Deutscher Rechtsruck

Wer seinerzeit Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ nur als Rassistenbibel wahrgenommen hatte, erlag einem Irrtum. Das war die vom SPIEGEL vorgegebene „Lesart“. Bei Sarrazin geht es gegen die „Unterschichten“, praktischerweise gegen „Unterschichten mit Migrationshintergrund“. Die damit („endlich spricht mal einer aus, was wir alle denken“) losgetretene verbale Hatz auf Migranten, Unterschichten und Muslime hatte mitnichten ein Ende gefunden als klar wurde, dass einem rassistischen Diskurs immer die Tat zu seinen Gedanken folgt. Ich meine die NSU-Morde und nicht nur diese. Das offizielle Herunterlügen der Opferzahlen ist das Eine – die Initiative „Mut gegen Gewalt“ zählt 182 Menschen, die seit 1990 von rechtsextremen Tätern umgebracht wurden, das Bundesinnenministerium (Stand Februar 2012) „nur“ 58. Das Andere ist das fortgesetzte publizistische Feldgeschrei. Der Berliner SPD-Lokalpolitiker Heinz Buschkowsky rechnet in seinem Buch „Neukölln ist überall“ mit einer in seinen Augen komplett gescheiterten Sozial-und Integrationspolitik ab – die er allerdings seit 1989 mit verzapft... Der Schmarren geriet auf die Bestsellerliste. Bei der DVA legte jetzt ein gewisser Walter Wüllenweber ein „Aufklärungsbuch“ mit dem reißerischen Titel „Die Asozialen. Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren – und wer davon profitiert“ vor. Gelebt werde von den Ruinierern, so Wüllenwebers Botschaft, durch „Tricksen als Lebensform“ natürlich „auf Kosten der Mittelschicht“. Da findet sich der deutschen Bürger bestätigt, da nimmt ihn wieder jemand ernst!
Ernst genommen haben ihn auch Oliver Decker, Johannes Kies und Elmar Brähler. Die legten zum wiederholten Male – Projektstart war 2002 – im Auftrage der Friedrich-Ebert-Stiftung eine „Mitte-Studie“ vor: „Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012“. Die Autoren lassen keinen Zweifel daran, dass sie die innenpolitische Situation der Bundesrepublik als bedrohlich empfinden. Sie stellen fest, dass der Prozentsatz derer, die „über ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild verfügen“ binnen zweier Jahre von 8,2 auf 9 Prozent (in Ostdeutschland auf 15,8) gestiegen sei. Und: „Der manifeste und organisierte Rechtsextremismus ist eingebunden in ein breites Umfeld von latentem Rechtsextremismus.“ Decker/Kies/Brähler sprechen von bis zu 30 Prozent der Befragten. Das ist das quantitative Potenzial der NSDAP am Ende der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts!
Rechtsextremismus favorisiert aus Sicht der Autoren sehr absolut gesetzte Ungleichwertigkeitsvorstellungen. Er zielt auf Diktatur und impliziert chauvinistische, antisemitische, fremdenfeindliche und sozial-darwinistische Vorstellungen. Nicht zuletzt rechtfertigt oder relativiert er die Verbrechen des Nationalsozialismus. Man darf ihn also getrost Faschismus nennen.
Was hat sich seit dem Erscheinen der letzten „Mitte“-Studie verändert? Chauvinistische Positionen teilen inzwischen 19,4 Prozent aller Befragten (2010: 18,3), im Westen ging der Anteil etwas zurück (von 20,8 auf 18,4 Prozent); im Osten stieg er dramatisch: von 15,7 auf 23,5 Prozent! Ähnlich verhält es sich bei ausländerfeindlichen Positionen. In Ostdeutschland teilen solche 38,7 Prozent der Befragten (2010: 30,2), im Westen „nur noch“ 21,7 Prozent (2010: 23,7). Erwies sich Ostdeutschland – offensichtlich eine Frucht des „verordneten Antifaschismus“ der DDR – fast 20 Jahre lang gegen einen als Massenerscheinung auftretenden Antisemitismus immun, so hat das Serum jetzt seine Wirkung verloren: Von 4,8 Prozent im Jahre 2010 stieg der Anteil der Befragten, die antisemitische (nicht israelkritische) Positionen teilen auf 10,4 Prozent. Das ist ein Dammbruch. Antisemiten sind nach dieser Studie in der Anhängerschaft aller Parteien signifikant vertreten. Auch bei den LINKEN. Der Fragenkatalog hob nicht auf die israelische Palästinapolitik ab. Diese Judenfeindschaft ist tradierte deutsche Küche.
Die Autoren weisen nach, dass es sich bei diesen Werten mitnichten um ein Problem deklassierter „bildungsferner“ Schichten handelt. Bemerkenswert sind die Umfrageergebnisse beispielsweise hinsichtlich der sozialen Grundierung islamkritischer Positionen. Bei den Befragten mit einem Haushaltseinkommen von monatlich unter 750 Euro vertreten 2,6 Prozent solche Haltungen. Ab 2.000 Euro sind es dagegen 54,7 Prozent. Nun könnte man meinen, mit höherem sozialen Standard wächst die Empathie in die Lage der unterdrückten Muslima – falsch: 43,9 Prozent dieser Schicht (bei den Armen nur 0,8 Prozent) vertreten ausgesprochen islamfeindliche Positionen. Dieser Befund wiederholt sich in anderen Frageblöcken. Unverkennbar schlägt sich hier die Furcht vor dem sozialen Abstieg nieder. Man sucht einen Schuldigen, an dem man die eigenen Ängste andocken kann.
Es sind weniger Ängste vor dem „Fremden“ an sich, es sind reale wirtschaftliche Determinanten: „Auch wenn es in Ost- und Westdeutschland abwärtsdriftende Regionen gibt, so lässt sich die Konsequenz aus der Schwäche der Wirtschaft am besten mit den empirischen Ergebnissen für Ostdeutschland verdeutlichen. Knapp 16% der Ostdeutschen haben ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild. ... Besonders besorgniserregend ist, dass in der Erhebung eine neue Generation des Rechtsextremismus sichtbar wird. ... gerade die jungen Ostdeutschen fallen nun zunehmend mit hohen Zustimmungswerten auf.“ Konkret: 28,1 Prozent der Vierzehn- bis Dreißigjährigen teilen chauvinistische Positionen, 38,5 Prozent sind ausländerfeindlich eingestellt, 10,8 Prozent Antisemiten.
Das „Abwärtsdriften“ ist nicht nur ein Problem des Ostens, es betrifft auch Ostfriesland, Oberfranken und Teile des Ruhrpotts etwa, der bis heute unter dem in den sechziger Jahren eingeleiteten Strukturwandel, mit dem der Zusammenbruch von Kohle- und Stahlindustrie umschrieben wird, leidet. Die Zahlen sind deutlich. Zwischen April und Oktober 2012 pendelte sich die deutsche Arbeitslosenquote – bei vergleichsweise günstiger konjunktureller Lage – zwischen sechs und sieben Prozent ein. Das übrigens bei einem Bruttoinlandsprodukt, das im langjährigen Vergleich der Wirtschaftsentwicklung der Bundesrepublik auf einsamer Höhe liegt (2011: 2,57 Milliarden Euro, 1991: 1,534 Milliarden Euro). 6,5 Prozent Arbeitslosenquote im Oktober 2012 scheinen nicht allzu bedrohlich. Über der Sieben-Prozent-Linie liegen aber: Hamburg (7,2), Thüringen (7,8), Nordrhein-Westfalen (7,9), Sachsen (8,8), Brandenburg (9,3), Sachsen-Anhalt (10,5), Mecklenburg-Vorpommern (10,8), Bremen (11,0) und das absolute Schlusslicht Berlin mit einer Arbeitslosenquote von 11,7 Prozent. Auch hier gibt es „abgehängte“ Bezirke: Neukölln (16,4), Reinickendorf (13,4), Friedrichshain-Kreuzberg (13,3), Mitte (13,2). Und unter den „Abgehängten“ gibt es noch Gebiete, in denen sich die sozialen Katastrophenzustände potenzieren, Neukölln-Nord zum Beispiel, der Wedding, Hellersdorf-Nord. In diesen Gegenden wird eine Erscheinung deutlich, auf die die Autoren der Studie dezidiert hinweisen: „die messbare und vor allem von der Bevölkerung wahrgenommene Entsolidarisierung (der so genannten „Mitte“-Gesellschaft mit ebendiesen „lost people“ – G.H.). Wir finden sie in den Ergebnissen als menschenfeindliche Einstellungen wieder. Gemeint ist aber nicht nur z.B. die Abwertung von Migrantinnen und Migranten aus rassistischen Gründen. Auch sozial Schwache wie Arbeitslose oder Obdachlose werden immer weiter ausgegrenzt. Sie passen nicht in die eigenen Versuche, mit der andauernden Beschleunigung der Moderne mitzuhalten.“ Das ist der Nährboden für das braune Gewächs.
Die von Decker/Kies/Brähler warnend benannten Abstiegsängste der Mitte sind mitnichten irrational. SPIEGEL ONLINE zitierte am 19. November eine Umfrage des Institutes der deutschen Wirtschaft Köln (IW) unter deutschen Firmen. 28 Prozent planen 2013 Personal abzubauen. In der exportorientierten Industrie sollen es sogar 30 Prozent sein. „Inzwischen ist aber unverkennbar, dass die Wirtschaft davon in der Breite in Mitleidenschaft gezogen werden könnte“, so das IW. Die europäische Krise hat den Fuß über die deutsche Schwelle gesetzt. „Mit der gesellschaftlichen Lage ist immer auch die politische Einstellung verbunden“, schreiben die Autoren der „Mitte-Studie“.
Die politischen Handlungsträger dieses Landes wären gut beraten, deren Rechercheergebnisse sehr ernst zu nehmen und über die Handlungsempfehlungen der Autoren nicht leichtfertig hinwegzugehen. Vorgeschlagen wird die längst überfällige Abkehr von neoliberalen Politikmodellen und mehr Zuwendung zum Bildungswesen (das heißt in allererster Linie mehr Personal). Die Autoren verlangen eine eingreifende Politik auch in soziale und wirtschaftliche Prozesse. Das beginnt mit scheinbar Banalem: Mit einer überzeugenden Wahrnahme der Interessenvertretung gerade der „sozial abgehängten“ Schichten nicht zuletzt durch die linken Parteien. Die vor 30 Jahren diagnostizierte „Entnormalisierung des Normalarbeitsverhältnisses“ müsse endlich wieder angegangen werden. Das ist ein politischer Stein, an dem sich auch die LINKE regelmäßig argumentativ verhebt.

Deutschland ist in den vergangenen zwei Jahren nach rechts gerückt. Ein Ende dieses Prozesses ist nicht in Sicht.