Marktwirtschaft ohne Kapitalismus und Sozialismus ohne Planwirtschaft Im Gespräch mit – Sahra Wagenknecht

Frau Wagenknecht, Sie sind der Überzeugung – wir zitieren aus einem Spiegel-Interview, „dass der Kapitalismus keine Lösung ist und wir eine neue Wirtschaftsordnung brauchen“. Lassen Sie uns gleichwohl mit einer persönlichen Frage beginnen: Wer gesellschaftspolitisch so ambitionierte Bücher schreibt wie Sie – das jüngste, „Freiheit statt Kapitalismus“, ist uns Veranlassung für dieses Gespräch – , der hat den Glauben an die Vernunft und die Lernfähigkeit von Menschen im Allgemeinen und von Eliten im Besonderen offenbar immer noch nicht verloren. Nun stand allerdings an der Wiege jener Periode des Neoliberalismus, in der weitgehend zerstört wurde, was zumindest in Westeuropa mal soziale Marktwirtschaft hieß, ein Credo, das nicht nur von einem sozialdarwinistischen, menschenverachtend-zynischen Geist per excellence zeugte, sondern auch von einem schwer zu übertreffenden Maß an Ignoranz, ja Dummheit: „There is nothing like society.“ (Margret Thatcher) Trotzdem haben mehrere Generationen von Politikern, nicht zuletzt mit besonderer Verve sozialdemokratische, von Wirtschaftswissenschaftlern und Spitzenmanagern diesen Neoliberalismus zu ihrem Mantra erhoben und sind, soweit es politische Mandatsträger betraf, trotzdem von relativen Mehrheiten an Volljährigen ein ums andere Mal wiedergewählt worden. Nicht wenige Zeitgenossen im Lande folgen überdies Slogans wie „BILD Dir Deine Meinung!“ und konsumieren darüber hinaus vornehmlich die Privaten. Woher nehmen Sie da Ihren Glauben an die menschliche Vernunft und Lernfähigkeit?
Sarah Wagenknecht: Ich erhalte praktisch täglich zustimmende Reaktionen auf mein Buch – selbst von Unternehmern und früheren Bankern, von Akademikern, aber auch von Menschen ohne Hochschulabschluss. Gerade von letzteren erhielt ich Meinungsäußerungen, dass sie zum ersten Mal in einem Buch wirklich die Zusammenhänge der Finanz- und Wirtschaftskrise einfach, verständlich erklärt bekommen haben. Das war auch mein Ziel. Ich wollte mit dem Buch nicht Ökonomen erreichen sondern Menschen, die in der Tagespresse und in der üblichen Medienlandschaft gar keine Chance haben, hinter die Fassade der Krise zu schauen und deren Verursacher, Triebkräfte, Abläufe und Wesen zu erkennen sowie zu verstehen, wie Lösungsansätze aussehen könnten.
Natürlich weiß ich, dass ein Buch immer nur einen sehr begrenzten Kreis von Menschen erreicht und dass man darüber hinaus natürlich viel, viel mehr tun muss. Aber dafür gibt es ja die Medien, Talkshows und Zeitungsbeiträge. Und ganz so platt, dass die Leute sich nun nur von der Bild-Zeitung manipulieren lassen, ist es ja nicht. Laut Enmid sind 80 Prozent der Bevölkerung der Meinung, dass wir eine neue Wirtschaftsordnung brauchen. Das Gefühl breitet sich aus, dass der „Wohlstandsgarant“ Kapitalismus heute den Wohlstand zunehmend gefährdet. Zugleich fühlen sich die Menschen häufig ohnmächtig und wissen nicht, was sie gegen die Verhältnisse tun können, was sicher nicht zuletzt daran liegt, dass sie keine Vorstellung davon haben, wie es anders gehen könnte.

Dirk Kurbjuweit hat im Spiegel bereits vor einiger Zeit konstatiert, dass der Kapitalismus, wenn „man ihm keine Grenzen setzt, […] einen Hang zur Ruchlosigkeit“ habe. Das ist mehr als zutreffend, wurde allerdings schon einmal pointierter formuliert – wenn man an das bekannte, von Karl Marx verwendete Zitat denkt: „Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit, oder sehr kleinem Profit, wie die Natur von der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; […] für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.“
Man kann es Ironie des Schicksals nennen oder als letzte Rache des „realen Sozialismus“ betrachten, dass der mit seinem Untergang dem Kapitalismus die Chance gegeben hat, sich wieder so, quasi pur zu zeigen und damit den Weg zur derzeitigen Systemkrise frei zu machen und so zu demonstrieren, dass das „Ende der Geschichte“ mitnichten erreicht, sondern diese weiterhin offen ist.
Frank Schirrmacher von der
FAZ fragte sich in diesem Zusammenhang kürzlich in einem Essay: „Wieso kam binnen Kurzem die soziale Marktwirtschaft so sehr durch ein Gesellschaftsmodell unter Druck, das sich ,Neoliberalismus‘ nannte?“ Für Schirrmacher ist das eine Spätfolge des Kalten Krieges beziehungsweise eine Art Fortsetzung desselben auf anderer Ebene. Welche Antwort geben Sie auf die Frage, warum die soziale Marktwirtschaft seit der Jahrtausendwende nahezu restlos unter die Räder gekommen ist?
Wagenknecht: Ich bin mit Schirrmacher einer Meinung, dass diese Entwicklung ursächlich mit dem Ende des Kalten Krieges zu tun hat. Der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene und bis Mitte der 80er Jahre vorherrschende sozial gebändigte Kapitalismus war immer nur ein Kompromiss, auf den die wirtschaftlichen und politischen Eliten des Westens sich einerseits eingelassen hatten, weil nach dem Krieg das kapitalistische System gesellschaftlich so weitgehend diskreditiert war, dass selbst eine konservative Partei wie die CDU in ihrem Ahlener Programm von 1947 konstatierte: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.“ Hinzu kam der sich herausbildende Wettstreit der Systeme, in dem die herrschenden Kreise des Westens das eigene nicht durch Anhäufen von sozialem Sprengstoff gefährden wollten. Das war auch für Ludwig Erhard ein zentrales Motiv, soziale Ansprüche der Arbeiterschaft und der kleinen Angestellten aufzugreifen und sein Credo vom „Wohlstand für alle“ zu formulieren.
Den Schwenk zurück – einen Richtungswandel zu Kapitalismus pur, der bald als Neoliberalismus bezeichnet werden sollte, – leiteten Reagan in den USA und Margret Thatcher im Übrigen bereits in der ersten Hälfte der 80er Jahre ein, als der reale Sozialismus keine ernst zu nehmende Alternative mehr darstellte.
Ich warne allerdings vor der Vorstellung, dass der Kapitalismus, weil er sich jetzt wieder ungeschminkt zeigt, nun umso schneller überwunden werden könnte. Ich hoffe das. Auch dass die jetzige Krise Menschen dazu bringt, sich zu entsprechenden Bewegungen zusammenzuschließen und gesellschaftliche Veränderungen zu erzwingen. Aber genauso gut muss man sehen, dass es nicht nur ein Fenster für progressive Entwicklungen gibt sondern auch die große Gefahr, dass – ähnlich wie nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 – die soziale Verunsicherung und der Frust großer Bevölkerungskreise von reaktionären bis faschistoiden Kräften kanalisiert werden. In Griechenland zum Beispiel haben wir im Ergebnis der Krise nicht nur eine starke Linkspartei sondern auch eine gestärkte faschistische, durchaus vergleichbar mit der NSDAP – vom Profil her, in der antidemokratischen sowie rassistischen Ausrichtung und nicht zuletzt, was die Gewaltbereitschaft gegenüber politisch anders Denkenden anbetrifft. Rechtspopulistische Bewegungen gibt es im Übrigen in vielen europäischen Ländern. Und natürlich besteht in Perioden wie der gegenwärtigen immer die Gefahr, dass die Demokratie zur substanzlosen Hülle verkommt. Wir hatten ja nicht nur in Italien schon Regierungswechsel, die nicht demokratisch, nicht durch Wahlen legitimiert waren.

Nachfrage: Sie sehen auch in der Bundesrepublik ein Fenster für progressive Entwicklungen oder die Gefahr eines Rechtsdralls? Hier hat sich zwar die Kluft zwischen arm und reich ebenfalls auf geradezu obszöne Weise vertieft und sind die Lebensverhältnisse von Millionen von Menschen bis weit hinein in die Mittelschicht so prekär geworden wie seit vielen Jahrzehnten nicht mehr. Trotzdem steht „Der kommende Aufstand“ nicht ins Haus. Im Gegenteil – von Millionen von Hartz-IV-Empfängern ist weder etwas zu sehen noch zu hören, die scheinen mehrheitlich eher dem Motto „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ anzuhängen.
Wagenknecht: Vorerst ist es tatsächlich so, dass diese Menschen sich überwiegend zurückziehen, nicht mehr zur Wahl gehen, weil sie von jeder Politik enttäuscht sind und für sich gar nichts Positives mehr erwarten. Sie sind erst einmal ins Apolitische abgetaucht. Das merken auch wir als Linke, die wir uns bemühen, den Interessen dieser Menschen eine Stimme zu geben. Aber deshalb sollte sich auch im bürgerlichen Lager niemand beruhigt zurücklehnen. Bisher haben wir in Deutschland das Glück, dass noch keine charismatische Persönlichkeit in Erscheinung getreten ist, die einer rechts-nationalistischen, reaktionären Bewegung ein Gesicht geben und diese damit für größere Bevölkerungskreise akzeptabel machen könnte. Für den Fall, dass dies doch irgendwann passiert, befürchte ich, dass es dafür ein weit größeres Potenzial gibt, als NPD und DVU es heute darstellen.

Sie haben wiederholt dafür plädiert, kluges Gedankengut anderer, selbst von Vertretern gegensätzlicher politischer Auffassungen, nicht zu ignorieren. Also schweifen wir, bevor wir auf „Freiheit statt Kapitalismus“ zu sprechen kommen, noch ein wenig ab. Sie haben vor einiger Zeit einen der „feinsinnigsten und tiefgründigsten Kritiker, die der Kapitalismus je hatte“ entdeckt, dessen kapitalismuskritisches Hauptwerk bereits 1832 erschienen ist. Da war Karl Marx gerade 14 Jahre alt.
Wagenknecht: In der Tat – Goethe. Der war zweifelsohne einer der frühesten und zugleich ein höchst differenzierter Kritiker des – damals erst heraufziehenden – Kapitalismus, der zugleich dessen gewaltige produktiven Potenziale nicht verkannte. Ein Blick in den „Faust II“ zeigt das deutlich. Der Titelheld ist progressiv, wo er als Großunternehmer gesellschaftlichen Reichtum schafft, indem er Eigentum erwirbt und produktiv einsetzt – nämlich zur Urbarmachung von Land mittels Dampfkraft und moderner Technologie. Zugleich wird er darüber zum Barbaren, der über Leichen geht – im Stück hat er unter anderem die Ermordung von Philemon und Baucis zu verantworten –, weil sein Trieb zur Reichtumsvermehrung keine Grenze mehr kennt. Kapitalismus, das hat Goethe vor Marx erkannt, ist eben nie nur Tausch, nur Marktwirtschaft, sondern immer auch Raub: „Krieg, Handel und Piraterie“ sind für Goethe „dreieinig“ und „nicht zu trennen“.
Man geht meines Erachtens nicht zu weit, wenn man Goethe bescheinigt, dass er die existenzielle Bedrohung von Kultur, Zivilisation und Humanität, die mit einer durchkommerzialisierten Gesellschaft zwangsläufig einhergeht, geradezu prophetisch vorhergesehen hat. Ich habe im Übrigen keinen Zweifel daran, wie Goethes Urteil über den heutigen Kapitalismus ausgefallen wäre, dessen produktive Seite mehr und mehr in den Hintergrund tritt und dessen Gier und Renditejagd fast ausschließlich destruktiv wirken, weil er sich in überwiegendem Maße auf wirtschaftlich sinnlose Geschäftemacherei in einer hypertrophierten Finanzsphäre konzentriert, weil er Marktmacht zur Ausschaltung von Leistungswettbewerb und zur Blockierung von technologischem Fortschritt missbraucht und weil er Politik vom Abgeordneten über den Beamten und Minister bis zum Militär für seine Ziele korrumpiert.
Besonders aktuell an Goethe finde ich, dass er nicht in eine zynisch-pessimistische Weltsicht auswich, sondern an dem Anspruch und der Zuversicht festhielt, dass der Mensch nicht auf Dauer eine Gesellschaft akzeptieren wird, die seine wertvollsten Eigenschaften – Mitgefühl, soziale Verantwortung, Liebesfähigkeit und Sehnsucht nach Würde und Schönheit – verkümmern lässt und seine unsympathischsten – Habgier, Egoismus und soziale Ignoranz – an die Spitze des gesellschaftlichen Wertekanons setzt. Ein Satz wie „There is nothing like society.“ ist bei Goethe unvorstellbar.

Der heutige Spätkapitalismus in seiner aktuellen Systemkrise ist der Gegenstand von „Freiheit statt Sozialismus“ wie auch die Entwicklung einer gesellschaftlichen Alternative, die Sie „kreativen Sozialismus“ nennen.
Zunächst diagnostizieren Sie und belegen faktenreich sowie analytisch bestechend, dass im Ergebnis des in den Jahrzehnten des Neoliberalismus vollzogenen Übergangs vom vornehmlich realwirtschaftlichen zu einem überwiegend finanzwirtschaftlichen Kapitalismus unsere heutige Produktionsweise „keine Wirtschaftsordnung mehr [ist], die Produktivität, Kreativität, Innovation und technischen Fortschritt fördert“, sondern vielmehr realwirtschaftliche Investitionen hemmt und überhaupt nur noch etwa einem Prozent der Bevölkerung, dem vermögens- und einkommensseitig obersten nämlich, nützt, während sich die Lebensbedingungen großer Teile der Bevölkerung permanent verschlechtern. Bereits Millionen von Kindern müssen in Hartz IV-Haushalten aufwachsen.
Sie sezieren die Shareholder Value-Doktrin als gesellschaftspolitisch zutiefst asozial und machen klar, dass der Betrug bei sogenannten Finanzinvestoren schon beim Begriff beginnt: „Der Finanzinvestor ist eher der Anti-Investitions-Anleger, denn er strebt danach, die Mittel, die das Unternehmen eigentlich für Investitionen bräuchte, möglichst umfassend aus ihm herauszuziehen“, weil es ihm allein um kurzfristige Gewinnmaximierung ginge und „er an der langfristigen Unternehmensentwicklung ohnehin nicht interessiert ist“.
Sie räumen mit dem Propaganda-Märchen von der Globalisierung ebenso auf wie mit jenem, dass wir in einer Leistungsgesellschaft lebten, denn von leistungsgerechter Entlohnung etwa könne vielerorts nicht mehr die Rede sein, und Sie stellen überdies fest, dass der Kapitalismus „Leistung demotiviert, indem er die Bedingungen, unter denen Menschen leistungsfähig und kreativ sind, mehr und mehr zerstört“.
Letztlich stimmen Sie mit Schumpeter überein: „Der Kapitalismus wird durch seine eigenen Errungenschaften umgebracht.“ Mit einem maßgeblichen Unterschied: Schumpeter formulierte eine Prognose für eine zeitlich unbestimmte Zukunft, Sie hingegen liefern eine Beschreibung der unmittelbar ablaufenden Gegenwart. Und Sie legen sich prognostisch fest: Entweder läuft alles so weiter wie bisher bis zum finalen Crash, den Sie eher früher als später erwarten, oder der Wechsel zu einem anderen „Geschäftsmodell“ wird bewusst herbeigeführt. Ihre Alternative nennen Sie, wir erwähnten es schon, „kreativen Sozialismus“. Was soll das sein? Vor allem auch im Unterschied zu bisher bereits gewesenen oder noch existierenden Sozialismen?
Wagenknecht: Viele Menschen assoziieren Sozialismus, sozialistische Wirtschaftsordnung mit zentralisierter Planwirtschaft. Das hängt auch damit zusammen, dass Kapitalismus und Marktwirtschaft im öffentlichen Bewusstsein heute Synonyme sind, was für den Kapitalismus zugleich den Charme hat, dass von seinen Schattenseiten – siehe Goethe – abstrahiert wird. Der Umkehrschluss – auch im öffentlichen Bewusstsein – lautet dann, wer den Kapitalismus überwinden will, will eine Wirtschaft ohne Märkte, will zurück zur Planwirtschaft. Kreativer Sozialismus will das nicht.
Natürlich gibt es gesamtgesellschaftlich relevante Dinge, die muss der Staat planen und regulieren. Wo ein Unterfangen wie die jetzige Energiewende landet, wenn man sie den Märkten überlässt, das sehen wir ja gerade: in einer gigantischen Abzocke der Branche gegenüber dem Rest der Gesellschaft. Aber in sehr vielen wirtschaftlichen Bereichen haben Märkte eine zentrale Steuerungsfunktion, die durch nichts anderes ersetzt werden kann. Jedenfalls ist noch nichts effektiv Funktionierendes „erfunden“ worden.
Kreativer Sozialismus ist Marktwirtschaft, aber in einem sehr viel sozialeren Sinne, als es der gerühmte rheinische Kapitalismus je war, weil er sich in der elementarsten Frage, nämlich der nach dem Eigentum, nach der Verfügbarkeit über die wirtschaftlichen Ressourcen grundlegend vom Kapitalismus unterscheidet. Was diesen hauptsächlich kennzeichnet, ist ja nicht, dass es Märkte gibt. Die hebelt er mit seiner Tendenz zu immer größeren wirtschaftlichen Einheiten bis zu Oligopolen gegebenenfalls sogar aus, ohne seinen Charakter zu wandeln. Was ihn kennzeichnet, ist vielmehr das Privateigentum, ist der Sachverhalt, dass die wirtschaftlichen Ressourcen der Gesellschaft Spielball privater Renditeinteressen sind und nur einer kleinen Schicht der Bevölkerung dienen, nämlich den Eigentümern, die dabei nicht nur durch Ausbeutung, nämlich durch anderer Menschen Arbeit, reich und reicher werden, sondern zugleich über unglaubliche gesellschaftliche Macht verfügen. In dieser Frage muss eine nicht mehr kapitalistische Wirtschaftsordnung andere Strukturen aufweisen. In meinem Buch habe ich dabei im Übrigen recht ausführlich hergeleitet, dass es „Marktwirtschaft ohne Kapitalismus“ und „Sozialismus ohne Planwirtschaft“ tatsächlich geben kann.

Die Kernfrage bei Ihnen ist also, da sind Sie Marxistin wie alle Marxisten vor Ihnen, die nach veränderten Eigentumsstrukturen, nach Ablösung von Privateigentum durch – in Ihrem Fall – Gemeineigentum in der Hand von Unternehmensbelegschaften und in der Hand des Staates. „[…] Systemrelevantes gehört nicht in private Hand“, haben Sie vor einiger Zeit in einem Interview gesagt. In Ihrem Buch machen Sie deutlich: Ihnen geht es zuvorderst um die Vergesellschaftung gemeinwohlrelevanter Geschäftstätigkeiten sowie von wirtschaftlichen Einheiten, die von ihrer schieren Größe her machtrelevant sind. Welche Messlatte wollen Sie dabei anlegen, um, wie Sie es nennen, „eigentumsunfähige“ Unternehmen zu ermitteln?
Wagenknecht: Es bieten sich vor allem drei Kriterien an, um gemeinwohlrelevante von privater Geschäftstätigkeit zu unterscheiden:
– die monopolistische oder zumindest marktdominierende Stellung eines Unternehmens,
– seine Bedeutung für Beschäftigung und Investitionen in einer wichtigen Branche der Volkswirtschaft und
– die Erbringung einer öffentlichen Dienstleistung.

Nach diesen Kriterien soll also vergesellschaftet werden. Nicht ganz klar gekommen sind wir in diesem Kontext mit den von Ihnen genannten Zahlen: Einmal sprechen Sie von 8.500 beziehungsweise – „durch Abgleich der Eigentümer konsolidiert“ – von etwa 3.500 unabhängigen Großunternehmen in Deutschland. Ein paar Seiten später ist nur noch von „etwa 100 oder 200 Firmen in Deutschland, die nach den genannten Kriterien als eigentumsunfähig zu klassifizieren wären“, die Rede.
Wagenknecht: Ich bin dafür, existenzielle Bereiche der Wirtschaft, die für die Gesamtgesellschaft relevant sind beziehungsweise das Leben der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung ganz unmittelbar betreffen, „außer Eigentum“ zu setzen, also nicht einfach zu verstaatlichen beziehungsweise in öffentlich-rechtliches Eigentum zu überführen. Das haben wir heute auch schon, ohne dass Reprivatisierungen nicht immer wieder – zuletzt in der Orgie des Neoliberalismus seit den 90er Jahren – vorgekommen wären. Zu diesen existenzielle Bereichen zähle ich neben der Grundversorgung (Wasser, Energie, Mobilität, Kommunikation, Bildung, Gesundheit, Mietwohnungen und kommunale Dienste) vor allem auch Banken und Versicherungen. Das sind die „etwa 100 bis 200 Unternehmen“. Die müssen verfassungsrechtlich so gestellt werden, dass Reprivatisierungen ein für alle Mal ausgeschlossen sind. Das meine ich mit „außer Eigentum setzen“. Für die ganz überwiegende Anzahl der Großunternehmen von Automobilkonzernen über Chemieunternehmen bis zu Handelsriesen ist das nicht notwendig; die könnten und sollten in Belegschaftseigentum überführt werden.

Also Anteilsaktien?
Wagenknecht: Nein – die nun gerade nicht. Die dienen ja auch heute letztlich nur dazu, in den Beschäftigten eine klein-kapitalistische Eigentümerlogik zu verankern, die sie daran hindern soll zu erkennen, wie das System tatsächlich funktioniert.
Ich stelle mir vielmehr eine Art Stiftungsmodell vor, in dem die Belegschaft die strategische Entscheidungsbefugnis hat. In solch einem Modell darf kein Gewinn an Dritte ausgeschüttet werden. Bei gutem Geschäftsergebnis steigen Löhne und Gehälter, und es kann investiert werden. Das wären dann aber auch die einzigen treibenden Motive für ein (kollektives) Gewinnstreben. Damit würden zugleich Ausbeutung und die Entstehung wirtschaftlicher Macht, die zu politischer Macht führt, ausgeschlossen.

Im Hinblick auf Gemeineigentum wird man ja gern mit so Gegenargumenten wie, dass der Staat generell nicht wirtschaften könne, konfrontiert. Darauf wollen wir hier jetzt nicht eingehen, denn Ihre Auseinandersetzung mit solchen „Argumenten“ kann man nachlesen – ab Seite 313 Ihres Buches. Verraten wir hier nur so viel: Auch hierbei handelt es sich im Wesentlichen um ein Propaganda-Märchen.
Mit den von Ihnen genannten Kriterien wären allerdings im Wesentlichen nur die Großkonzerne und Multis erfasst. Die machen gerade einmal 0,2 Prozent aller deutschen Unternehmen aus. Was haben Sie mit den übrigen 99,8 Prozent vor?
Wagenknecht: Die bleiben in der Hand Ihrer derzeitigen Eigentümer, wobei eine fünfprozentige Vermögenssteuer erhoben werden soll. Die müsste nicht bar entrichtet werden, sondern könnte als Belegschaftseigentum akkumuliert werden.
Nun sind die 99,8 Prozent allerdings auch nicht durchgängig Kleinunternehmen, und da ich es für grundsätzlich verkehrt halte, Unternehmen ab einer bestimmten Größe zu vererben, weil damit unter anderem Arbeitsplätze und soziale Existenzen immer wieder zum Spielball privater Erbstreitigkeiten werden, schlage ich vor, solche Erbschaften auf einen finanziellen Rahmen von einer Million Euro zu beschränken. Was darüber hinausgeht, fällt als Geldvermögen an den Staat und als Betriebsvermögen wiederum an die Belegschaft.

Neben den besonders großen Wirtschaftseinheiten und den Multis wollen Sie das Privateigentum aber auch überall dort, wo es um die Grundversorgung geht, prinzipiell abschaffen. Nun gehört zu den Hauptpreistreibern etwa bei Energie allerdings heute der Staat mit seiner Umverteilungspolitik zugunsten der Konzerne. Und selbst bei Versorgern im Besitz oder mehrheitlichen Besitz der Öffentlichen Hand können Wasserpreise immer weiter steigen, wie nicht nur der Berliner weiß, oder ÖPNV-Tarife. Die Eigentumsübertragung per se hat noch keine andere Preispolitik zur Folge.
Wagenknecht: Das ist korrekt. Daher geht es mir im Hinblick auf die Grundversorgung zugleich um ein ande­res Geschäftsmodell, das Gemeinwohl vor Gewinn setzt. Gemeinwohl heißt: Leistungen für alle zu moderaten Preisen und zu Sozialtarifen für Geringverdiener. Gemeinwohl heißt aber auch, dass Umweltgesichtspunkte wichtiger als Rentabilität sind und dass zum Beispiel Nah- und Fern­verkehr vor allem attraktiv sein und sich nicht in erster Linie rechnen müssen.
Ein neues Geschäftsmodell schlösse nicht zuletzt ein, die fatale Kommer­zialisierung jener Bereiche der Grundversorgung zu revidieren, die noch in öffent­lichem Eigentum sind, aber heute praktisch wie private Unternehmen geführt werden. Nehmen wir die Bahn: Niemand braucht einen „integrierten Logistikkonzern“ mit über 500 Tochterfirmen, der vor lauter Gewinnorientierung vergisst, Gleise und Züge so zu warten, dass die Fahrgäste auch bei winterlicher Witterung sowie im Hochsommer pünktlich und mit angemessener Bequemlichkeit ans Ziel kommen. Eine Bahn, die sich darauf konzentrierte, Menschen und Frachtgüter durch attraktive Angebote von der Straße zu holen, würde aber wahrscheinlich nicht kostendeckend arbeiten können. Zum Ausgleich könnten da Bereiche wie Post und Telekom beitragen, die selbst bei Rückkehr zu vernünftigen Löhnen, zu Sozialtarifen und bei Wiederherstellung eines ordentlichen Postfilialnetzes mit ziemlicher Sicherheit – wie in der Vergangenheit – Überschüsse erwirtschaften würden.

Eine recht brachiale Medizin schlagen Sie nicht zuletzt für die durch die Finanzkrise und aberwitzige Bankenrettungsaktionen exorbitant angestiegenen Staatsschulden vieler westlicher Industrieländer vor, in deren Folge Griechenland – maßgeblich auf Betreiben unserer Bundeskanzlerin – bereits zu dauerhaftem wirtschaftlichen und sozialen Siechtum verurteilt wurde: Schuldenschnitt zu 100 Prozent, mindestens für alle durch staatliche Bankenrettungsaktivitäten angehäuften Verbindlichkeiten. Sollten wir für den Fall, Sie setzten sich durch, schnell noch unsere Spar-Euros von der Volksbank holen? Denn so ein Schuldenschnitt müsste ja Banken wie Dominosteine zusammenkrachen lassen.
Wagenknecht: Volksbanken und Sparkassen haben an der Casino-Zockerei der Privatbanken ja praktisch nicht teilgenommen, mussten also auch nicht infolge Verzockerei gerettet werden und trugen nicht nur nicht zum Anstieg der Staatsschulden bei, sondern hatten wesentlichen Anteil daran, die Finanzkrise nicht voll auf Deutschland durchschlagen zu lassen. Ein Schuldenschnitt würde in deren Bilanzen nicht unmittelbar eingreifen. Wie gut, wenn ich das anmerken darf, dass sich die private Finanzindustrie mit ihrer langjährigen Forderung, das dreigliedrige deutsche Bankensystem zugunsten der Privatbanken abzuschaffen, bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Krise nur teilweise durchsetzen konnte.
Was allerdings die Privatbanken anbetrifft, da brauchen wir eine grundsätzliche Neuordnung des Systems. Dabei muss der Staat für die Aufgaben einstehen, die für die Volkswirtschaft wichtig sind: Die elementaren Bankfunktionen, das Einlage- und Kreditgeschäft und die Abwicklung des Zahlungsverkehrs, müssen öffentlich kontrolliert und abgesichert werden. Und bei dem von mir vorgeschlagenen Schuldenschnitt, das habe ich mehrfach ganz klar gesagt, soll kein Kleinsparer um seine Einlagen bei Privatbanken fürchten müssen. Diese Einlagen wären bis zu einer Höhe von sagen wir 500.000 Euro, die die allermeisten Kleinsparer vollständig vor Verlusten schützen würde, staatlich zu garantieren. Alles andere ginge bei einer Bankpleite dann eben in die Insolvenzmasse ein. Wenn Hedge Fonds und Investmentbanken vom Markt verschwänden, wäre das nur gut. Niemand braucht deren Derivat- und Währungsgeschäfte oder das Hochtreiben von Rohstoff- und Lebensmittelpreisen durch Spekulationen. Die Insolvenz von Hedge Fonds und Investmentbanken wäre nur für diejenigen von Nachteil, die durch solche Geschäfte immer reicher werden.

Ihr Buch endet gewissermaßen mit der Feststellung, der kreative Sozialismus sei „einfach, produktiv und gerecht – […] realistisch und realisierbar“. Auch für die linken Klassiker Marx und Engels war Sozialismus vor 150 Jahren bereits die Alternative zum Kapitalismus. Beide hielten sich allerdings höchst bedeckt im Hinblick auf Aussagen zur Art und Weise des Übergangs. Da blieben sie wolkig. Engels etwa nannte die Verwirklichung des Sozialismus im „Anti-Dühring“ den „Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“.
Anders am Beginn des 20. Jahrhunderts Rosa Luxemburg und Karl Kautsky in ihrer Auseinandersetzung mit dem Revisionismus Eduard Bernsteins. In dieser Kontroverse war für Luxemburg „
die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat“ (im Wege des Klassenkampfes und der sozialen Umwälzung, sprich: Revolution) „das einzig wirksame Mittel“ zur „Expropriation der Expropriateure“. Und die Entwicklung des Kapitalismus selbst schuf nach Luxemburgs Auffassung dafür auch „die Kräfte zur Lösung der Aufgabe: die Proletarier“. Bernstein seinerseits hatte erkannt, dass es angesichts einer sich abflachenden sozialen Verelendung des Proletariats (die Bismarcksche Erfindung der Sozialversicherung trug ihren Teil dazu bei) mit dem revolutionären Potenzial der Arbeiterklasse nicht mehr weit her war, und er ersetzte daher Revolution als Weg zum Sozialismus durch Reform und das Endziel durch den Weg in dessen Richtung.
Lenin veröffentlichte wenige Jahre später bekanntlich einen vergleichbaren Befund: In „Was tun?“ konzedierte er dem Proletariat lediglich das Vermögen „
ein trade-unionistisches Bewußtsein hervorzubringen“, jedoch kein revolutionäres. Allerdings gingen Lenins Schlussfolgerungen in eine völlig andere Richtung als die Bernsteins – er plädierte für eine Avantgarde von Berufsrevolutionären, für die Partei neuen Typus und de facto – bei Eintreten revolutionärer Situationen, für die er drei sehr nachvollziehbare objektive Kriterien formulierte, – für die Bereitschaft zum Coup d’Etat. Lenin sprach davon, „den Angriff vorzubereiten, der Erfolg verspricht“. Historisch gescheitert sind alle drei Ansätze, wenn wir den nicht ausformulierten von Marx und Engels mal miteinrechnen.
Das macht die nächste Frage umso elementarer und spannender: Welchen Weg haben Sie für die Einführung Ihres kreativen Sozialismus im Auge?
Wagenknecht: Das ist natürlich von Land zu Land unterschiedlich. Für Europa kann ich mir vorstellen, dass grundlegende gesellschaftliche Veränderungen mit einer breiten außerparlamentarischen Opposition, mit einer starken Streikbewegung und entsprechenden Wahlergebnissen durchsetzbar sind. Wahlergebnisse müssen natürlich durch gesellschaftliche Bewegungen abgestützt sein, damit veränderungsbereite Regierungen überhaupt eine Chance für die Umsetzung tiefgreifender Umgestaltungen der Eigentumsverhältnisse haben und nicht über kurz oder lang vertrieben werden. Ich denke dabei zum Beispiel an Gewerkschaften, die willens sind, notfalls auch den Generalstreik ausrufen, wenn gegen eine gewählte Regierung zu undemokratischen Mitteln gegriffen wird. Und was die Chancen anbetrifft: Bei den letztjährigen Parlamentswahlen in Griechenland hat die Linke die Mehrheit nur knapp verfehlt.

Und die hiesigen, weitgehend verbeamteten Staatsapparate? Meinen Sie, dass man mit denen einen gesamtgesellschaftlichen Eigentumswandel realisieren könnte? Das sind doch die Kräfte, denen es bereits seit langem egal ist, wer unter ihnen als Minister vereidigt wird, und die mit ihrem Beharrungsvermögen jeden Wandel gegebenenfalls mit bürokratischen Fallstricken bis zum Exitus blockieren können. Für die Zerschlagung alter Staatsapparate allerdings gibt es wiederum nur historische Beispiele, deren Nachahmung – von der französischen Revolution bis zur Entwicklung ab 1917 – kaum zu empfehlen sein dürfte.
Wagenknecht: Auch unter Beamten gibt es meiner Kenntnis nach sehr viele, die die derzeitige wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik sehr kritisch sehen – nicht zuletzt, weil diese Entwicklung ihnen Verantwortung und Bedeutung nimmt, etwa durch das Outsourcen der Vorbereitung von Gesetzestexten an Anwaltskanzleien, die häufig genug mit den Bereichen der Wirtschaft verquickt sind, denen die betreffenden Gesetze gelten.
Das Beamtenrecht verpflichtet im Übrigen zu Loyalität gegenüber dem Staat beziehungsweise der demokratisch gewählten Regierung, und auf einer solchen Grundlage ist Zusammenarbeit auch unter veränderten gesellschaftlichen Zielstellungen prinzipiell möglich. Nur wer diesem Grundsatz nicht folgt, wäre fehl am Platze. Das ist heute aber genauso.

Mit Ihrem Vorschlag zur Schaffung von Gemeineigentum stehen Sie einerseits auf dem Boden des Grundgesetzes. Andererseits wollen Sie entschädigungslos enteignen. Wir sind da im Übrigen völlig d’accord mit Ihnen, den in den Zeiten des Neoliberalismus und insbesondere des Finanzmarktbooms exponentiell gewachsenen Vermögen der Zocker sowie der Reichen und Superreichen, der Banken, Hedge Fonds, Versicherungen und Großkonzerne, die praktisch als einzige von den Entwicklungen profitiert haben, die zur jetzigen Systemkrise geführt haben, nicht noch weitere Milliarden an Steuergeldern hinterherzuwerfen. Artikel 15 im Grundgesetz lautet allerdings: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt (Hervorhebung – Das Blättchen), in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ Und Artikel 14, Absatz drei ergänzt: „Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.“ Wie wollen Sie mit diesen Verfassungspostulaten umgehen?
Wagenknecht: Natürlich will ich Kleinanleger nicht enteignen. Wenn etwa Telekommunikation als wichtiger Teil der Grundversorgung außer Eigentum gestellt, also vergesellschaftet würde, dann soll diese Anteilseigner-Gruppe angemessen entschädigt werden.
Vergesellschaftungsfragen sind im Übrigen gesellschaftliche Machtfragen, und in dieser Hinsicht stehen die Verhältnisse bei uns derzeit auf eine höchst undemokratische Weise auf dem Kopf: Das System begünstigt völlig einseitig eine verschwindende Minderheit, und die Mehrheit zahlt dafür, dass diese Minderheit, die Reichen, vor Vermögensverlusten geschützt werden. Großinvestoren haben ihre Vermögen nicht erarbeitet, sondern ererbt oder zusammenspekuliert. Soweit diese Vermögen im Vorfeld sowie in der Finanzkrise weiter gewachsen sind, bestehen sie heute praktisch zu einem erheblichen Teil aus Geldern der staatlichen Bankenrettung, also aus Steuergeldern. Ich würde im Hinblick auf diese Schicht daher auch gar nicht von Enteignung sprechen, wenn die Gesellschaft sich das zurückholt, was ihr eigentlich gehört.
Und was den verfassungsrechtlichen Aspekt anbetrifft, so gibt es durchaus ein historisches Vorbild in der Bundesrepublik. Das war die 1948 beschlossene sogenannte Lastenausgleichsabgabe, die Vermögende – zumindest auf dem Papier – zur Aufgabe von 50 Prozent ihres Vermögens verpflichtete und bei der im Nachhinein auch niemand auf die Idee kam, sie als grundgesetzwidrig einzustufen.
Ein nicht unmaßgeblicher Prozentsatz der Probleme würde sich aber nicht zuletzt im Selbstlauf erledigen, sobald der oben skizzierte Schuldenschnitt vollzogen wäre und jegliche staatliche Bankenrettung für alles, was nicht zu den angesprochenen volkswirtschaftlich notwendigen Funktionsbereichen von Finanzinstituten zählt, eingestellt würde. Dann wären die diesbezüglichen Verbindlichkeiten der Staaten und Forderungen der privaten Banken und anderer Großgläubiger in gleicher Höhe aus der Welt. Sicher würde das die Reichen ziemlich viel Geld kosten, aber ein rechtliches Problem sehe ich darin nicht – und ein moralisches schon gar nicht. Der moralische Makel liegt systembedingt grundsätzlich auf der Seite der Reichen: Das Betriebsvermögen von BMW geht doch nicht auf die Quandts oder Frau Klatten zurück sondern auf die Arbeit der Beschäftigten. Und in deren Hand gehört es auch.

Sie hätten Ihr jüngstes Buch auch „Wohlstand für alle“ nennen können, denn Sie haben diese Maxime Ludwig Erhards nicht nur dezidiert aufgegriffen, sondern betonen seither, dass eines der Hauptziele des von Ihnen konzipierten kreativen Sozialismus darin besteht, genau diese Maxime gesellschaftlich einzulösen. Sie haben dabei Ihre Auffassung von „Wohlstand“ nicht näher definiert, so dass der Leser wohl mindestens von einem Wohlstandsniveau ausgehen darf, wie es heute den Lebensalltag einer Mehrheit in der Bundesrepublik prägt.
Wenn links sein allerdings bedeutet, auch die anderen „Verdammten dieser Erde“ im Blick zu behalten, dann ergibt sich das Problem, dass das durchschnittliche heutige Wohlstandsniveau der westlichen Industrieländer, wollte man es auch für über 1,3 Milliarden Chinesen, knapp 1,2 Milliarden Inder und die übrigen Einwohner der Dritten Welt erreichen, das Ressourcenpotenzial der Erde um ein Vielfaches überschritte.
Wagenknecht: Ja – wenn man unseren materiellen Wohlstand mechanisch auf die ganze Welt überträgt. Zunächst wäre aber die Frage nach der Qualität dieses Wohlstandes zu stellen. Wäre die wirklich gemindert, wenn ich nicht jedes Jahr ein neues Handy und alle drei oder fünf Jahre ein neues Auto hätte, sondern diese Produkte bedeutend länger nutzte? Dass Produkte nicht nur nicht auf lange Lebensdauer produziert werden, sondern mit ausgeklügelten Marketing- und Werbestrategien auch noch zielgerichtet an möglichst kurzen Konsumumschlagszyklen gearbeitet wird, ist aber ausschließlich unserem heutigen Wirtschaftssystem und seiner Haupttriebkraft, der Profitgier, geschuldet. Im kreativen Sozialismus, ohne diese Triebkraft, käme man, davon bin ich überzeugt, sehr viel schneller zu einer Ressourcen schonenden Kreislaufwirtschaft. Man könnte das kreative Potenzial der Menschheit, Forschung und Entwicklung sehr viel stärker auf regenerierbare Rohstoffe und nachhaltige Produktion orientieren. Nicht zuletzt würde technischer Fortschritt nicht mehr durch Renditeerwägungen blockiert.
Darüber hinaus landen laut Focus allein in der Bundesrepublik Jahr für Jahr 11 Millionen Tonnen Nahrungsmittel auf dem Müll. Daraus könnte man einen Teil der Defizite in Afrika decken, ohne den Wohlstand hier im Geringsten zu mindern. Auch das lässt unser derzeitiger Kapitalismus jedoch nicht zu.
Um Ihre Frage also zu beantworten: „Wohlstand für alle“, und zwar global, ist ebenfalls zuerst eine Frage von grundlegenden Veränderungen im Wirtschaftssystem und im öffentlichen Bewusstsein.

Frau Wagenknecht, vor Ihren Gesellschaftsanalysen ziehen heute auch Zeitgenossen den Hut, deren Namen geradezu Synonyme für bestimmte Ausprägungen des Konservatismus sind – Frank Schirrmacher wurde bereits erwähnt, Peter Gauweiler (CSU) wäre ebenfalls zu nennen. Und noch erstaunlicher: Die schrecken auch vor Ihren Therapieangeboten keineswegs zurück wie der Teufel vor dem Weihwasser! Aus DDR-Zeiten erinnere ich mich noch gut an einen Mahnspruch, den vor allem Aufsicht führende Genossen immer gern zur Hand hatten: „Vorsicht! Wenn der Feind Dich lobt, dann bist Du auf dem (ideologischen) Holzweg!“ Lassen Sie, wie Kautsky Bernstein vorwarf, „das Lob des Gegners willenlos über sich ergehen“ oder ist dergleichen für Linke heute kein Problem mehr?
Wagenknecht: Leute wie Schirrmacher und Gauweiler sind in vielem sicher grundsätzlich anderer politischer Meinung als ich, sorgen sich aber auf der Grundlage ihres Wertekanons ebenfalls um unser Gemeinwesen. Meine Feinde sind solche Menschen nicht. Anders wäre das, wenn mich plötzlich der Präsident der Arbeitgeberverbände oder der Chef der Deutschen Bank lobten. Dann würde ich mich schon fragen, was da falsch gelaufen ist. Bisher sehe ich dafür aber keine Anzeichen.

Das Gespräch für Das Blättchen führte Wolfgang Schwarz am 1. März 2013.