Massaker in Marikana

Kontinuitäten von strukturellem Rassismus in Südafrika nach 1994

RED LOCATION IST DIE ÄLTESTE SEKTION des New Brighton Townships im Norden von Port Elizabeth und bekannt als Ort latenter Proteste und Demonstrationen gegen das Apartheid-Regime. Das Red Location Museum dokumentiert diese in Wechselausstellungen innerhalb der dort installierten zwölf eisernen „Erinnerungsboxen“. Ein permanenter Fotoessay erzählt von den Ereignissen des 21. März 1985, als mindestens 20 Demonstrant_innen von der Polizei während des Gedenktages an Sharpeville 1960 erschossen wurden. Das Massaker reiht sich ein in die zahlreichen anderen, die die Apartheidszeit durchziehen und von denen jene in Sharpeville 1960 und Soweto 1976 wohl die ikonischsten sind. 

Bis in den Wortlaut hinein gleichen die Untertitel des Fotoessays aber auch den Berichten der Polizeiaktion am 16. August dieses Jahres in Marikana, im Nordwesten von Johannesburg. Mindestens 34 demonstrierende Minenarbeiter_innen, im Streik für angemessene Lohnerhöhungen, wurden von der Polizei erschossen; da wie dort schossen die Polizisten mit automatischen Handfeuerwaffen aus gepanzerten Wagen den fliehenden Menschen in den Rücken; da wie dort beeilte sich die Polizei zu verlautbaren, sie habe „aus Notwehr reagiert“, die „gewaltbereite und unzivilisierte Masse“ habe sie „with sticks and stones“ attackiert. Da wie dort stellte sich dies als Lüge heraus. 

Lonwabo Kilani ist Mitgründer von „September National Imbizo“ (SNI), einer 2010 gegründeten „black-for-blacks“-Bewegung, die sich mit den Kontinuitäten von Apartheid nach deren formeller Abschaffung 1994 beschäftigt. SNI verschreibt sich dem „struggle against white supremacy, which is driven by capitalism, imperialism and neo-colonialism“ und steht somit in direkter Tradition des radikalen „Pan African Congress“ und dem „Black Consciousness Movement“. Ich habe Kilani gefragt, was SNI über die Ereignisse von Marikana in Erfahrung bringen konnte und wie er diese kontextualisieren würde. Hier sein Bericht: 

AM HÖHEPUNKT DER APARTHEID HATTE Südafrika von der Internationalen Gemeinschaft bereits den Status der „Unabhängigkeit“ zugestanden bekommen. Südafrika war ebenso Teil der „Organization for African Unity“ (OAU). Eine von Robert Sobukwe geführte Gruppe spaltete sich vom ANC (African National Congress) ab und gründete den Pan-Africanist Congress (PAC). Diese Befreiungsbewegung reichte, gegen den Widerstand des ANC, bei der OAU ein Memorandum ein, in dem sie den Status der „Unabhängigkeit“ anfocht, weil als „schwarz“ klassifizierten Menschen jegliches Recht auf Selbstbestimmung entzogen wurde. Symbol weißer Repression war die Passpflicht für „Schwarze“. Im Pass war die Hautfarbe eingetragen; diese bestimmte regelrecht alles, u. a. wo man sich bewegen und arbeiten durfte. 

Im Zuge einer Anti-Pass-Kampagne am 21. März 1960 in Sharpeville marschierten friedliche Demonstrant_innen – als symbolische Geste des Widerstandes ohne Pässe – zur Polizeistation, um sich dort inhaftieren zu lassen. Die Polizei eröffnete das Feuer. 69 unbewaffnete Demonstrant_innen wurden getötet, 178 wurden verwundet, die meisten durch Schüsse in den Rücken. Der Ausnahmezustand wurde erklärt, PAC und ANC kurzerhand – und für Jahrzehnte – verboten. Die Welt reagierte geschockt; 29 Staaten machten den Vorfall bei der UNO-Vollversammlung zum Thema. Einzelne Länder zogen – zumindest offiziell – ihre diplomatischen Vertretungen in Südafrika zurück, Wirtschafts- (und Sport-)Sanktionen folgten. Der Rassismus im Land, so schien es, musste sich neue Herangehensweisen im Umgang mit dem „black problem“ überlegen. 

30 JAHRE SPÄTER: WÄHREND DIE SCHWARZENBefreiungsbewegungen der Positionierung des ANCs in Bezug auf Selbstbestimmung weiterhin skeptisch gegenüber standen, trat der ANC mit der Regierung in Verhandlungen ein und gelangte 1994 an die Macht. Der Mehrheit der Bevölkerung machte dieser Machtwechsel, obwohl der ANC auf – nicht zuletzt ökonomische – Kontinuität setzte, Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Mittlerweile ist der ANC 18 Jahre an der Macht. Dieses Jahr feiert er sein 100-jähriges Bestehen und gibt mehr als 100 Millionen Rand (rund 10 Millionen Euro) für Jubiläumsfeierlichkeiten aus. Die sozialen Bedingungen der Mehrheit der Schwarzen sind entweder dieselben geblieben oder haben sich in vielen Bereichen sogar verschlechtert. Landesweit gibt es unterschiedliche Formen des Protestes. 

Es scheint, dass sich die Geschichte wiederholt. Im August dieses Jahres versammelt sich eine Gruppe von Arbeitern_innen friedlich, um für einen Mindestlohn von 12.000 Rand zu demonstrieren. Die Demonstrant_innen arbeiten in Platinminen der „London Mine“ (Lonmin). Eine Woche später, am 16. August, werden 34 Minenarbeiter_innen in einer ähnlichen Art und Weise wie die Menschen damals in Sharpeville ermordet. Wie damals werden Überlebende des Massakers inhaftiert, gefoltert; diesmal auch noch des Mordes an ihren toten Kamerad_innen angeklagt. 

MITGLIEDER VON SNI FUHREN KURZ DARAUF nach Marikana und verfassten folgenden Bericht: 

„Zwei Tage, nachdem mehrere schwarze Arbeiter_innen von der Polizei angeschossen und ermordet wurden, machte sich ein Team des SNI auf nach Marikana, dem Ort des Verbrechens. Es ist nicht einfach, in die Stadt hineinzukommen. Man muss vier Straßensperren passieren, bevor man in die Stadt gelangt. Bei jeder wird der SNI angehalten und von der Polizei verhört: Warum sind wir hier? Warum sind wir genau jetzt gekommen? Wer ist euer Anführer? (…) Die Stadt selbst ist geisterhaft still. Keine Kinder spielen, wenige Händler_innen bieten Waren an. Die Einheimischen bestätigen uns, was uns offensichtlich ist: Seit den Morden hat jede_r Angst, ihr_sein Haus zu verlassen oder zu sprechen. Es ist ein Polizeistaat. Wir kommen durch ein Wohngebiet, das sich nicht von anderen Townships unterscheidet, außer dass sich dieses neben der größten Platinmine Südafrikas befindet und sie mit billiger schwarzer Arbeitskraft versorgt. 

Bei den Felsen, wo Minenarbeiter_innen eine Woche friedlich kampierten, steht ein Mann allein ein paar Meter entfernt von uns, so als ob er versucht mitzuhören, worüber wir sprechen. Wir sprechen ihn an. Aus der Ferne sagt er, er spreche nur mit uns, wenn wir ihm versprechen, dass wir ihn weder fotografieren noch filmen. Wir versichern ihm, dass wir Teil einer Bewegung sind, die hinter den schwarzen Arbeiter_innen von Lonmin steht und deswegen seine Sicherheit in keinster Weise gefährden würden. 

WIR HABEN GLÜCK, IHN ZU TREFFEN. Er war an dem Tag dabei, als die Arbeiter_innen ermordet wurden. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass das Trauma ihm zu schaffen macht. Er bietet uns an, uns am Tatort herumzuführen. Er warnt uns, dass überall Blut sei und Knochenreste. Er kennt jede Ecke. ‚Die Leute wurden zermalmt (crushed)‘, sagt er wieder und wieder. Als er bemerkt, dass wir nicht wirklich verstehen, was er damit meint, erklärt er, dass, nachdem auf viele Arbeiter_innen geschossen worden war, diese danach von ‚inyalas‘ überfahren wurden. Er erzählt uns, dass einige überleben hätten können, wären sie nicht von diesen schweren Polizeiautos überfahren worden. Er ist davon überzeugt, dass es ein Hinterhalt war, eine gemeinsame Aktion von Polizei und Militär. Soldaten mit Pumpguns seien auf der anderen Seite des Berges gestanden und haben geschossen, sagt er. 

Die Arbeiter_innen wurden auf einer Anhöhe hinter der Siedlung, in der sie lebten, niedergemetzelt. Der Hinterhalt fand in deren Hinterhöfen statt. Die Protestierenden hatten für niemanden eine Bedrohung dargestellt. Seit der Streik begonnen hatte, hatten sie sich dort versammelt, Reden gehalten, und am Abend waren sie friedlich heimgegangen. Er sagt, dass er nach der Schießerei gesehen hätte, wie sich Polizeibeamte getroffen und am Tatort Kugeln verbrannt hätten. WARUM wurde an diesem Tag das Militär eingesetzt? WARUM hat die Polizei Beweismaterial verbrannt? 

UNSER GUIDE ARBEITET SEIT FÜNF JAHREN für Lonmin. Er führt uns zu einer Felsengruppe, wo einige weitere hunderte Arbeiter_innen untergebracht sind. Die Oberfläche dort ist blau von Chemikalien, die aus einer aus der Luft abgeworfenen Wasserbombe gesprüht worden waren. Die Felsen, die Pflanzen und das Gras sind mit einer tiefblauen Farbe bedeckt. Arbeiter_innen wurden mit dieser Substanz von Hubschraubern aus angesprüht. Ihre Augen stachen, sie atmeten schwer und konnten sich kaum mehr bewegen. Die Wasserbombe hatte demnach eindeutig Spuren von Gift; die Erinnerung an biologische Kriegsführung, die während der Apartheid unter der Leitung Woutter Bassons durchgeführt wurde, drängt sich in uns auf. SNI sammelte Proben dieser Substanz und wird diese untersuchen lassen. Unser Guide bestätigt, dass die Mehrheit derjenigen, die momentan inhaftiert sind, von dieser so markierten Gruppe kamen. 

Am Ende zeigt uns unser Freund, wie Leute erschossen wurden, während sie sich zwischen Felsen und unter Büschen versteckten. Wir sehen Blutspuren, die erkennen lassen, dass man zielstrebig versuchte, Arbeiter_innen aus ihren als Versteck dienenden Löchern zu treiben und sie zu erschießen. Überall verstreut liegen blutbefleckte Kleidungsstücke und Schuhe. 

ALLES, WAS WIR ERZÄHLT BEKOMMEN, beweist, dass es sich um eine konzertierte Polizeiaktion handelte. Die Bilder in den Mainstream-Medien, auf denen zu sehen ist, wie Arbeiter_innen die Polizei angreifen, zeigen in Wirklichkeit Arbeiter_innen, wie sie von den Kugeln davon laufen, die von hinten auf sie geschossen werden. Warum sollten Arbeiter_innen, die nur Knobknorries (1) tragen, bewaffnete Polizist_innen angreifen? Die Arbeiter_innen waren komplett umzingelt. Es gab eindeutig einen Auftrag und der lautete: schießen, um zu töten – das erklärt den Einsatz der Armee. 

Während unseres Gesprächs kramt der Arbeiter die ganze Zeit in seiner Hosentasche nach einem zerstörten Handy. Er erklärt, das Telefon sei das eines Freundes, der in dem Gemetzel zermalmt wurde. Das Handy ist alles, was von seinem Freund übergeblieben ist. Der Arbeiter erklärt, er wolle, dass sich das Handy jemand ansehe und die Daten seines Freundes wieder herstelle. Eine unangenehme Stille folgt diesen Worten. Der Mann weiß genauso gut wie wir, dass das Handy nicht wiederbelebt werden kann, dass sein Freund nicht mehr ins Leben zurückkommt, aber niemand von uns spricht es aus. Was soll man denn auch sagen?“ 

DIE MACHTÜBERNAHME DES ANC kam einer Legitimierung von Rassismus gleich. Weiße behielten ihre wirtschaftliche (und damit einhergehend auch politische) Macht, Schwarze arbeiten weiterhin für Reiche (Weiße), was nun jedoch in der Öffentlichkeit weniger in diesem Sinne wahrgenommen wird. Aus dieser Perspektive betrachtet, stellt sich die Frage, welche Bedeutung Schwarze dem Massaker von Marikana zuschreiben. Anders als bei Sharpville, als die Mehrheit der Schwarzen in Opposition zum Staat war, lässt sich heute dieses Verhältnis als aufgezwungener Konsens schematisieren. Aufgezwungener Konsens gerät zum selbstverständlichen Konsens; die Beherrschten stimmen unwissentlich den Beherrschenden zu – das ist, frei nach Gramsci, „common sense“. „Good sense“ vermag im Gegensatz dazu antagonistische Elemente zu formulieren und zu synthetisieren. „Good sense“ weiß etwa, dass Demonstrant_innen in Südafrika traditionelle Waffen einzig und allein als Symbol des Widerstandes tragen. Der vom ANC dirigierte „common sense“ nützt diese „Bewaffnung“ der Protestierenden zur Behauptung, das Massaker sei reine Selbstverteidigung der Polizei gewesen und stehe daher in keinerlei Bezug zur staatlichen Politik. Unter Legitimationszwang steht damit höchstens der Polizeiapparat, nicht jedoch die Regierungspolitik als solche. 

„Good sense“ sah im Kontext des Sharpville Massakers in der Polizei noch den verlängerten Arm des Staates, die Illegitimität des Staates stand klar vor Augen. „Common sense“ erzählt uns auch, dass die Forderungen der Minenarbeiter_innen unvernünftig sind. „Good sense“ sagt uns, dass Südafrika 80 Prozent des weltweiten Platinvorkommens besitzt und zu den Ländern mit den niedrigsten Mindestlöhnen weltweit zählt. Schwarze arbeiten weiterhin in den Minen, die Weiße von ihren Büros aus lenken. „Good sense“ berücksichtigt die Tatsache, dass die Minenarbeiter_innen die gewaltige Mindestlohnschere zwischen (schwarzer) Hand- und (weißer) Kopfarbeit schließen wollten. Deswegen gleichen ihre Forderungen auch jenen der Anti-Pass-Demonstrationen in Sharpville 1960 – die Forderung nach gleichen Rechten für alle. Wenn die Verbrechen gegen die Schwarzen entweder den Opfern angelastet oder Einzelpersonen zu Sündenböcken erklärt werden, wird der ANC von jeglicher strukturellen Gewalt, dem „common sense“ sei Dank, freigesprochen. 


Anmerkungen 
(1) Holzstock mit einem Knauf an einem Ende. Bis in die Anfänge des 20. Jahrhundert als Waffe benutzt, heute ein Symbol des Widerstandes. 

 

Dialog & Übersetzung des Artikels: Jakob Krameritsch, Rosemarie Poiarkov