Besuch beim Guardian

Man kann fragen, ob der unangekündigte Besuch des höchsten britischen Regierungsbeamten bei der Tageszeitung The Guardian die Zerschlagung der Pressefreiheit auf der Insel bedeutet. Eine ernsthafte Antwort wird diese Frage jedoch verneinen. Was nicht heißt, dass der Auftritt von Sir Jeremy Heywood, enger Vertrauter von Premier Cameron, ein Kavaliersdelikt gewesen wäre. Sein ungebetener Besuch führte am Ende zur Bond-reifen Situation: Zum Ortstermin in einem Untergeschoss des Guardian, bei dem zwei Mitarbeiter des wichtigsten und am wenigsten bekannten britischen Geheimdienstes GCHQ überwachten, dass Computer-Festplatten mit Informationen des Whistleblowers Edward Snowden über Abhörpraktiken des US-Geheimdienstes NSA zerstört wurden.
Noch einer nahm teil an der bizarren Kellerrunde: Guardian-Chefredakteur Alan Rusbridger. Seine Zeitung hatte Anfang Juni die ersten Enthüllungen des einstigen NSA-Mitarbeiters Snowden über flächendeckende Überwachung der Öffentlichkeit durch amerikanische und britische Geheimdienste geliefert. Der „Guardian“, der auch in der Vergangenheit immer mal Neuigkeiten brachte, die nicht von der Nachrichten-Stange stammten, gilt zu Recht als eine der interessantesten linksliberalen Zeitungen. Weltweit. Rusbridger führt das Blatt seit 1995 und baute es online zu einer der angesehensten Zeitungen aus. Freilich konnte auch er nicht verhindern, dass das Blatt rote Zahlen schreibt. Die Geheimdienstaktion im Zeitungskeller und die Drohkulisse der Regierung machte er mit vierwöchiger Verspätung im Guardian publik. Auslöser hierfür war die Festnahme des Brasilianers David Miranda auf dem Flughafen Heathrow und seine mehrstündige Festsetzung, alles unter Berufung auf das Antiterrorgesetz. Miranda ist Partner von Glenn Greenwald, der die Snowden-Enthüllungen für den Guardian betreut.
Der Hintergrund wird noch seltsamer dadurch, dass die Zerstörung der Datenträger auch für die Geheimdienstler und Sir Jeremy im Wissen geschah, dass die Daten kopiert und folglich gesichert waren. Rusbridger nannte die Vernichtung ein „besonders sinnloses Beispiel von Symbolismus“. Vordergründig mag das ebenso zutreffen wie Rusbridgers Erklärung, mit seiner Zustimmung zur Vernichtung der Daten habe er eine einstweilige Verfügung der Staatsmacht beziehungsweise einen die Zeitung lähmenden Polizeieinsatz verhindert. Für eine Zeitung in, wie erwähnt, finanziell ohnehin schwerem Wasser ist das ein Aspekt, den man besser nicht übersieht.
Die Zerstörung der Festplatten war dennoch keine leere Drohung. Sie war ein Einschüchterungsversuch und Eingriff in die Pressefreiheit. Da der Guardian nun verwarnt, aber nicht auf Tauchstation gegangen ist, und da weitere Enthüllungen aus Snowdens Fundus im Guardian angekündigt sind, ist es nicht zu spät, einen schweren Anschlag auf die Pressefreiheit festzuhalten, jedoch zu früh, von ihrem Dahinscheiden zu sprechen – und unangebracht, eine verkürzte Linie zu Ländern des realen Sozialismus zu ziehen.
Zwei Gründe legen solche Zurückhaltung nahe: Berichterstattung über einen Vorfall wie den Besuch im Guardian durch die betroffene Zeitung wäre im Realsozialismus undenkbar gewesen. Und erst nach dem Zusammenbruch jenes Sozialismus mit sehr beschränktem Charme entfaltete sich eine technische Revolution, die für Überwachung und Spionage bis dahin ungekannte Möglichkeiten eröffnete. Das zu erwähnen soll nicht verharmlosen, was sich britische Dienste gegenüber einer Zeitung erlauben. Es soll nur an den digitalen Dammbruch erinnern, der eine derart grenzenlose Staatsspionage ermöglicht, dass einzelne Whistleblower wie Snowden oder Bradley Manning zwar wichtige Korrektive, aber keine gleich starken Gegenspieler für diese Staatsgewalten sind. Hier liegt zudem ein Grund, weshalb Enthüllungen über die wild wuchernde Überwachung durch Staaten und deren Staat-im-Staate-Dienste viele Menschen bisher so wenig aufregen. Vielen fehlt, ähnlich wie beim Protest gegen Atomwaffen, der Glaube, dass dagegen ein Kraut gewachsen ist. Mit Appellen, Wut und Straßendemos lässt sich der digitale Geist ja nicht zurück in die Flasche drücken…
Simon Jenkins, einer der bekanntesten Kolumnisten des Guardian, schrieb, die über die Zeitung bekannt gemachten Enthüllungen Snowdens zeigten nicht bloß, wie dreist Staatsmacht schnüffelt, sondern vor allem, wie diejenigen, die das in ihrem Auftrag tun, jede demokratische Kontrolle missachten und lächerlich machen. „Es war nicht der Umfang der NSA-Überwachung, die Snowden zur Flucht veranlasste. Es war das Erlebnis, wie sein Boss dazu stundenlang den Kongress anlog.“ Er, Jenkins, zögere, historische Vergleiche zu ziehen, „doch ich frage mich, wie jene, die heute den Überwachungsstaat leiten – und ihre Beschwichtiger –, sich in den totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts verhalten hätten.“ Nun erliegen wir doch noch der Verführung geschichtlicher Parallelen. Schade, aber bei diesem Einsatz vielleicht unvermeidlich.