Radical Pedagogy innerhalb einer Kunstinstitution

in (06.06.2013)

 

Es liegt eine gewisse Ambiguität darin, das Konzept der radical pedagogy innerhalb einer Kunstinstitution zu denken; diese hat vor allem damit zu tun, dass das, was radical pedagogy bedeuten soll, nur sehr vage definiert ist. Wir werden in diesem Text zu zeigen versuchen, dass radical pedagogy in einem Museum – entgegen dem, was von den meisten eher progressiven educational theorists und Künstler_innen vorgeschlagen wird –  nicht nur damit zu tun hat, neue Räume der Mikropolitik, Begegnung und Vermittlung innerhalb dieser Insitutionen zu schaffen, sondern dass es vor allem darum geht, die ideologischen, ökonomischen und kulturellen Perspektiven auf die Zeit, die es innerhalb dieser Institutionen gibt, zu ändern; also einerseits in die Macht über Wissen und andererseits in die Macht über Zeit der Institutionen störend einzugreifen.

Uns ist bewusst, dass jede Institution dazu tendiert, Erfahrungen von Geschichte, die noch nicht ist, wie Giorgio Agamben es nennt, zu stabilisieren und zu eliminieren (so etwa Gesten des Widerstands, Imagination, Affekte … – alles, was zu Beginn der modernen Wissenschaften als irrational aus dem Wissen ausgeschlossen wurde und was dieser Wissenschaft zufolge unseren Ordnungssinn verletzt). Dies geschieht durch die Produktion konzeptueller Konfigurationen und Regeln des Denkens, also durch Diskurse, Interpretationen, Narrative, Gewohnheiten etc. Diese Regeln bestimmen nicht nur, was Bedeutung hat, wer darüber entscheidet und wer das Privileg hat zu sprechen, sondern sie konstruieren – durch eben diese Prozesse – auch kanonisierte Geschichten, sie bilden eine Wissensautorität. Diese sind die Fundamente, die historischen Kräfte, auf denen Museen aufbauen. Das ist die eine Perspektive. Eine weitere Perspektive, die uns noch wichtiger erscheint, hat mit dem Verhältnis zwischen der Arbeit in der Sphäre von Kunst/Kultur und der Macht über Zeit zu tun.

Welche Arten von Zeit gibt es eigentlich in einem zeitgenössischen Museum? Kunstmuseen sind zunächst zeitliche Heterotopien: Neben einer linearen Zeit, die streng die Öffnungszeiten reguliert, gibt es zeitweise suspendierte Zeit (während des Betrachtens einer Ausstellung zum Beispiel), physische Zeit (Empfindung des Klimas, des Lichts usw.), als auch metaphysische Zeit (Kontemplation). Vor allem jedoch finden im Museum etliche Prozesse statt, die mit der neuen Macht über Zeit und diese wiederum mit dem kognitiven Kapitalismus zu tun haben. Wie wir wissen, versucht der Raum der Ökonomie zu beschleunigen, Zeit nach einer operationalen Logik zu diktieren und zu organisieren; das ist auch in der Kultursphäre passiert – die Rhythmen der Arbeit sind pulsierender, fließender geworden und die beschleunigte Zeit des Kapitalismus hat unter anderem dazu geführt, dass es neue Modulationen und Regulationen der Arbeitsweisen gibt.

Deswegen sollte radical pedagogy nicht nur die vielen Temporalitäten des Museums neu betrachten, sondern auch die Möglichkeiten einer Änderung derselben auf eine Weise neu denken, in der diese neuen Temporalitäten eine Bedingung für Politiken des Widerstands werden. Wir werden versuchen das zu erläutern. Künstlerische Arbeit im Kapitalismus ist immer als verhältnismäßig frei verstanden worden, sie repräsentierte ein Ideal befreiter Arbeit, die den traditionellen Arbeit-Kapital-Antagonismen enthoben schien. Das wurde damit begründet, dass die Arbeit von Künstler_innen mit Singularität markiert war. Aber in den 1980ern begann ein relativ neues kulturökonomisches Modell zu greifen, das verschiedene, kompliziertere Verhältnisse zwischen Kunst/Autonomie auf der einen Seite und Arbeit/Kapital auf der anderen Seite einführte. Während der Kunstproduktion einereits noch immer eine relative kreative Autonomie zugestanden wurde, drängten andererseits die sich verschlechternden materiellen Bedingungen für die Arbeit von Künstler_innen, abnehmende Kontrolle über die Reproduktion und Distribution ihrer Ideen, ihres Wissens und ihrer Waren sie weiter in das vertragliche Verhältnis mit Kapital und Lohnarbeit. Künstler_innen und Kurator_innen wurden auch Teil einer neuen erweiterten Arbeiter_innenklasse. Das hieß nicht, dass sie sich auch mit Lohnarbeiter_innen identifizierten; im Gegenteil, sie verharrten in der widersprüchlichen Position zwischen Lohnarbeit einerseits und illusionären Privilegien einer bestimmten Klasse andererseits. Die Frage nach der Überwindung dieser Trennung wird ein politisches Problem. In diesem Zusammenhang wird radical pedagogy zu einem dynamischen Prozess, der Antagonismen der Kunstproduktion und Arbeit, Widerstand gegen Ausbeutung und Kommodifizierung von Arbeitskraft ebenso wie verschiedene Begehren, Affekte und andere subjektive Komponenten, die im Arbeitsprozess und in der Arbeit selbst liegen, in Betracht zieht. Was also ist nun radical pedagogy als Widerstand? Welche Modelle kann sie konstruieren? Wie kann sie beispielsweise die „Landschaft“ eines Kunstmuseums beeinflussen?

In diesem Zusammenhang möchten wir ein Projekt beschreiben, einen Prozess, eine Forschungsmethode, die unter dem Namen Radical Education (RE) 2006 in Ljubljana begann. Das Projekt war Teil des Programms der Moderna galerija, gleichzeitig aber ziemlich unabhängig von ihr und wurde wenige Jahre später ein Kollektiv. Die Menschen, die bei RE mitarbeiteten, kamen aus dem politischen Aktivismus, Migrant_innen-Bewegungen, Anarchismus, Kunst, Anthropologie usw. RE wollte eine Kontaktfläche zwischen sozialen Bewegungen und Kunstinstitutionen schaffen und neue institutionelle Formen des Widerstands erfinden, mit Widerstand als gemeinsamer Basis für die Antizipation neuer Regeln, wo, wie Paolo Virno sagt, „ästhetischer und sozialer Widerstand sich treffen“. Eines der Ziele von RE war es, gemeinsame Untersuchungen zwischen zwei Feldern, also Kunst und Politik, zu definieren und durch die Definition von Konzepten wie Macht, Arbeit, Lohnarbeit, ästhetischer Erfahrung, Affekten usw. zu bestimmen, was Formen der Kunst und politische Widerstandsformen gemeinsam haben. Beispielsweise war eine der Fragen, die uns besonders wichtig erschien und um die herum wir eine Seminarreihe unter dem Titel Widerstand als Kreation gemeinsam mit migrantischen Arbeiter_innen, politischen Aktivist_innen und Kulturarbeiter_innen im Sozialen Zentrum Ljubljana organisiert haben: Was ist Kreation? Nicht nur aus der Perspektive künstlerischer Arbeit, sondern auch ausgehend vom Produktionsprozess als ästhetischer Erfahrung an sich. Ist manuelle Arbeit solch eine ästhetische Erfahrung? Wie verhält sich das zur Kunst, die Lohnarbeit wiederholt? Ist diese Erfahrung auf Räume von Kunstmuseen beschränkt oder kann sie überall stattfinden? Kann Kunst als Werkzeug politischer Emanzipation dienen? Es war jedoch nicht bloß das Anliegen von RE, eine Sammlung bedeutungsvoller und relevanter Fragen anzulegen. Vielmehr sollten diese angewendet werden und wurden in kollektiven Situationen konfrontiert, um Expert_innenwissen zu demokratisieren und ein gemeinsames zu produzieren. Unter gemeinsamem Wissen haben wir verstanden, theoretisches Denken, das mit politischen Haltungen einhergeht, auf seine soziale Effektivität zu überprüfen und Unterstützung und Strategien für gemeinsame Bereiche des Konfliktes zu erhöhen.
Ein weiterer Aspekt von RE waren eine Reihe von Untersuchungen, die Marx´ Argument, dass Kapitalismus seine Ausbeutungsmethoden verdeckt, zum Ausgangspunkt nahmen. Was uns hier interessiert hat, war die Frage, wie trotz einer relativen Autonomie der künstlerischen Arbeit der Widerspruch der Arbeit innerhalb der Kultursphäre so verschleiert worden ist, dass Arbeit oftmals nicht nur als stimulierend und erfüllend angesehen wird, sondern auch keine Elemente der Ausbeutung in ihr gesehen werden. Zentral für das Verständnis der Ausbeutung ist es, zu erkennen, wie sie die Arbeit und das Leben von Arbeiter_innen formt, von Flexibilität bis hin zu fehlender sozialer und gesundheitlicher Absicherung, prekären Arbeitsbedingungen wie beispielsweise das Leben in und von Residencies, zwischen Projekten usw.
Von diesen Überlegungen ausgehend hat RE 2010 eine Untersuchung in kleinerem Umfang initiiert, die – aufbauend auf Marx´ Arbeiterfragebogen – seitdem in Ljubljana, Madrid (mit der Workers Inquiry Group im Museo de Arte Reina Sofia) und Belgrad (mit dem Škart Kollektiv) durchgeführt wurde. Der Arbeiter_innenfragebogen ist eine Recherchemethode mit 100 Fragen, die in verschiedenen Formaten durchgeführt werden kann, in mündlichen oder schriftlichen Interviews. Die Fragen reichen vom Bildungshintergrund, Arbeitserfahrung, sozialer und gesundheitlicher Absicherung, Mitgliedschaft in Gewerkschaften oder politischen Parteien bis hin zu Arbeits- und Lebensbedingungen. Eine der Fragen, die so adressiert wurde und ein ganz neues Territorium für die Diskussion eröffnete, war beispielsweise: Was passiert, wenn du die Entfremdung von den Ergebnissen deiner eigenen Arbeit verweigerst? Das war ein besonders wichtiges Thema in Serbien, wo die Umfrage unter Kulturarbeiter_innen durchgeführt wurde, die aus unterschiedlichen Gründen – so unter anderem aufgrund von politischem und sozialen Aktivismus, sexueller Orientierung, Kritik an neoliberalen Tendenzen in der Kultur – ihre Arbeitsstellen verloren hatten, in ihrem Arbeitsumfeld gemobbt wurden oder gar psychischen Angriffen ausgesetzt waren. Was für RE wichtig war, war deswegen auch die Frage, wie „Unorganisierte“ organisiert werden können, jenseits der Trennung zwischen Festangestellten an Kulturinstitutionen und prekären Arbeiter_innen. Das Ziel, Kulturarbeiter_innen in Verbindung mit Arbeiter_innenbewegungen zu politisieren, war eines der Themen bei den Zusammenkünften in Madrid, Ljubljana und Belgrad, wo wir herauszufinden versuchten, inwiefern neue Netzwerk-organisierte öffentliche Räume in einem politischen Sinn wichtig sind – wie also, in anderen Worten, gemeinsame „Möglichkeiten für Politiken“ geschaffen werden können.

Was wir von RE gelernt haben, ist, dass es dabei, was künstlerische und soziale Bewegungen gemeinsam haben, nicht um Inhalte geht, beispielsweise künstlerische Perspektiven auf sozialen Widerstand, und auch nicht, wie Hal Foster meinte, um die Annahme, dass der Ort künstlerischer Transformation auch einer politischer Transformation sein kann. Ein_e Kolleg_in, Kurator_in in Serbien, hat es so formuliert: Wir wollen keine Illusionen mit unserer eigenen Arbeit produzieren, über die angebliche Redefreiheit, künstlerische Tugenden und Werte, die ein zutiefst ungerechtes, unfreies und konservatives soziales und politisches System camouflieren.

Relevant war das spezifische Verhältnis zwischen einer Kunstinstitution und RE in Bezug auf Fragen danach, wie sich neue institutionelle Experimente und neue Produktionsnormen mit der Produktion der Institution verbinden lassen und wie sich in diese aufgezwungenen Rhythmen in einer Weise eingreifen lässt, dass diese neuen Temporalitäten eine Bedingung für Politik werden. Demnach könnte radical pedagogy als Prozess der Definition neuer zeitlicher Normen in Bezug auf die Organisierung von Raum und der Legitimierung desselben als Raum der commons – durch Ereignisse, verschiedene Arten der Allianzen, kollektive Organisierung und das Produzieren und Teilen von gemeinsamem Wissen mittels gemeinsamer politischer Affinitäten – verstanden werden.



Aus dem Englischen übersetzt von Sophie Schasiepen.

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 29, Sommer 2013, „un/vermittelt“.