetzungen und -Folgen zurecht hervorgehoben. Sie werden übrigens politisch und vollends in Sachen »Demokratie« notorisch übersehen. Als wäre die Politik geopolitischer und demographischer Riesen, ob als »demokratisch« oder staatsbürokratisch-»sozialistisch« bezeichnet, nicht unvermeidlicher Weise von einem technologisch mit Klein- und Großgriffen ausgeweiteten, mehr oder minder sublimen ›bürokratischen, technologisch erweiterten Extremismus‹ gekennzeichnet. Hier allzu lange in die Schule Max Webers gegangen zu sein, kann nicht schaden. Dann werden die politisch-organisatorischen Form-›Gesetze‹ mit ihren Zwängen einsichtig. Sie erlauben es nicht, dass selbst eine ›geniale‹ und habituell charakterfeste Person – isoliert verstanden ein »Rätsel ist rein Entsprungenes« (Hölderlin) – im bürokratischen Interessenwirbel und seiner Geldschöpfungshektik beispielsweise von Washington D.C. als handlungsfähige Person minimal eigensinnig überstünde. Im Sinne der in uns allen angelegten, zuweilen ungemein schöpferischen »projektiven Identifikation«, die uns über die personale Grenze und ihre Narzissmen hinausführt, neigen selbst sonst beste Marx-Schüler dazu, in »die (!) Politik« wundersame Möglichkeiten hinein zu geheimnissen. Wenn nur die gewählten Personen endlich begriffen, über welche Potenzen sie verfügten! Hat nicht längst die Stunde staatlicher, vielmehr weltweit verstaatlichter Steuerung des Finanzkapitals geschlagen?! Indem WFH u. a. just Frank Schirrmacher zitiert, dem nicht selten, wenngleich nicht gerade pfingstlich der Mund (ersatzweise: die Schreibe) übergeht, redet auch WFH, ich möchte sagen wider besseres Wissen, davon, das Verhältnis von »Ökonomie« und »Politik« müsse, zugunsten »der« Politik neu bestimmt werden. Als handele es sich um zwei Entitäten, im Sinne Luhmanns »autopoetisch geschlossene Systeme«.

 

Als sei der »Verfassungsstaat der Neuzeit« nicht liberal westlich im 18., vollends im 19. Jahrhundert so konzipiert und ökonomisch noch viel eingezwängter realisiert worden. Damit dem prinzipiell unverfassten, ›freien Markt‹ – immer ein organisierter Machtmarkt – und seinem durch rationalisierend innovierende Konkurrenz autonom regulierten Kapital, seiner Myriade von Reichtum mehrenden Herren und zum Fortschrittsschleuderhonig gezwungenen Arbeitsbienen, nachrangig der liberal demokratisch verzuckerte Staat zur Seite stehe. Er bedarf des Monopols legitimer physischer Gewaltsamkeit. Die ›gefährlichen‹ politischen Leidenschaften der Staatsangehörigen sind rechtsgewaltförmig einzukasteln. Der Recht, zuerst und primär Besitz und Eigentum sichernde Staat wird mit einem Teppich allgemeiner Legitimation ummantelt. Auf sie können sich in Teilnahme und/oder Schutz nur die männlichen, erst seit dem 20. Jahrhundert allmählich die weiblichen STAATS-ANGEHÖRIGEN beziehen – insofern passt der deutsche Ausdruck staatsallgemein –, die die in der Verfassung gegebenen Prämissen des kriegs- und gewaltgeborenen und heckenden Staates akzeptieren.7 Das sogenannte Verhältnis von »Ökonomie« und »Politik« – wie sagt man neuerdings bundesdeutsch mit einer abgegriffenen Metapher: »auf Augenhöhe« – war also von Anfang an schief, rechts- und klassenrestriktiv. Nicht erst der meist allzu ahistorisch als buzz word benutzte Neoliberalismus hat seine dem Anscheine nach primär ökonomisch behaarten, mit Gewalthufeisen versehenen Pferdefüße allgemein sichtbar gemacht. Das, was liberal-demokratische Politik heißt – staatsautoritär von Anfang an durchwachsen, à la einem deutsch verallgemeinerten »General Dr. von Staat« (Th. Mann) –, hat sich quer durchs 19. und vor allem 20. bis zum heutigen Beginn des 21. Jahrhunderts schubweise demographisch und also populistisch ausgeweitet, durchstaatet, rechtsförmlich verfilzt und bürokratisiert. Die Wachstumsringe veränderten die frühliberale Staats- und bürgerlich von Beginn magersüchtige Demokratieverfassung in einem Maße, dass die repräsentative Demokratie, vom gescheiten Problemüberblick Wolfgang Streecks übersehen, bestenfalls im Sinne von Murray Edelmans trefflicher, wenngleich immanent bleibender Analyse im Sinne der ›symbolic uses of politics‹ funktioniert (mit »Politik als Ritual« unzureichend übersetzt). Vaihingers Ausdruck von einer »Philosophie des Als Ob« aufnehmend, könnte man von einer demokratisch versoßten Politik des Als Ob sprechen. Als habe es je so etwas wie eine repräsentative Demokratie, also eine Demokratie gewählter Repräsentanten quantitativ und qualitativ gegeben – abgesehen von anfänglichen Spurenelementen etwa beim konservativen Edmund Burke oder Einsprengseln einer grassroots democracy in den jungen USA. Sie faszinierten zuerst Alexis de Tocqueville. Als habe sich nicht sehr viel später der viel beschworene »Sozialstaat« als Sozialbürokratie etabliert, indes nie durch Bürgerinnen und Bürger als Citoyen, also demokratisch legitimiert. Von den vornherein ausgesparten ausländischen Arbeitenden mit bundesdeutsch besonderem Ausschluss soll gar nicht geredet werden. »Das Interesse des Staates an sich selber« (Claus Offe) ist in einer durch eine »Legitimation durch Verfahren« luhmannisch nüchtern bestätigten Politik schon aufgrund seiner Eigenschaft als »Steuerstaat« (Schumpeter 1918/19768) primär kapitalgerichtet. Die staatliche Politik auszeichnende Ressource allgemeiner Legitimation stellt sich gegenwärtig, da trifft Streecks Analyse zu, als offene Flanke dar. Diese Ressource wurde indes von Anfang an repräsentativ absolutistisch trocken gelegt. Kostenverlagerungen in periodischen Einbrüchen nach ›unten‹ sind deswegen ebenso selbstverständlich, wie verständlicher Weise rumorende Unruhen in Gefahr sind, sich ohne organisatorisch vermittelnde Einrichtungen ohne eigene Vergesellschaftungschancen selbst zu blockieren. Von dem Institutionen knäuel, von allgemeiner Gewalt an erster Stelle legitimiert und zusammengehalten, das sich heute Staat und von ihm ausgehende »Politik« nennt, zu erwarten, es werde die Weltmarktmächtigen zuerst zähmen und dann eine sozial-, klima- und ressourcenpolitische Kooperation der sich weltweit angleichenden Staaten auf »irgendwie« demokratischer Grundlage inszenieren, heißt die politische (und ökonomische!) Weglosigkeit illusionär verdoppeln. Sie hält nicht zufällig gefangen. Sie wurde nicht von unfähigen Personen aktuell verschuldet.

 

III

Mit meinen letzten Bemerkungen habe ich längst die Hausschuhe immanenter Kritik angezogen. Sie werde ich anbehalten. In ihnen werde ich auch einen WFH und mir gleichermaßen wichtigen Aspekt nur berühren, nicht berücksichtigen, der im Zwölften Kapitel und im Nachwort, Chancen ergründend, seinerseits allzu knapp thematisiert wird. Ich schließe, um mein Umfangsversprechen nicht unziemlich zu brechen, mit thesenförmigen Bemerkungen.

1. Die eben angeritzte Kritik politisch-organisatorischer Form(en) wird, sehe ich es recht, dadurch bewirkt, dass es unter anderem an einer genetischfunktionalen Zusammensicht der Nicht-Entitäten »Ökonomie« und »Politik« hapert. (Unsäglich die Staatsableitungen der 1970er Jahre). Dass dies jedenfalls im Zusammenhang von Arbeiten im glücklicher Weise nach wie vor bestehenden Umkreis der Kritik der politischen Ökonomie bis in die jüngsten, weithin staatsnaiven Krisenanalysen der Fall zu sein scheint (meiner lückenhaften Lektüre entsprechend), deutet nicht nur die länger anhaltende Verengung dieser Kritik an. Die Kritik neu zu fassen, ist eine der vornehmsten Aufgaben des »Argument«-Unternehmens, kein hightechnologisch-kapitalistisches Machtaggregat. Diese genetisch-analytische Zusammensicht klappt nur, ohnehin schwierig zu machen, wie sie ist, wenn das, was heute (staatliche) Politik heißt, wenigstens ebenso sehr zur empirischen Analyse zur Disposition gestellt wird wie ›die‹ Kritik der politischen Ökonomie auf der Stufe des 21. Jahrhunderts.

2. Die am Mangel an politischer und ökonomischer Formanalyse geübte Meta-Kritik verdienen die vor allem China gewidmeten Passagen gleichermaßen. Die Fülle der Kenntnisse übers China der Gegenwart ist stupent. Dieses irregulare aliquod corpus et monstro simile: China, um von Pufendorfs Kritik des darniederliegenden Ersten deutschen Kaiserreichs bei extensiv ausgelegtem mutatis mutandi zu wiederholen, wird von WFH in seiner Korrespondenz zu den USA faszinierend und überzeugend dargetan. Es fehlt indes fast jede Binnenschau dieses riesenhaften Landes: seiner Vorgeschichte seit Maos Machtübernahme; seiner 1,3 Milliarden und mehr umfassenden Bevölkerung; seiner politischen Organisation auch in den sogenannten Provinzen; seiner mehrheitlich armen und rasch entstehenden neuen superreichen Bevölkerung; seinem Agrarsektor, seiner ländlichen Bevölkerung und seiner westwärts schier allein interessierenden Stadtbevölkerung; seinen ethnischen Kompositionen, seiner Unterdrückung der Minderheiten bis hin zur Minderheit politischer Dissidenten, Menschenrechtler und Demokraten. Als sei WFH verständlicher Weise von dem geopolitischen und geoökonomischen Pergamon-Altar der Gegenwart so fasziniert, vergisst er wenigstens Fragen zu stellen, die insbesondere für zukünftige Einschätzungen mitentscheidend sind. Dazu gehörten unter anderem die Antworten auf drei Fragen: (1) wie geht China mit seinen handelnd nicht zu handhabbaren Größenordnungen um? Was fällt wie aus der chinesischen Verwirklichung des modern mit am meisten schreckenden Gesetzes der großen Zahl heraus aus dem strikten Analogon transhuman gedehnter Abstraktion à la Hightechkapitalismus? (2) Jede ernsthafte, insbesondere historisch bewusste sozialistisch-demokratische Dialektik arbeitet anhaltend mit dem praktisch reflektierenden Weberschiffchen zwischen Allgemeinem und Besonderem. So sehr zu beachten ist, was mit den Massen der Menschen und wie geschieht, so wenig sind Fortschrittsopfer zu übersehen. Nach dem 20. Jahrhundert ist kein Humanismus mehr durch Terror zu rechtfertigen, schon weil der erste daran scheiterte und Herrschaft sich human, sprich vom Humanen ›emanzipiert‹. Kann über China – und anders die USA, den »menschenrechtsüßen« »Westen« insgesamt, die BRD – gesprochen werden, ohne von Liao Yiwu (2011) und den Vielen zu berichten, für die er stellvertretend steht? (3) Gegen Ende ist vorsichtig, aber mehr als insgeheim von einer international sich ballenden Arbeiterschaft (»Arbeiterklasse« an und für sich ?!) die Rede. Wie ist es mit der verwohlfeinerten, der disziplinierten, der hier und dort und insgesamt organisierten, der hochgradig unterteilten Arbeiterinnen- und Arbeiterschaft bestellt? Wie mit den Arbeitslosen, den Slumbewohnerinnen und Slumbewohnern? Gerade um der Hoffnungen willen, muss Kritik radikal nüchtern sein.

3. Ein großes Thema ist nur noch fast wie ein Noli-me-tangere zu erwähnen. Es auch nur anfänglich zu skizzieren, bedürfte längerer Erörterungen, von den eigenen Aporien nicht zu schweigen. Meine Kritik am mehrteiligen formanalytischen Mangel hängt damit zusammen. Marx’ Größe als eines Wirklichkeitsanalytikers macht es bekanntlich aus – nur so ist seine Kritik der politischen Ökonomie verständlich –, dass er das Kapitalverhältnis emphatisch als ein soziales verstanden hat. Damit hat er nie aufgehört. Man studiere nur den nicht vollendeten Band 2 des Kapital. Aus hier nicht darzulegenden Gründen hat sich die Kapitalanalyse, gar nicht zu reden von sogenannten nichtkapitalistischen Ländern, seltsam verengt, trotz der heute fortgesetzten Durchkapitalisierung der Länder, des menschlich bewohnten Globus. Dagegen wäre es dringlicher denn je, um umfassender Formanalyse willen, um gesamtgesellschaftlich umgreifender kapitalistischer Deklinationen und Konjunktionen willen, die Kritik der politischen Ökonomie immer zugleich als Kritik politischer Soziologie zu betreiben. Dann könnte der neuerliche Gier-Schwachsinn ebenso wenig Platz greifen wie das Unverständnis für die Boni, um nur dem Anscheine nach oberflächliche Symptome aufzugreifen. Ungleichheit, eine Banalität, die Banalität kapitalistischer Vergesellschaftung, ist vielleicht, in konjunkturell günstigen Lagen, vorübergehend zu mildern. Zu beheben ist sie nicht. Insofern ist die kapitalistische Spekulation, formenfüllig wie sie ist und von WFH vorgestellt wird, ebenso an Differenzen interessiert und orientiert wie Gesellschaften an den konstruktiven und destruktiven Türmereien der Feinen Unterschiede. Sie wurden von Bourdieu trefflich dargelegt (vgl. Haug 2011, 38ff). Das heißt aber, dass fast nichts so wichtig ist, wie gesellschaftliche Formen zu finden und zu erfinden, die Ungleichheit nicht herrschaftssklerotisch auskristallisieren und zu einem hauptsächlichen Bezug allen Verhaltens machen.

 

4. Dass WFH die Dialektik offen hält und nicht, wie es in der Negativen Dialektik Adornos, ein halbes Jahrhundert zuvor schon in Horkheimer/Adornos Dialektik der Aufklärung der Fall zu sein scheint, vom 20. Jahrhundert gekerbt, ausrinnen sieht, ist hoch zu achten, auch wenn ich selbst meinen intellektuellen Unterricht durch Adorno weder leugnen kann noch will. Auch linksgründig ist ein »Ende der Geschichte« nicht zu vertreten. Und die Hinweise zu verachten, die WFH quer durch sein Buch, insbesondere im Zwölften Kapitel und im Nachwort gibt, grenzte nahe an Menschenverachtung insbesondere der Nachgeborenen im brechtschen Sinne und darüber hinaus. Man solle Keime und Knospen achten, auch wenn man um die »Eisheiligen« weiß, die selbst zur klimatischen Unzeit Grünendes erfrieren machen. Apropos Klima: die Gründe kumulieren sich fast übermäßig, die andere Vergesellschaftungen anmahnen. Dennoch stellen sich Analytikern zwei unerbittliche Aufgaben, damit sie Bloch, wie Günther Anders rügte, nicht hofferisch verflachen und das tun, was Bloch vorlesend und Seminar haltend das eine und das andere Mal mit kritischer Säure übergoss: whishful thinking, heute im dominierenden Goodspeak bedrohlicher als je.9 Zuerst sind erfreuliche Ereignisse, auch erfreuliche Hintergründe und Motive, so sehr sie anerkannt und befördert werden sollten, nicht sogleich zum »Arabischen Frühling« u.v.a. zu verallgemeinern. Als betuliche Sonne. Letzteres hat WFH nicht getan. Was er aber nach dem Handyabschnitt über die demokratischen Potenzen der Informations- und Kommunikationstechnologie sonnenfleckig berichtet, zeichnet sich mir durch eine Ambivalenzlücke aus. Zum anderen ist die Zeit überreif, dass wir alle insofern über die Kritische Theorie, auch die Kritik der Politischen Ökonomie hinausgehen sollten, als wir den typischer Weise exklusiven, kapitalistisch motorisierten Innovationen, staatlich sanktionierten zugleich, soziale entgegenstellen müssten. Keine Planutopien. Nein! Aber Mittel, Wege und Kriterien sind in disziplinierter Erfahrung zu phantasieren, wie ein Betrieb, eine Universität, wie eine gemeindliche, eine regionale, eine überregionale Demokratie funktionieren könnten. Etwa die nicht vorhandene, überaus schwierige europäische. Nur zur Illustration: »Stuttgart 21« hätte nicht dem repräsentativ formierten und fügsamen, staatspolitischen Intellektuellen Geißler überlassen werden müssen, wären auch nur demokratische Minima Institutionalia küchenlateinisch und einer demokratischen Küche praktisch imaginativ präsent gewesen.

 

Hightechkapitalismus in der Großen Krise – das Buch hat es konstruktiv und kritisch weitertreibend in sich. Es lohnte, ausgebaut zu werden. Ein hochkarätiger Mensch allein ist unvermeidlich überfordert. Darum wäre es eine der wichtigsten Aufgaben (Innovationen) der Kritikerinnen und Kritiker politischer Ökonomie und Soziologie unserer Tage, ihre eigenen analytischen Verfertigungsformen maßvoll zu kollektivieren und den Personenkult dort zu überwinden, wo es nur um individuell sortierende Noten und Titel geht. Als vermöchten wir fünf saftige Birnen auf einmal in den Mund zu nehmen. In der Überschrift habe ich »Katastrophe« an die Stelle der Großen Krise gesetzt. Letztgenannte scheint mir ihres medizinischen Ursprungs halber und ihres üblichen Gebrauchs wegen zu voraussetzungsreich, zu nah am potenziellen Exit und/oder Heilungsrand. Als gäbe es nicht der Katastrophen, sprich der Zusammenbrüche viele, ohne dass das viel missbrauchte Hölderlinwort gilt. Das scheint mir gerade die verzwickteste Verlegenheit unserer Tage: dass Katastrophen vorhersehbar sind, ohne sie genau in Zeit und Ausmaß bestimmen zu können. Sie sind dem Hightech-Kapitalismus inhärent. Das »Rettende« indes ist wirklichkeitsanalytisch nüchtern nicht festzumachen. Die Krisen (oder Katastrophen) werden groß und klein weitergehen. Die von WFH vorgeführte Anstrengung des Begriffs und praktischer Adäquanz wird als Leistung und Daueraufgabe bleiben.

 

1 So WFHs Absicht, die er mit seinem hier besprochenen Buch, Hightech-Kapitalismus in der Großen Krise, Hamburg 2012, verfolgt (20, Anm. 8). – Einfache Seitenangaben in Klammern verweisen auf dieses Buch.

2 Vgl. den seinerzeitigen Kanzler der University of Berkeley, Clark Kerr.

3 Gr. ›idiotes‹ ist jemand, der scheuklappig nur auf eigene Interessen fixiert ist. Werner Hofmann (1968) hat in der hermetischen Ausdifferenzierung der Fächer vor langen Jahrzehnten zurecht das zentrale Problem der Universitäten gesehen. George Steiner hat in seinem Buch After Babel. Aspects of Language and Translation ungenutzte Ansätze genannt, den Turm nicht zusätzlich mit Sichtblenden u.a.m. zu versehen.

4 Das finanzkapitalistische Abstraktionsspiel weiter herauszupräparieren, möglichst die gesamte Stufenleiter der je Verschiedenes bedeutenden Abstraktionen hinauf- oder hinabzugehen, regt Joseph Vogls Schrift an (2010).

5 In dieser Hinsicht ist auch Max Webers »Vorbemerkung« zum 1. Band seiner noch von ihm durchgesehenen Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1920, zu lesen.

6 Vgl. insgesamt Frank Ungers Aufsätze (2010) weit über die in diesem Band versammelten hinaus.

7 Zu den Prämissen bürgerliche Gesellschaft – Markt – Staat vergleiche Albert O. Hirschman (1987) und MacPherson (1973).

8 Siehe auch Hickel 1978. Er endet u.a mit der Bemerkung: »Diese Position insistiert auf Schumpeters Feststellung, dass die Krise des Steuerstaats immer nur eine ›abgeleitete‹, d.h. eine Krise des Produktionssystems selbst sein kann.« (1978)

9 George Orwells Sprachkapitel des ansonsten überholten 1984 mit entsprechend modesprachlichem Austausch gehört zur Pflichtlektüre aller.

 

Literatur

Haug, Wolfgang Fritz, Kritik der Warenästhetik. Überarbeitete Neuausgabe. Gefolgt von Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus, Frankfurt/M 2009 (zit. KdWÄ)

ders., Die kulturelle Unterscheidung. Elemente einer Philosophie des Kulturellen, Hamburg 2011

Hickel, Rudolf, »Ökonomische Stabilisierungspolitik in der Krise«, in: ders., u. R.R.Grauhan (Hg.), Krise des Steuerstaats, Opladen 1978

Hirschman, Albert Otto, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, aus d. Engl. v. S.Offe, Frankfurt/M 1987

Hofmann, Werner, »Die Krise der Universität«, in: ders., Universität, Ideologie, Gesellschaft. Beiträge zur Wissenschaftssoziologie, Frankfurt/M 1968, 9-34

Liao Yiwu, Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen, Frankfurt/M 2011

MacPherson, Crawford Brough, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, aus d. Engl. v. A.Wittekind, Frankfurt/M 1973

Schumpeter, Joseph Alois, »Die Krise des Steuerstaats« (1918), wiederabgedruckt in: R.Goldscheid/J.Schumpeter – Beiträge zur politischen Ökonomie der Staatsfinanzen, hgg. v. Rudolf Hickel, Frankfurt/M 1976

Streeck, Wolfgang, »The Crises of Democratic Capitalism«, in: New Left Review 71, 51.Jg., H. 5, 1-13

Unger, Frank, Demokratie und Imperium. Die Vereinigten Staaten zwischen Parlamentarismus, Liberalismus und Populismus, hgg. v. Richard Faber, u. Wolf-Dieter Narr, Würzburg 2010

Vogl, Joseph, Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2010