Der endlose Kulturkampf oder Kritik kultureller Urteilskraft

Zu Wolfgang Fritz Haug, Die kulturelle Unterscheidung. Elemente einer Philosophie des Kulturellen

Worum es geht
Haug geht darauf aus, den Begriff der Kultur von der Legion der bewusst unbewussten Missbräuche zu emanzipieren. Er will ihn im anhaltenden Wrestling um E-Manzipation zu autonomem Handeln von allen lähmenden und knechtenden Rüstungen befreien. »Im Folgenden geht es unter immer anderen Aspekten um Versuche, das originär kulturelle Moment freizulegen und der Umarmung durch Ideologie und Unterhaltungsgeschäft zu entwinden. Die falsche Positivität der ›Kultur‹ soll aufgesprengt werden. In dem Maße, in dem es gelingt, der in jedem Individuum und potenziert in den Sozialen Bewegungen lebendigen Lust auf kulturelle Autonomie Begriffswerkzeuge zur Verfügung zu stellen und zugleich dazu beizutragen, das Ringen um kulturelle Hegemonie nicht zur Hegemonisierung des Kulturellen durch die Politik werden zu lassen, wird diese Schrift ihren Zweck erfüllt haben.« (13f) In diesem Versprechen des dritten Buches einer Trilogie nach einer Theorie des Ideologischen und einer Kritik der Warenästhetik sind, lösungsgespannt, schon einige Schwierigkeiten zu erkennen, auf die später zurückzukommen sein wird. Wie erkennt man »die falsche Positivität der ›Kultur‹«? Wie wird man »kultureller Autonomie« teilhaftig inmitten eines Kampfes um andere Formen und Inhalte allgemein geltender, also hegemonialer Kultur bzw. Politik? Diese verfügen jeweils über exklusive Maßverhältnisse und Attraktionen.

Kulturelles Dispositiv
Die ersten vier Kapitel sind eigens zu dem Band geschrieben. Hier wird zuerst die Begriffslosigkeit von gängigen Kultur-»Theorien« – Clifford Geertz, Zygmunt Bauman u.a. – apostrophiert; wird zurecht nicht nur gefragt, sondern in Frage gestellt, ob ›Kultur‹ nichts anderes als ein perspektivisch beliebiger Diskurs sei; wird das Kulturgerede mit dem wohlfeilen Preisschild versehen: »theoretische Aushöhlung« (23) – jahrelang war es in den sog. Geistes- und Sozialwissenschaften kaum möglich, eine Forschung finanziert zu erhalten, die kein kulturelles Make-up besaß; wird die induktionsseelige (Engels) Verdoppelung dessen angemerkt, was sich ereignet; und werden schließlich die »Wandlungen der Kulturauffassung« kurz bis zu eigenen Verlegenheiten Revue passiert. Das 2. Kapitel nimmt mit Peter Weiss, Freud, Marx u.a. die Geruchsspur dessen auf, was zuvor begriffslos nach Nichts schmeckte. Marx’ Feststellung kann gar nicht oft genug unsere Wahrnehmungen mit eigenen Augen versehen: »Marx zieht daraus die Konsequenz«, heißt es im Abschnitt »Kultur-Kategorie vs. Kultur-Begriff«, dass es sich für Wissenschaft verbietet, solche immer schon interpretierten Real-Kategorien ›ohne weitere Kritik‹ vom kapitalistischen ›Alltagsleben‹ sich vorgeben zu lassen, […] ohne darüber zu vergessen, dass die reale Verknotung in der Realität unaufgelöst bestehen bleibt.  Ohne Kritik gibt es keine Erkenntnis, die diesen Namen verdient.« (35)

 

Nachdem die Kritik die Sicht frei gemacht hat, ist es an der Zeit, das, was proteisch wechselnd Kultur ›ist‹, genetisch und funktional im (kapitalistisch kernigen) Arbeitsbegriff zu ergründen und als bestehende zu begründen. Bourdieus Rückführung dessen, was er die »feinen Unterschiede« nennt, auf ungleiche und Ungleichheit mitschaffende Herrschaftsumstände, wird gefolgt vom »Versuch eines praxisphilosophischen Neubeginns« (41). Das erinnert nicht nur in der Formulierung an Antonio Gramsci. Ihm ist später das 6. Kapitel gewidmet. »Hier ist kulturelle Urteilskraft gefragt« (ebd.). Den Abschnitt leitet WFH mit Walter Benjamins bekannter, aber zumeist nur zitationspathetisch liegen gelassener Bemerkung ein: »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.« Um wahrhaft sehend zu werden und sich nicht naiv auf einem evolutionären »Prozess der Zivilisation« niederzulassen (vgl. Norbert Elias und tutti quanti), gilt in der Tat: »Um die kulturelle Urteilskraft zu entwickeln, tut eine philosophische Grundlegung Not.« (42) Freilich: Wie kann man marxisch das »›kulturelle‹ Wirken« ausloten, wenn zuvor kein »Probierstein der Wahrheit« (Kant) aller Multivalenz und allem genetischen Interessenansich entgegen wenigstens in nuce zuhanden ist? »Eine Vertiefung unserer epistemologischen Reflexion des Kulturellen [ist] angezeigt«, Begriffe im praktischen Gebrauch zu konstruieren und zu dekonstruieren in einem. Die nötige Dauerdialektik von »abstrakt« und »konkret«, Marx-angeleitet, führt zur »Quellform der Kultur« (44). WFH nennt es »das kulturelle Moment« (ebd.).

Gleichursprünglich der körperlichen Organisation und der »gattungsspezifischen Freiheit von Festlegungen« »entspringt nach unserer Annahme das Kulturelle«, »einzig auf den geschichtlichen Produktionsprozess des menschlichen Wesens festgelegt, auf Basis sprachlich vermittelter gesellschaftlicher Arbeit« (45). »Während Bourdieu mit dem Begriff der distinction die bürgerliche Geltungskonkurrenz analysiert, in der die Individuen sich selbst, die Sache instrumentalisierend, von anderen unterscheiden, interessieren wir uns dafür, wie sie in der Sache unterscheiden und womöglich die Anderen einbeziehen. Das mag wie ein feiner Unterschied aussehen und ist doch einer ums Ganze. Denn die Sache selbst, das sind die gegenständlich tätigen Menschen in ihrer geschichtlichen Selbstwerdung. Aus dieser Bewandtnis ist ein Begriff der kulturellen Praxis zu entwickeln, der geeignet ist, ihr ein Licht aufzustecken.« (48) »Eine Problemskizze« der »materiellen Kultur« fundiert – im 3. Kapitel – die skizzenhafte »dialektische Anthropologie« (Adorno). Sie macht nach streifendem Zitat von Bert Brechts so lange klassenspezifischen »Fragen eines lesenden Arbeiters«, wie solche Lesekraft nicht allgemein geworden ist, den geradezu essenziellen ›Schrecken der Leere‹ herrschender, weil herrschaftsserviler Kulturvorstellung abendländischer Provenienz kund. Er besteht als »geistiger Ausdruck« »immer komplexer ausdifferenzierter Herrschaft im logozentrischen Weltbild« (65). »Das Materielle« – das ist ein Hotel Kunterbunt aus natürlichen Gegebenheiten, organisatorischen Formen, technischen Mitteln und körperlichen, ja auch kulturellen Ausdrücken, eine allseitige Knetmasse – das Materielle also »wird zu etwas Formlosem aber Formbaren degradiert. Die Form kommt von oben. Sie ist das Höhere, in letzter Instanz Göttliche.« (Ebd.) »Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts« wird der sozialistisch-kommunistische Theorie-Praxis-Hebel von Marx u.a. umwälzend zugänglich. »Dessen intellektueller Schärfe (verleiht) der Aufstieg der internationalen Arbeiterbewegung eine mitreißende Wucht.« (66) Die historisch anthropologischen – so formulierte der Rezensent eigenwillig am liebsten – und intellektuell öffnenden Assoziationen jagen sich, Marx-Engels-geleitet, in dichter Folge, vom Hunger nach Erkenntnis und der Umwälzung dessen getrieben, was und warum es so ist und dynamisch wird. ›Das Materielle‹, allemal als natürlich-soziales vor allem herrschaftlich durchwachsenes Ensemble zu greifen, ohne es je ganz zu ergreifen, wird mit Herbert Marcuse, Raymond Williams u.a. in seiner an sich seienden »Stofflichkeit« und »Dinglichkeit« aufgehoben, schwäbisch verstanden.

»Als kulturelle sind die Dinge kulturell-gegenständlich. In philosophisch reflektiertem Sinn kann es daher strictu sensu keine immaterielle Kultur geben.« (78) »Parametern der Werkzeugentwicklung sind […] Parameter der Entwicklung institutionalisierten sozialen Zusammenwirkens und gesellschaftlicher Herrschaft zur Seite zu stellen.« (78f) »Die Menschen erfinden eine zweite Haut über ihrer Haut in Gestalt der Kleidung, und eine dritte in Gestalt der sich gegen die Außenwelt abschließenden Wohnstätte. Schließlich holen sie sogar das Feuer und grenzen diesen tödlichen Feind als lebenserhaltende Glut, die nie erlöschen durfte, in den Herd ein […]. Ihre Umwelt durchdringen sie mit Wegen. Doch all diese dinglichen Produkte hätten weder hergestellt werden können, noch könnten sie gebraucht und bewohnt werden, wären sie nicht in Sprache und Institutionen eingehüllt, wie diese wiederum ohne sie in Gegenstandslosigkeit zurücksänken.« (80f) Dieser unvermeidliche, geradezu ›eineiige‹ Doppelung zugleich unüberwindlicher Heterogenität erhellt, wie es zur Fülle der projektiven Täuschungen, all der in ihrer Wirksamkeit kaum überschätzbaren Fetischformen kommen kann. WFH schließt daran nicht von ungefähr die in der Eindimensionalität (H. Marcuse) mehrdimensional faszinierende »Konsumkultur der Warenwelt« (83ff). Ihre »Indifferenz schreit die Differenz heraus«, die wiederum das möglich macht, was mit Jürgen Habermas »Kolonisierung der Lebenswelt« genannt werden kann. Solcher sucht WFHs Kulturtheorie »auf den Grund zu gehen« (84). Sie fasst »das Kulturelle als Selbstzweckhandeln von Menschen«, einer Herzklappe von WFHs Philosophie kultureller Praxis, die »gleichwohl nicht normativ ist«. Daraus sprießt »die kulturelle Unterscheidung« und zugleich die qualitative Differenz zur bourdieuschen Fundgrube der »Feinen Unterschiede« und ihrem nachhaltigen methodisch-analytischen Trimm-Dich, der primären soziogenetischen Interessenfrage. Das ist die fundierende und maßstäbliche Frage: »nach der kulturellen Unterscheidung derjenigen Momente, in denen Individuen oder Gruppen sich als Selbstzweck behandeln« (85). Was Wunder, dass – mit Stuart Hall gesprochen – hier der Springquell allen Kampfes brodelt. »Antagonismus ist die einzige Form, in der das endlos widerspruchsvolle Terrain kultureller Produktion und Artikulation erfasst werden kann« (zit. ebd.).

Aufhaltsame Klärungen: Stolpersteine und Schlaglöcher – Zur Illustration nie dauerhaft vermeidbarer kognitiv-praktischer Verlegenheiten (sokratisch: Aporien)

Ich habe mich bisher weitgehend in fußgroßen und schrittweiten Spuren bewegt, die WFH in einem viel begangenen Gelände mit eigenem Profi l vorangegangen ist. In den Kapiteln vier bis neun samt den drei wichtigen Anhängen muss ich aus zwei Gründen anders verfahren, einmal um den Text nicht allzulang geraten zu lassen, aber auch weil die folgenden Teile, die die Grund legenden Eingangskapitel an Umfang übertreffen, wenngleich sie mit ihnen eine Einheit mit Modifikationen bilden, teilweise zu signifikant anderen Zeiten und anderen Zwecken verfertigt worden sind. Nur einige Schwierigkeiten und Ambivalenzen werden vor die intellektuellen Füße der Lesenden geworfen. Eine Vorbemerkung sei gestattet: Karl Kraus, Repräsentant der Kritik an bestehender Kultur auf dem Niveau einer korruptionslosen Sprache, hat die härteste Kritik an einer dichten und in sich konsistenten Buchversammlung von Gedanken geübt, die Spähblicke in den Schlamassel dessen, was da »Wirklichkeit« heißt, erlaubten, indem er feststellte: ›Dazu fällt mir nichts mehr ein‹. Für WFHs Kulturbuch, allem Kult entgegen, trifft das Gegenteil zu. Es gleicht einer Stafette von Einfällen selbst noch dort, wo es zu Einwänden gegen von ihm vorgetragene Behauptungen anregt. Die eminente Leistung seines mit Kerben versehenen Traktats besteht vor anderem darin, dass er den Kulturbegriff praktisch gekehrt hat, materiell mehrdimensional vertäut und ausgedrückt mit einem nicht beliebigen fundierenden Bezug versehen auf die selbstbewussten, selbstbestimmenden Möglichkeiten des Menschen individuell und kollektiv inmitten ihrer Verschiedenheiten. Das erfolgt nicht abgehoben. Vielmehr geschieht es im schaffenden Bezug auf die Menschen, die selbst singulär kollektiv zu fassen sind. Historisch zusammenwirkend aktualisieren sie die Möglichkeiten – oder verwirken sie, indes nie definitiv –, die in ihnen kreiert kreierend frei und gleich in der Ekstase des aufrechten Gangs Gestalt gewinnen, Ernst Blochs humane Realbeschreibung und Metapher. Ineins mit dem gegürteten Buch überschießender Einfälle kann es, wie auch anders, nicht ausbleiben, dass es Aussagen, Passagen und Lücken gibt, die den bekannten Dornen an noch nicht überzüchteten Rosen gleichen. Als könnten Dornen im popperschen Flachsinn Rosen »falsifizieren«. Sie werden zu Rosen erst, weil und indem sie stechen können. Und das Rot verdunkeln.

 

»Standpunkt« im Strudel (vgl. bes. »Viertes Kapitel: Standpunkt und Perspektive materialistischer Kulturtheorie«)

Als sei das Einfache zugleich einfach zu machen, wird eine Kaskade von »Theorien « verheißen. Als seien solche ohne esoterische und exoterische Ambivalenz, ja schwieriger noch ohne Abschüssigkeiten möglich. »Eine Theorie kultureller Identität «, wie eine »Theorie kultureller Handlungsfähigkeit« samt einer »Theorie der Persönlichkeit«. Das scheint ohne weiteres, vielleicht mit einigen Schweißtropfen auf der runzeligen Stirn möglich. Dann lässt sich schlicht feststellen im Sinne von »Ist-Gegebenheiten«, auf die gebaut werden kann: »Die Theorie von Marx und das erfüllte Leben eines Arbeiters gehören zusammen.« (99) Freilich folgt im Nachsatz: »Um sie zu begreifen, müssen wir sie dennoch auseinanderhalten.« (s.f.!). Gefahr besteht, dass der historische Materialismus Marx’ zu einer übergeschichtlichen Wahrheit werde, die in ihren Hauptbegriffen – etwa dem Klassenbegriff, dem der »Masse«, u.ä.m. – nicht mehr historisch verjüngt und neu bestimmt wird. »Marx hat die wissenschaftliche Entdeckung gemacht, dass die gesamte Wertungsfrage auf der Klassengrundlage ruht und dass es genügt, die Verhältnisse als allgemeine, vom unmittelbar [!] gesellschaftlichen Standpunkt aus zu denken, damit – ohne jede äußere Hinzufügung von ›Wertung‹ – wissenschaftliche Wahrheit ›parteilich‹ wird.« (106) Sehe ich es recht, sind das Entstehungsjahr (1980) und der Kontext (einer Kontroverse im Umkreis der DKP) nicht zufällig, in dem WFH auch keine Schwierigkeiten zu haben schien, den (Un-)Begriff »Identität« wie eine feste Sache zu gebrauchen.1 Darum wäre jenseits einer wohlfeilen, albern zu fordernden katholischen Beichtgeste, pater peccavi, nur weil einer, randständiger noch, sich keine Finger schmutzig zu machen schien, eine in heutigen Einsichten begründete Korrektur um der Kultur der Selbstbestimmung willen zu wünschen, die allemal Lernen einschließt.

 

Jenseits der schimmligen Pilze der »Werte«
Trefflich formuliert WFH im 5. Kapitel – »Die kulturelle Unterscheidung. Zur Diskussion über Kultur und Kulturdefinitionen«: »Das Wort ist wie ein herrenloser Hund, bereit, jeder Bedeutung zuzulaufen.« (113) Ähnlich könnte man über die Hohlform des Worts »Wert« lachen. Man höre sich nur die neueste, täglich westwertevoll übertroffene Wert-Gockel-Gauckerei des im Moment des Schreibens erst bestimmten, noch nicht »gewählten« führenden bundesdeutschen Staatsmanns der Etikette an. Sie wird nicht nur in Afghanistan auf ihren zerstörerisch überflogenen Boden gebracht. Dessen unbeschadet erstaunt, verwirrt fast, wie sehr WFH allerlei Kultur-›Werte‹ und Kultur als ›Wert‹ negativ apostrophiert. Dagegen wird fast hymnisch hervorgehoben, Marx habe die Umformung des Arbeitsbegriffs »ohne Zuhilfenahme auch nur eines Atoms Moral oder sonstiger ›Wertvorstelllungen‹ oder normativer Ideen durchgeführt« (104). Oder wird statt des jene Normen avisierenden Tabu-Worts wie schon in der »Feldbesichtigung vorweg« mit emphatischen Tautologien gearbeitet. Als ließen diese – wie der »reale Sozialismus« real allein als Täuschung – im dogmatisch (flexiblen) Beton keinen Frostriss mehr (um darum gegebenenfalls umso mehr zu explodieren oder als Involution stattzufinden). »Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen, wie die durch ihre eigene Aktion erzeugten.« (Marx/Engels, Dt. Ideol., zit. 93) Als Menschenrechtshansel über die Jahrzehnte hinweg, der ›seinen‹ Marx von der »Judenfrage« bis zu den »Grundrissen« erprobt und bejahend verinnerlicht hat, als Früh- und Immernochetwasnietzscheaner der vielerlei doppelt- und dreifachmoralischen Täuschungsvarianten gewahr, ist mir die Absicht traut, das kooptationsfüllige Orchester der immer neuen Moral- und Wert-Trompeter bis hin zur wieder brausig tönenden »fdGO« tunlichst zu meiden. Trotzdem, Kultur, wer wüsste das besser als WFH, die anders mit Emile Durkheim »Physik der Sitten« genannt werden könnte, keine protestantisch-kantsche ins Gesinnungsinnere heimelig verlegte »Metaphysik der Sitten«, materialistisch im Sinne von WFH, heischt notwendig den Wertekampf, wie immer man ihn im einzelnen bezeichne. Ihre Probiersteine sind dann unter anderem die institutionell materielle Fundierung mitsamt der praktischen Umsetzung. Selbst wenn’s nicht so einfach geht, wie Erich Kästner das feststellte: »Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es.« Albert Schweitzer drückt es in einer Sprache aus, die nicht mehr die unsere sein kann. Enthält aber das, was er sagte, nicht ein kräftiges Körnlein richtiger Einsicht? »Meine Lösung des Problems«, schreibt er in Kultur und Ethik (1923), »ist die, dass wir uns entschließen müssen, auf die optimistisch-ethische Deutung der Welt in jeder Weise zu verzichten. […] Auch Ethisches tritt in keiner Weise in dem Weltgeschehen zutage. Der einzige Fortschritt des Erkennens ist, dass wir die Erscheinungen, die die Welt ausmachen, und ihren Ablauf immer eingehender beschreiben können. […] Resignation in bezug auf das Erkennen der Welt ist für mich nicht der rettungslose Fall in einen Skeptizismus […]. Ich sehe darin eine Wahrhaftigkeitsleistung. […] Alle Weltanschauung, die nicht von einer Resignation des Erkennens ausgeht, ist gekünstelt und erdichtet, denn sie beruht auf einer unzulässigen Deutung der Welt«2.

Nur eine kleine Erinnerung an eine große und nicht nur von den westlichen Werte-Herrschaftspaukern folgenreich versäumte Aufgabe. Oben wurde Benjamins Bemerkung als Zitat WFHs wiedergegeben. Dass Kultur immer auch Barbarei, meist verleugnet, einschlösse. Das Zitat blieb indes auch bei ihm folgenlos. Unsinnig wäre es, ihn dieses Versäumnisses zu zeihen. Man kann nicht nur, worauf Walter Benjamin anderwärts launig aufmerksam gemacht hat, mühearm dickere Bücher schreiben, indem man erklärt, was alles nicht erklärt wird. Man vermag auch scheinkritische Rezensionen zu fabrizieren, indem man auf Lücken hinweist, die der Autor gar nicht füllen wollte. Insoweit gilt Hegels bekanntes Motto, eine Sache in ihrer Stärke darzustellen und ihre Schwächen in ihrer Stärke darzutun. WFHs und unser aller Versäumnis ist aber deshalb wach zu halten, weil anders ein historisch-materialistisch geschultes Kulturverständnis in der westlichen Falle verharrt trotz Marx/Engels’ u. a. ethnologischer Schriften und Argumentationen. Nicht allein geht es nicht mehr an, den Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts gleichsam säkularisiert weiterzupredigen. Und recht besehen herrscht kulturell eindimensional gegenwärtig schier global die Überzeugung einer ökonomisch-technologischen Lösbarkeit aller Probleme. Konsequent werden letztgenannte insoweit kapitalistisch technologisch ›gelöst‹, als man sie diesen, ›Kultur‹ inklusive, gleichschaltet. Für Marx’ Nachgeborene, also in neuen Auflagen von ihm Mitgeschulte, ist es auch geboten, mehr denn je die immer noch expandierenden humanen Kosten bis in den Begriff der Humanität zu skandalisieren, die Neo-Kolonialismus, Ausrottung des ›Primitiven‹ und diverse Okzidentalismen produzieren. Sämtliche Leitbegriffe sind darum anders zu fassen, selbstredend der von WFH liegen gelassene ›Wert‹ der sog. Menschenrechte.

 

Hin zu einer dialektischen Kritik kultureller Urteilskraft heute!

Viele Aspekte, die WFH – nicht einfach im Kulturwalde dahingehend, durchaus Bestimmtes suchend – ausleuchtet, wären zu summieren. Dazu gehörte die penetrant nüchterne analytische Beschreibung des kulturellen Ausverkaufs, der in Zeiten verschärfter globaler Konkurrenz und systemischer technologischer Surrogate als ›Subjekte‹ vor sich geht. Jetzt wird, jetzt »ist« das Abstrakte bis ins Pianissimo des Intimen konkret (und also das Konkrete hegelisch-marxisch abstrakt). Die Dialektik der Aufklärung wäre weniger mythologisch, an Gegenwartsmaterial fülliger, die Kritik der längst unpolitisch, realontologisch determinierenden Ökonomie samt Technologie neu aufzulegen. Hierfür ist mehr denn je WFHs Profilierung eines human eigensinnigen Kulturverständnisses unabdingbar. Erwähnen möchte ich nur zwei Aspekte. Der eine unausgeführt, der andere in den ›wertvollen‹ Anhängen der Kulturellen Unterscheidung zu finden und weiter zu treiben. An erster Stelle stünde ein dem 3. Jahrtausend annähernd angemessenes Verständnis dessen, was den Kern der attischen Tragödie des Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung ausmachte. Das »Ding an sich« menschlicher Gesellung: Hybris. Dann erst wäre, wenngleich nie auszuloten, besser zu begreifen, was die nazistische Herrschaft mitten im »Prozess der Zivilisation« und ihre »Tragödie des Humanismus« ausmachte. An zweiter Stelle steht unser aller Aufgabe, philosophisch und radikal praktisch, kulturelle Praxen und ihre Institutionen zu schaffen noch und noch. Fast formulierte ich biblisch: wo zwei von uns zusammenkommen … Was einst die »Pfingstuniversität« alias »Volksuni« ausmachte, von mir sträflich und sei’s nur mit meiner Kritik unterstützt, das ist in allen Formen außerhalb und innerhalb, klein und groß, vergebens und mit neuem Mut das Ceterum censemus unserer Zeit: im übrigen lassen wir uns und die Jüngeren nicht aufkaufend ausverkaufen. Und sei’s noch so brosamenhaft und zugleich »unnaiv« zu probieren. Eines von Adornos, Habitus qualifizierenden Schlüsselwörtern als docta spes nach dem Nationalsozialismus. Ein Formulierungsbonbon zum Schluss: Trefflich Haugs »Exkurs: Holbeins Kaufmannsporträt von 1532« (56ff), das holbeinisch unübertrefflich auf dem Umschlag prangt. Kunst an der humanen Grenze des Absoluten. Gäb’s noch eine Steigerung der haugschen Darstellungskunst souveränen Kultur- und Politikverständnisses, man fände es unter dem Titel »Sozialistische Volkskultur. Biermanns Volksuni-Konzert von 1980«, auf den letzten Seiten des Buches. Ein Konzert auf seinem Niveau von WFH dargestellt. Encore!

 

Anmerkungen

1 Vgl. fast zwanzig Jahre später WFH, im World-Wide Web des Kapitalismus: Globalisierung, in: Eric Hobsbawm u.a., Das Manifest heute. 150 Jahre Kapitalkritik, Hamburg 1998, 122-36; siehe auch: Frigga Haug, Feministische Anmerkungen, ebd. 178-92. Zum Gebrauch des Identitätsbegriffs mehr als ein bloßes nomen, siehe W.-D.Narr, »Identität als (globale) Gefahr. Zum Unwesen eines leeren Wesensbegriffs und seinen angestrebten Befindlichkeiten «, in: Walter Reese-Schäfer (Hg.): Identität und Interesse, Opladen 1999, 101-28.

2 Ich verdanke diesen Hinweis einem meiner philosophischen Lehrer, Walter Schulz aus Tübingen und seiner, seinerzeit gehörten „Philosophie im gegenwärtigen Zeitalter“; fast zur selben Zeit beflügelte raumgleich Ernst Bloch.

 

Aus: DAS ARGUMENT 298/2012 ©