Bad Religion?

Religion als gesellschaftliches Terrain für soziale Bewegungen

Wir schreiben das 21. Jahrhundert. Postmoderner Mainstream beherrscht das Selbstbild der Menschen, während Gott heute am CERN in der Schweiz in einem riesigen unterirdischen Teilchenbeschleuniger gesucht wird. Ist Religion im naturwissenschaftlich-aufgeklärten Zeitalter etwas Abgelaufenes, Vergangenes, Anachronistisches? Weit gefehlt! Zu Kirchentagen pilgern immer noch Zehntausende. Ranghohe PolitikerInnen geben sich bei aller postulierten Säkularität die Ehre. Jüdische Gemeinden und christliche Kirchen erhalten Millionenzuwendungen. Insbesondere über soziale Träger behalten Religionsgemeinschaften an gesellschaftlichem Einfluss: Jüdische Krankenhäuser, katholische Kitas oder islamische Schulen – ein erheblicher Teil der sozialen Infrastruktur liegt in konfessionellen Händen. Das macht sich gerade dann bemerkbar, wenn religiöse Überzeugungen mit der gesellschaftlichen Realität aufeinanderprallen und die Lücken deutlich werden. Absolutes Unverständnis äußerte sich beispielsweise in den Fällen von Vergewaltigungsopfern, die von katholischen Krankenhäusern abgewiesen wurden. Doch auch in den Institutionen selbst zeigen sich Brüche. Erst vor wenigen Wochen brach im Parlament der Jüdischen Gemeinde zu Berlin eine Prügelei aus, der Papst fürchtet die „Schwulen-Lobby“ im Vatikan und zwischen verschiedenen muslimischen Glaubensgemeinschaften bestehen tiefe Gräben.

Ist Religion apolitisch? Ganz offensichtlich nicht. Ist sie aber nur das „Opium des Volkes“, wie Marx schrieb, oder, wie Joe Hill sang, das Versprechen von „Pie in the Sky“– eine Erzählung für die Unterdrückten, dass man irgendwo und irgendwann schon seinen Lohn bekommt, wenn man die Strapazen im Hier und Jetzt gottesfürchtig und gehorsam ertragen hat? Ein Hort von Irrationalität, Intoleranz und Fanatismus? Beides greift in der heutigen Welt zu kurz: Als gesellschaftliches Terrain ist sie keineswegs monolithisch, sondern ein Schauplatz von Machtkämpfen und Auseinandersetzungen, Aneignungen, Umdeutungen, Verwerfungen. Immer schon gab es gegenläufige Strömungen innerhalb der Religionen, kämpften reformerische Bewegungen gegen verkrustete Institutionen, verband sich nicht nur Herrschaft mit Religion, sondern Religion auch mit Sozialismus. Jüdinnen und Juden waren von zentraler Bedeutung in der Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung. In Lateinamerika gehen AktivistInnen mit christlichen Leitbildern unter dem Banner der Befreiungstheologie für eine sozial gerechtere Welt auf die Straßen. In Deutschland stehen auf antimilitaristischen Demos nicht selten neben autonomen Linken auch pazifistische ChristInnen.

Es stellt sich aus progressiver Warte also die Frage, ob Religion wirklich etwas per se Schlechtes ist. Sicher: würde man diese Frage anhand von ultraorthodoxen FundamentalistInnen beantworten, so wäre die Antwort ziemlich eindeutig. Doch ist das wirklich ein beispielhafter Ausdruck von Religion oder nur ein Zerrbild oder ein Spiegel der Gesellschaft? Es ist nicht nur schwer, ein so komplexes Thema einzufangen und zu beurteilen, es ist schier unmöglich. Die vielen Verknüpfungen mit linker Geschichte machen die Suche nach dem Wesen der Religion nicht einfacher und eine Positionierung dazu erst recht nicht. Religion ist autoritär und befreiend, offen und verschlossen. Neben dem individuellen Glauben sind die Werte entscheidend, die transportiert werden, und die die Religion zu mehr werden lassen als rituelles Beten.

Wenn diese Werte und Ideen das sind, was man aus ihnen macht, ist Religion vielleicht sogar so etwas wie die utopische Antithese zum materialistischen Kommunismus, der letztlich seine Ausprägung auch von denen erhielt, die in seinem Namen handelten, wie Lenin, Stalin oder Mao und sich seiner progressiven Elemente entledigten, die nun wieder ausgegraben werden. So wie viele heute versuchen, den Namen des Kommunismus reinzuwaschen, tun dies auch nicht wenige mit der Religion. Für sozialrevolutionäre Bewegungen sollten die grundlegenden Werte im Vordergrund stehen, und nicht das Etikett, das sie tragen. In der Geschichte hat es stets jüdische KommunistInnen, christliche Sozialrevolutionäre und sogar islamische AnarchistInnen gegeben. Individueller Glaube und die Werte, die damit verbunden sind, stehen nicht grundsätzlich in Unvereinbarkeit zu sogenannten weltlichen politischen Idealen. Letztlich kann man also festhalten: Bei aller notwendigen Religionskritik, ein wenig Religionskompetenz würde allen gut tun.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Direkten Aktion 218 - Juli / August 2013