Die unendliche Geschichte des Erwin Strittmatter

Das Tagebuch gehört zu den ambivalentesten literarischen Gattungen überhaupt. Jede und jeder von uns hat sich darin ausprobiert: Liebesleid und Liebesfreud, Siege und Niederlagen,  das Werden der Kinder und das Sterben uns Nahestehender, Geschichten von Freundschaft und Verrat und noch Vieles mehr, das wir nicht einmal dem liebsten Freund, der engsten Freundin anzuvertrauen wagen – all das wird irgendwann einmal zu Papier gebracht, meist schamvoll verschwiegen weggeworfen, manchmal vergessen und gerade von denen entdeckt, die es nun gerade nicht sehen sollten… Und manchmal wird Literatur draus. Mitunter unbeabsichtigt wie beim Mädchen Anne Frank und manchmal sehr absichtsvoll. Aber immer billigen wir dem Tagebuch eine unerhörte Authentizität zu.
Das ist ein Irrtum. Nichts ist subjektiver, den Launen des Tages vollständiger unterworfen als der Tagebucheintrag. Hinsichtlich vorgegaukelter Objektivität wird der nur noch übertroffen von der Autobiographie. Vollständig Essig mit der Wahrheit ist es, wenn berufsmäßige Schreiber, Dichter zumal, zu Gange sind. Auch wenn sie gebetsmühlenartig das Gegenteil behaupten: Sie können nicht anders, sie schreiben immer auf Wirkung berechnet. Anderenfalls hätten sie den Beruf verfehlt. Mindestens dient das Tagebuch diesem Berufsstande als Vorratsbehälter, Gedankendepot, Krückstock nachlassender Erinnerung. Auch Erwin Strittmatter, von dem hier die Rede sein soll, bildete da keine Ausnahme.
Von „Pony Pedro“ (1959) über den „Schulzenhofer Kramkalender“ (1967), die „3/4 hundert Kleingeschichten“ (1971) bis hin zu den großen Romanen bediente sich Strittmatter immer wieder im Steinbruch des stetig wachsenden Gebirges seiner mit großem Fleiß geschriebenen Tagebücher. 1982 erschienen die „Wahren Geschichten aller Ard(t). Aus Tagebüchern“ – spätestens zu diesem Zeitpunkt wussten seine Leser, dass da noch mehr sein musste, die von Eva Strittmatter 1977 herausgegebenen „Briefe aus Schulzenhof“ erfuhren schieferähnlich eine weitere Schicht. Auch wenn die Briefe Evas Briefe sind, ihr Denken, Fühlen und Tun reflektieren – ein Schlüsselbuch auch für Erwin sind sie allemal. Strittmatter selbst verstärkte 1990 mit einer weiteren Auswahl aus den Tagebüchern „Die Lage in den Lüften“ diese sehr persönliche Hinwendung zu seinen Lesern. All dies ist Literatur, Kunst. Mit großem Bedacht ausgewählt, bearbeitet mit artistischer Sorgfalt auch im Umgang mit der Sprache, wie sie beide Strittmatters auszeichnete und die im deutschen Literaturbetrieb so selten geworden ist.
Desto neugieriger wurde man auf die im Jahr des 100. Geburtstages bei Aufbau erschienene Tagebuchedition „Nachrichten aus meinem Leben“ von Almut Giesecke.
Und Giesecke legt den interessierten Lesern – Tagebuch-Lektüre strengt an – ein dickleibiges opus vor, das eine beeindruckende Auswahl aus 245 DIN-A6-Heften der Zeit von 1954 bis 1973 bietet. Sie unterwirft sich allerdings mehreren Beschränkungen: Zum einen fehlen fast völlig die Texte, die Strittmatter selbst in die oben genannten Bände aufnahm, auch die Reiseberichte erscheinen nur höchst unvollständig – darüber ärgert man sich bereits bei der Lektüre der Giesecke-Auswahl. Die von der Herausgeberin argumentierten „Umfanggründe“ sind sicher nicht von der Hand zu weisen, aber sowohl das Weglassen der „Aufzählung und Kommentierung der Lektüre“ als auch die Verkürzung der „Dokumentation der Entstehung bestimmter Arbeiten“ (man erfährt einiges über „Ole Bienkopp“, die „Wundertäter“-Trilogie und kann die Anfänge des „Ladens“ erleben) mindern den Wert der Tagebuch-Edition eines der wichtigsten deutschen Autoren des 20. Jahrhunderts erheblich. Man erfährt Vieles über Freunde und Feinde des Dichters. Man erfährt eine Menge über sein zutiefst ambivalentes Verhältnis zu den Mächtigen der DDR, über sein Verhältnis zu Schriftstellerverband und SED, über den mit den Jahren immer stärker werdenden Pessimismus gegenüber den Erfolgsaussichten des sozialistischen Versuches. Dennoch hielt er diesem Land mit all seinen Gebrechen die Treue: „Mich hat nun einmal das Leben in diesem Deutschland abgesetzt, und ich habe auch nie ernstlich versucht, mich zu rühren und den Umkreis meiner Geburtsheimat zu verlassen. Ich hatte nie die Neigung.“ So steht es allerdings in der Erzählung „Grüner Juni“ (1985). Man erfährt Vieles über das Alltagsleben der Strittmatters. Und manches verstört zutiefst. Es ist oft nicht der Erwin Strittmatter, den man aus seinen Büchern zu kennen glaubt. Eva Strittmatter schreibt im Nachwort zu den „Wahren Geschichten aller Ar(d)t“: „Das Tagebuch an sich und als Ganzes ist Strittmatters Geheimwelt, jene innere Existenz, die jeder Schreibende braucht. [...] Eines Tages wird jemand diese Geheimwelt öffnen, wird den Weg nachgehen, den Erwin Strittmatter seit nun fast dreißig Jahren gegangen ist.“ Almut Giesecke hat die Tür zu Strittmatters Geheimwelt geöffnet. Leider nur einen Spalt. Zu Vieles ist weggelassen worden. Ihr ist das nicht vorzuwerfen. Es schmälert aber den Wert ihres Buches. Die Auslassungen im die letzten beiden Lebensjahrzehnte umfassen sollenden Nachfolgeband werden wohl noch zahlreicher werden.

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Ebenfalls pünktlich zum „100.“ legte Annette Leo bei Aufbau ein Buch über Erwin Strittmatter vor, das sie im Untertitel DIE BIOGRAPHIE nennt. Das ist übertrieben. Im letzten Kapitel räumt die Autorin ein, dass Vieles, über das sie erst berichten wollte, ungeschrieben blieb: „Ich [...] sortiere die Haufen von Merkzetteln, [...], mit Hinweisen, die ich zunächst wichtig fand und dann doch nicht berücksichtigt habe, weil die Dynamik des Erzählens sich in eine andere Richtung bewegt hat.“ Leo korrigiert mit dieser Selbsteinschätzung den Endgültigkeit suggerierenden Anspruch ihres Buches. Wenige Seiten später schließt sich der Motivationskreis. Nach der kurzen Beschreibung der großen Lebenslüge des Gustav Just, der als Leutnant der Wehrmacht 1941 an der Erschießung von ukrainischen Zivilisten beteiligt war – das flog 1992 auf – bemerkt sie, dass die Geschichte Justs ihr „wie eine weitere Facette des verborgenen und verschwiegenen Vergangenheitsgepäcks“ erscheine, „das die Angehörigen dieser Generation durch die DDR schleppten.“ Einmal abgesehen davon, dass die Angehörigen dieser Generation ebendieses „Vergangenheitsgepäck“ auch durch die Bundesrepublik (alt) und Österreich schleppten, muss Erwin Strittmatter hier vor seiner Biographin in Schutz genommen werden. Allen Spekulationen zum Trotz, die nach den „Enthüllungen“ Werner Lierschs ins Kraut schossen und auch von Strittmatter-Kennern wie Günther Drommer („Erwin Strittmatter und der Krieg unserer Väter“, 2010) nicht restlos aus dem Weg geräumt werden konnten, – eine direkte Beteiligung des Polizei-Wachtmeisters Strittmatter an den Mordaktionen des SS-Polizei-Gebirgsjäger-Regimentes Nr. 18 ist nicht belegbar und der Analogieschluss zur Geschichte Justs unredlich.
Annette Leo verwendet mehr als ein Viertel ihrer Biographie der Darstellung der Kriegsjahre Erwin Strittmatters. Das ist interessant und solide recherchiert. So manches unbekannte Detail vermag sie  mitzuteilen. Zu danken ist dies vor allem der Bereitwilligkeit der Strittmattersöhne, die ihr bislang unzugängliches Archivmaterial nach anfänglichem Zögern zur Verfügung stellten. Dies korrigiert von Strittmatter selbst zumindest nicht widersprochene biographische Mythen. Annette Leo erzählt beispielsweise die Entstehungsgeschichte der zur Reihe der „Nachtigallengeschichten“ gehörenden Erzählung „Grüner Juni“ (1985). Der Autor geriet mit „Grüner Juni“ wie mit fast allen seinen Arbeiten mit den Zensoren in Konflikt – und erklärte seinen Korrekturunwillen damit, dass es sich um ein Stück seiner Lebensgeschichte handele. Leo: „Der Autor selbst hebt hier die Distanz auf zwischen Biographie und literarischer Verarbeitung und muss seine Auskünfte daran messen lassen.“ Muss er nicht. Das war eine klassische Schutzbehauptung Strittmatters gegenüber Kulturminister Joachim Hoffmann, die für das Kunstwerk vollkommen nebensächlich ist. Generationen von Germanisten suchten und suchen beispielspeise im „Werther“ Goethes biographische Spuren zu finden. Die Rezeption des Romans beförderte dies nicht, auch wenn das eigene Erleben des Dichters deutliche Eindrücke im Manuskript hinterließ.
Erwin Strittmatters literarische Auskünfte sind keine über die eigene Biographie, auch wenn Stanislaus Büdner und Esau Matt ihrem Schöpfer mitunter zum Verwechseln ähnlich scheinen. Annette Leo ist sich der Gefahren der von ihrem Protagonisten gelegten Leimruten durchaus bewusst – dennoch entgeht sie ihnen nicht. Sie selbst wirft dieses aber Eva Strittmatter und Günther Drommer als „besonders problematisch“ vor, die in ihrer 2002 erschienenen „Biographie in Bildern“ Roman und Leben „Ineins“ gesetzt hätten. Der Vorwurf ist unberechtigt.
Dennoch bietet Leo manch aufschlussreiche Deutung Strittmatterschen Verhaltens. So im Umgang mit Freunden und Kollegen wie Bertolt Brecht und Lew Kopelew, Jeanne und Kurt Stern, Boris Djacenko und Hermann Kant. Für seine offenbar schon sehr zeitig in den neunzehnhundertsechziger Jahren einsetzende kritische Distanz zur Politik der SED-Führung und das dennoch bis mindestens zum Mauerfall andauernde Festhalten an der Berechtigung des Sozialismus-Versuches der DDR findet sie nachvollziehbare Erklärungen. Die spätestens seit Irmtraud Gutschkes Interview-Buch („Eva Strittmatter. Leib und Leben“, 2008) nicht mehr überzeugende Schulzenhof-Idylle wird von Annette Leo endgültig dekonstruiert. Die „Hauptsache“ Strittmatters, das Werk aber, kommt leider entschieden zu kurz weg. Die politische Biographie ist es, die die Autorin interessiert – und im Zentrum die Frage, ob Erwin Strittmatter nun eine „Gustav-Just-Biographie“ gehabt hat oder nicht. Für Annette Leo ist dies persönlich bedeutsam: Strittmatter habe „zu den Menschen gehört, vor denen sich meine Eltern (die Autorin ist die Tochter des Résistance-Kämpfers Gerhard Leo) wohl immer ein wenig gefürchtet hatten. [...] Das waren ihre Genossen in der SED, aber sie haben sich mit ihnen immer fremd gefühlt. [...] So ist diese Biographie auch ein Versuch, die Furcht meiner Eltern in mir zu überwinden…“
Ihr Buch ist eine biographische Annäherung, nicht mehr aber auch nicht weniger. „Die“ Biographie muss noch geschrieben werden. Viele Fragen werden noch sehr lange Zeit offen bleiben. Manche Antwort hätte nur Strittmatter selber geben können, und er hat diese mit ins Grab genommen. In den 1995 postum unter dem Titel „Vor der Verwandlung“ von Eva Strittmatter herausgegebenen „Aufzeichnungen“ berichtet Erwin Strittmatter am 1. August 1993 über diverse Erlebnisse mit „Befragern“: „Seine Fragen verraten, daß er meine literarischen Arbeiten nicht kennt. Ich werde ungehalten.“ Annette Leo zitiert den Sohn Erwin Berner: „Sein Werk ist so groß, es wird das aushalten.“

Annette Leo: Erwin Strittmatter. Die Biographie, Aufbau Verlag, Berlin 2012, 448 Seiten, 24,99 Euro; Erwin Strittmatter: Nachrichten aus meinem Leben. Aus den Tagebüchern 1954 – 1973. Herausgegeben von Almut Giesecke, Aufbau Verlag, Berlin 2012, 601 Seiten, 24,99 Euro