Auf der Tiefe der ZEIT

Editorial iz3w 335 (März/April 2013

Es gibt immer wieder gute Gründe, die Provinz zu loben. Eine bemerkenswerte Weitsicht bewies beispielsweise das Amtsgericht Schwäbisch Hall. In einem Urteil mit der Geschäftsnummer 6 C 154/00 entschied es: Wer einen Schwarzen öffentlich als »Neger« bezeichnet, darf ungestraft »Rassist« genannt werden. In der Begründung äußerte die Richterin, dass es für sie »schwer vorstellbar« sei, dass dem Kläger (dem angeblich nicht bewusst war, dass es sich um ein Schimpfwort handelt) der diffamierende Charakter des Ausdrucks »Neger« nicht bekannt gewesen sein soll.

Mit dieser erfahrungsgesättigten Feststellung ist die Richterin wesentlich mehr auf der Höhe der Zeit als die gleichnamige Wochenzeitung aus dem großstädtischen Hamburg (obwohl das Urteil bereits vom 15. Juni 2000 stammt). Die in der ZEIT seit Jahresbeginn 2013 geführte Debatte um die Ersetzung des N-Wortes in einigen Kinderbüchern führte zu reaktionären Ausbrüchen, die man so nicht erwartet hätte im Leitorgan des deutschen Bildungsbürgertums.

Den ZEIT-Literaturkritiker Ulrich Greiner beispielsweise trieb es regelrecht auf die Barrikaden, dass der Thienemann Verlag nun beabsichtigt, aus Büchern von Otfried Preußler und Michael Ende »politisch nicht mehr korrekte Begrifflichkeiten zu entfernen«: »Wie anders als Zensur oder Fälschung soll man das nennen?«, fragt Greiner rhetorisch. Und legt dann nach: »Es ist nicht Orwells Großer Bruder, der interveniert, sondern der Kleine Bruder politische Korrektheit«. Er realisiere sich im Tun jener »Tugendwächter, die in höherem Auftrag, sei es Feminismus, Antisemitismus (sic!) oder Antirassismus, agieren und die mit ideologisch geschultem Nachtsichtgerät dunkle Abweichungen vom Pfad der Gerechten unverzüglich aufdecken«.

 

Diese Tugendwächter sollen nach dem Willen Greiners den inzwischen erwachsenen LeserInnen der Kinderbücher »nicht die Erinnerung stehlen« dürfen. Aha, sind die guten Erinnerungen an die Geschichten von Preußler oder Astrid Lindgren an das N-Wort gebunden? Und wenn ja, warum? Greiner beantwortet diese sich aufdrängenden Fragen lieber nicht, weiß aber über Lindgrens Umgang mit dem N-Wort zu sagen: Es sei doch »sonnenklar, dass Pippis ‚Neger’ nichts anderes sind als eine haltlos-unschuldige Spielerei mit jenem Phantasma des naiven Naturvolks, das schon Gauguin umgetrieben hat.«

Der Mann hat ganz offensichtlich noch nie etwas von den vielfältigen Erscheinungsformen des Rassismus gehört – etwa davon, dass der Exotismus Gauguin’scher Prägung eine spezifische Variante des rassistischen Blicks ist, nicht aber sein Gegenteil. Die anhaltende Wirkungsmächtigkeit rassistischer Sprache will der Literaturkritiker schon gleich gar nicht zur Kenntnis nehmen. Ins selbe Horn tutet Autor Axel Hacke. Er bringt im fraglichen ZEIT-Dossier nicht das geringste Verständnis dafür auf, warum der Titel seines Buches »Der weiße Neger Wumbaba« auf Kritik stößt.

Mit dieser Haltung stehen die ZEIT-Autoren in der Auseinandersetzung um das N-Wort freilich nicht allein. Aus einer anderen Hamburger Redaktionsstube, der von Spiegel online, lässt Kolumnist Jan Fleischhauer tief blicken: »Ich zum Beispiel habe noch nie einen Schwarzen getroffen, der daran Anstoß genommen hätte, dass in Deutschland über Jahrzehnte die berühmten Negerküsse und Mohrenköpfe verkauft wurden. Das mag daran liegen, dass ich die falschen Schwarzen kenne.« Es liegt wohl eher daran, dass Fleischhauer fest entschlossen ist, die – nicht nur von Schwarzen Deutschen vielfach öffentlich geäußerte – Kritik am Alltagsrassismus zu ignorieren.

 

Überhaupt treten derzeit massenhaft Leute als ExpertInnen für (Anti-)Rassismus auf, bei denen jede einzelne Auslassung erkennen lässt, dass sie sich noch nie ernsthaft damit befasst haben. Nehmen wir die Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger, die in der ZEIT zum Besten gab: »Rassismus ist eine Gesinnung, an der sich leider wenig ändert, wenn man Wörter abschafft.« Richtig daran ist allenfalls, dass die Abschaffung von Wörtern alleine nicht ausreicht, um den Alltagsrassismus zu schwächen. Aber der auf freiwilliger Einsicht beruhende Akt eines Verlages, in Kinderbüchern diskriminierende Worte durch neutrale zu ersetzen, kann sehr wohl zur Marginalisierung von Rassismus beitragen. Sprache ist ein wesentliches Medium des Rassismus, wie überhaupt jedes politische und gesellschaftliche Denken erst durch Sprache zum Ausdruck kommt. Umso widersinniger ist es, dass nun ausgerechnet LiteraturkritikerInnen und SchriftstellerInnen der Sprache keine Relevanz für die Schaffung von Bewusstsein beimessen. Was für ein Armutszeugnis.

In einem ist Nöstlinger allerdings zuzustimmen, wenn sie den von ihr geschmähten »Political-Correctness-Sheriffs« entgegenhält: »Wer meint, ein bestimmtes Buch könnte einen Schaden in Kinderseelen anrichten oder Minderheiten verletzen, muss es nicht erwerben.« Genau – es gibt inzwischen viele tolle Kinderbücher, die ohne das N-Wort und ohne rassistische oder sexistische Stereotypen auskommen. Unsere Kinder werden sich gerne an sie erinnern, wenn sie erwachsen sind.

Und die Greiners, Hackes, Fleischhauers und Nöstlingers, die so offensiv auf ihr Recht pochen, sich weiterhin am N-Wort zu ergötzen, erinnern wir hiermit an das Urteil aus Schwäbisch Hall. Sie dürfen sich davon mit angesprochen fühlen.

die redaktion