#Aufschrei

Vorbote einer neuen Art gesellschaftlicher Debatte?

Los ging es in der Nacht vom 25. auf den 26. Januar 2013. Einige Frauen tauschten sich bei Twitter über ihre Erfahrungen mit Alltagssexismus aus. Also all diese kleinen Übergriffigkeiten, mit denen Männer sich gerne ihrer Macht versichern, und bei denen Frau die Wahl zwischen Pest und Cholera hat: sich nutzlos aufzuregen oder das einfach runterzuschlucken.

 

Ausgangspunkt war ein kleiner Artikel auf Gemeinschaftsblog www.kleinerdrei.org gewesen, in dem Maike Hank unter dem Titel „Normal ist das nicht“ auf dieses Dilemma hingewiesen hatte. Aber das Thema lag wohl generell in der Luft. Kurz zuvor hatten auch zwei Journalistin­nen über ihre alltäglichen Sexis­muserlebnisse geschrieben: zu­erst Ann Meiritz im Spiegel im Zusammenhang mit der der Pira­tenpartei, dann Laura Himmelreich im Stern mit Bezug auf Rainer Brüderle.

Irgendwann in dieser Nacht von Donnerstag auf Freitag hatte Anne Wizorek, die bei Twitter als @marthadear bekannt ist, die Idee, all diese Geschichten unter einem Schlagwort zu versammeln, und schlug das Hash­tag #Aufschrei vor. Am nächsten Morgen bereits war „Twitter explodiert“, wie hinterher die Zeitungen schrieben: Tausende von Tweets, von Kurznachrichten, waren zu dem Stichwort geschrieben worden. Eine riesige, unglaubliche, traurige Sammlung von Erlebnissen dieser Art wurde hier zusammengetragen.

Offenbar hatten viele Frauen nur auf einen Anlass gewartet, sich diese Wut mal von der Seele zu schreiben. In Nullkommanix lief auch die „Blogosphäre“ heiß. Interessant war, dass kei­neswegs nur politische oder fe­ministische Blogs das Thema aufgriffen, sondern auch solche, in denen es eigentlich um Mode, um Coaching oder um die katholische Kirche geht – es schien, dass wirklich jede und jeder etwas dazu zu sagen hatte. Ungewöhnlich war auch, wie schnell die Aktion in die „analogen“ Medien kam: Schon am Freitagmittag hatten alle großen Tageszeitungen über den #Aufschrei berichtet, und in den folgenden Tagen änderten alle großen TV-Talkshows ihr Programm und sprangen auf den Zug auf: Jauch am Sonntag, ZDF-login am Montag, Lanz am Dienstag, Will am Mittwoch, Illner am Donnerstag.

Eine gute Woche lang hat ganz Deutschland praktisch auf allen Kanälen über Sexismus diskutiert – wer hätte das gedacht?!

Aber wie ist diese Dynamik zu bewerten?

Wurden da wieder mal nur Säue durchs Dorf getrieben und hin­terher bleibt nichts davon übrig? 

In diesem Fall glaube ich, war es nicht so. Der „Aufschrei“ war kein Hype, sondern etwas anderes, vielleicht der Vorbote einer neuen Art gesellschaftlicher Debatten.

Ich denke, dass man hieraus einiges darüber lernen kann, wie politische Diskurse funktionieren, wenn alle Beteiligten Zugang zur Öffentlichkeit haben und die Mainstream-Medien nicht mehr als „Gatekeeper“ fungieren.

Auffällig war zum Beispiel, wie schlecht das Fernsehen im Vergleich zu anderen Medien ausgesehen hat. Abgesehen von Anne Will, die das Thema halb­wegs im Griff hatte, waren die großen TV-Talks schwach bis unterirdisch, brachten kaum Er­kenntnisgewinn oder gingen schlichtweg am Thema vorbei.

Symptomatisch war zum Beispiel das fast schon kindische Bemühen der Moderatoren, die Debatte immer wieder zum „Fall Brüderle“ zurückzubringen – Skandal! Voyeurismus! – obwohl es um den Einzelfall Brü­derle schon längst nicht mehr ging.

Natürlich wurde auch im Inter­net, wie immer, viel Mist geschrieben.

Aber es gab dort eben auch viel, sehr viel Gutes – von zahllosen, teils sehr berührend vermittelten persönlichen Erfahrungsberichten bis zu den unterschiedlichsten feministisch-theoretischen Analysen. Ganz entscheidend war, dass sich früh schon einige sehr einflussreiche Bloggerinnen beteiligt haben, die normalerweise nicht als Feministinnen auftreten. Sie haben der Aktion viel Reichweite verschafft und sie über die Grenzen der „üblichen Verdächtigen“ hinaus ausgeweitet. Ich würde behaupten, dass vielleicht sogar die meisten „unfeministischen“ oder „antifeminis­ti­schen“ Beiträge einen wichtigen Anteil an der Verbreitung der Aktion hatten.

Erstens boten sie Anknüpfungspunkte für Menschen, die feministischem Denken skeptisch gegenüber stehen und zogen diese gewissermaßen mit in die Debatte rein, und außerdem boten sie wiederum anderen die Gelegenheit, die Schwachpunkte dieser Argumentationslinie herauszuarbeiten und in eigenen Blogsposts auszuformulieren. Vielleicht zeigt sich hier, dass unter den Bedingungen des Internet eine politische Aktion nicht dann besonders gute Aussichten auf Erfolg hat, wenn möglichst viele sich hinter einer gemeinsamen Forderung versammeln, sondern wenn sie möglichst viele Menschen dazu bringt, einem Thema Aufmerksamkeit, Ressourcen und Zeit zu schenken.

Etwas lustig fand ich die krampfhafte Suche der etablierten Medien nach dem Ursprung, der Quelle der Kampagne. Denn – ohne die Verdienste der Initiatorinnen schmälern zu wollen – unter den Bedingungen des Internet geht diese Suche nach der Quelle ins Leere. Wenn ein Tweet oder ein Thema viral wird und sich ausbreitet, hat das viele hunderte, tausende Quellen, insofern nämlich jeder und jede, die sich daran beteiligten, ihre eigenen Gründe dafür hat.

Vielleicht sollten wir im Bereich politischer Auseinandersetzung weniger von „Urhebern“ sprechen, als vielmehr von Geburtshelferinnen: Diejenigen, die etwas bewegen, sind nicht diejenigen, die eine ganz neue, nie da gewesene originelle These aufstellen, sondern diejenigen, die auf den Punkt bringen, was schon lange im Unsichtbaren gereift ist. Sie sind wie Hebammen, die dabei helfen, dass das „herauskommen“ und „das Licht der Welt erblicken“ kann, was gerade wichtig ist. Die Revolution braucht keine Strategen, die im Geheimen einen Masterplan entwickeln, wenn sie viele originelle Akteurinnen und Akteure hat, die durch das Zusammenspiel ihrer Stimmen in aller Pluralität (und eben gerade nicht in ihrer Einigkeit) ein Thema auf die Tagesordnung bringen.

Eine solche Debatte ebbt natürlich irgendwann in ihrer Intensität auch wieder ab. Es wäre albern, zu glauben, dass jetzt das Problem der sexuellen Übergriffigkeit gelöst wäre. Aber es bleibt was. Was bleibt, ist das, was die vielen Gedanken, die sich Leute im Zuge dieser Debatten gemacht haben, an Veränderungen bewirkt haben. Viele Menschen haben sich erstmals überhaupt mit dem Problem sexueller Belästigung beschäftigt (schwer zu glauben für eine Feministin, aber so viele Äußerungen in dieser Hinsicht, die ich in den letzten Tagen gelesen habe, können nicht lügen). 

Viele andere Menschen haben sich erstmals mit anderen über das Thema ausgetauscht. Was das bewirkt hat, lässt sich nicht messen. Aber ich behaupte: Nichts war es nicht.

Was bleibt, ist auch die Erinnerung. Wir haben jetzt eine Referenz. „Wie damals bei Brüderle“ werden Journalistinnen – und andere – in Zukunft unweigerlich denken, wenn sie in ähnlichen Situationen sind. Solche „Meme“, also zu einzelnen Wörtern verdichtete Diskussionskomplexe, sind hilfreich für kulturelle Referenzen.

Um noch einmal auf die eingangs erwähnte Wahl zwischen Pest und Cholera zurückzukommen: Zukünftig können wir in einer Situation, in der wir alltäglichen Sexismus erleben oder bemerken, auf diese Erinnerung verweisen. Wir müssen nicht mehr wählen zwischen langwierigen Erklärungen oder schulterzuckendem Darüberhinweg­sehen, sondern wir können einfach dieses „Mem“ aktivieren: „Brüderle“ oder „Aufschrei“ sagen, und damit die Situation in den entsprechenden Kontext stellen – und alle wissen Bescheid, was gemeint ist.

Ich glaube, diese Diskussion hat deutlich gemacht, dass wir uns derzeit in einer Phase befinden, in der neue Regeln über das Zusammenleben von Frauen und Männern im öffentlichen Raum ausgehandelt werden. Frauen, vor allem jüngere Frauen, geben sich nicht mehr damit zufrieden, „gleichberechtigt“ zu sein und bloßen Zugang zu ehemals exklusiv männlichen Bereichen zu haben. Sie sind nicht mehr länger bereit, sich den Regeln, die dort „schon immer“ galten, anzupassen, sondern sie sitzen inzwischen fest genug im Sattel, um neue Regeln einzufordern. Zum Beispiel eben die, dass sexualisierte Machtgesten dort nicht mehr akzeptiert werden. Natürlich haben sie damit nicht von jetzt auf gleich Erfolg, und es war abzusehen, dass so eine Aktion auch eine ganze Palette alter Besitzstandswahrer auf den Plan rufen würde, die den Untergang des Abendlandes für den Fall prophezeien, dass Männer Frauen nicht mehr in den Ausschnitt schauen dürfen. Aber die Verhandlungen sind eröffnet, und zwar auf einer neuen Ebene.

 

Antje Schrupp

 

Kommentar aus: Graswurzelrevolution Nr. 377, März 2013, www.graswurzel.net