Der Fall Mollath – ein bayerischer Justizalbtraum

„Experten kennen 99 Stellungen, aber kein einziges Mädchen“, hatte Dieter Hallervorden vor Jahren einmal im Radio von sich gegeben. Das klingt lustig, ist es aber nicht, wenn derartige Gutachter im Strafprozess auftauchen und rein zufällig und mit fraglichen Methoden gerade das herausfinden, was die Richter und Staatsanwälte oder ein Filz aus Politik und Wirtschaft als Ergebnis herbeisehnen. Dann wird’s gefährlich, und Gustl Mollath, der frühere Geschäftsmann, der 2006 vom Landgericht Nürnberg-Fürth zwar freigesprochen, aber wegen angeblicher Gemeingefährlichkeit dauerhaft in die Psychiatrie in Bayreuth verbracht wurde, kann heute schon mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“, wie die Gutachter zu sagen pflegen, als Opfer von groß angelegten Machenschaften bezeichnet werden. Ein unglaublicher Justizskandal breitet sich vor uns aus, so dass der Begriff des „Rechts-Staates“ plötzlich eine völlig andere Bedeutung bekommt. Ende 2012 hatte Heribert Prantl in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung („Die Psychiatrie, der dunkle Ort des Rechts“) geschrieben: „Eine Justiz, die Menschen ohne gründlichste Prüfung einen Wahn angedichtet, ist selbst wahnsinnig.“
Der kritische Sozialwissenschaftler und Bürgerrechtler Richard Albrecht hat das Mollath-Urteil treffend als „fingierten Freispruch“ bezeichnet, „als Willkürentscheid eines (in doppelter Weise) nonkonstituierten landgerichtlichen Standgerichts. Dieses war handlungstechnisch aufs Wegsperren des Angeklagten aus und juristisch auf schwere Freiheitsberaubung.“ Auf den fingierten Freispruchcharakter verweist, so Albrecht, der letzte, dritte „Im Namen des Volkes“ gesprochene Urteilssatz: „Der Angeklagte trägt die Kosten des Verfahrens, die Kosten der Nebenklage und seine eigenen notwendigen Auslagen.“
Doch der Reihe nach. 2003 ist der Nürnberger Gustl Ferdinand Mollath von seiner damaligen Ehefrau wegen Misshandlungsvorwürfen verklagt worden; er soll sie geschlagen und gewürgt haben, außerdem habe er wild Autoreifen zerstochen. Im Gegenzug bezichtigt der frühere Geschäftsmann seine Frau, als Mitarbeiterin der HypoVereinsbank (HVB) in Nürnberg in Schwarzgeldschiebereien in die Schweiz verwickelt zu sein. Gegen sie, eine Reihe von Kollegen und 24 HVB-Kunden erstattet er Anzeige, auch bei der Nürnberger Steuerfahndung. Die Beamten verfallen aber ins komahafte Nichtstun, weil ein Richter (!) des Landgerichts den Steuerfahndern per Telefon zu verstehen gibt, dass Mollath total „verrückt“ sei. Otto Brixner, so heißt der zwischenzeitlich pensionierte Richter, ordnet dann zwei Jahre später (2006) die Zwangspsychiatrisierung Mollaths an. Auf das Telefonat angesprochen, kann sich Brixner natürlich nicht mehr erinnern. Lang, lang ist’s her …
Mit einer Anzeige bei den Nürnberger Steuerfahndern lässt es Mollath aber nicht beruhen. In diversen Petitionen, Anklagen und Briefen an den bayerischen Ministerpräsidenten und an das Bundeskanzleramt weist Mollath auf die Geldwäsche hin, in die seine Ex-Frau Petra und ihr Arbeitgeber, die HypoVereinsbank, verwickelt seien. Alles vergebens, denn einem „Verrückten“ kann man doch nicht trauen. Zumal er völlig starrköpfig und uneinsichtig ist, denn er bestreitet bis heute, seine Frau misshandelt zu haben. Alle Hinweise, die Mollath entlasten, werden geflissentlich unterdrückt. Es wird rechtswidrig völlig einseitig ermittelt.
So hat ein früherer Freund des Ehepaares, der Zahnarzt Eduard Braun, 2011 an Eides Statt erklärt, dass Frau Mollath ihm gegenüber gedroht habe: „Wenn Gustl meine Bank und mich anzeigt, mach‘ ich ihn fertig.“ Die Staatsanwaltschaft kehrt diese Aussage unter den Tisch, und es geht zu wie in einer Bananenrepublik. Statt jetzt endlich richtig zu ermitteln und ein Wiederaufnahmeverfahren zu beantragen, erhält der Zahnarzt Braun, sozusagen als Retourkutsche, aufgrund seiner Aussage, die den Behörden überhaupt nicht in den Kram passt, eine Zahlungsaufforderung über 60 Euro. Die Begründung lautet, Braun habe ein Wiederaufnahmeverfahren beantragt, sei dazu aber gar nicht berechtigt gewesen. „Der Antragsteller“, heißt es im Beschluss des Landgerichts Regensburg, „hat die durch seinen Antrag verursachten Kosten zu tragen.“
Auch eine 106-seitige Verteidigungsschrift Mollaths, die er vor fast zehn Jahren im Zusammenhang mit der Anzeige gegen seine Frau angefertigt hat, wird im gesamten Verfahren bei Justiz und den Steuerbehörden stets als „wirres Konvolut“ eines Wahnsinnigen abgetan und einfach ignoriert. Es erinnert schon ein wenig an ein Inquisitionsverfahren, wenn Richter Brixner im Verfahren den Angeklagten mehrfach anschreit und jedes Wort zu den Anschuldigungen gegen seine Frau verbietet.
ARD-Recherchen ergaben, dass Brixner mit einem Ex-Manager der HVB bekannt ist, der heute – welch ein Zufall in der Justizgeschichte! – mit Petra Mollath verheiratet ist und schon 2002 ihr Geliebter gewesen sein soll. Mollaths Rechtsanwalt Strate sieht in dem Verhalten von Brixner eine mehrfache Rechtsbeugung, die heute mit dem Fall befasste Oberstaatsanwaltschaft teilt diese Einschätzung jedoch nicht. Für sie wurden lediglich „einige prozessuale Normen nicht ganz richtig beachtet“. Eine Krähe hackt eben der anderen kein Auge aus.
Inzwischen haben sich die Vorwürfe Mollaths bestätigt. Frau Mollath hat offenbar mehrfach Schwarzgeld solventer Kunden in die Schweiz geschafft, dort bei einer Bank eingezahlt und später auf Konten eines anderen Bankhauses umgebucht. Millionensummen werden so gewaschen. Das ist ja in Bayern, in einem Eldorado für Steuerbetrüger, ein banales Kavaliersdelikt, wie der aktuelle Fall des Wurstfabrikanten, Schwarzgeldbunkerers und Gutmenschen Ulrich Hoeneß schon ausreichend bewiesen hat. Und der Fall zeigt auch, dass es für die Betrüger dennoch immer ein bisschen schlecht ist, wenn das dumme Volk etwas davon mitbekommt.
Gustl Mollath ist lange sieben Jahre weggesperrt gewesen und ist jetzt frei, aber die Zeit, die bekanntlich ja alle Wunden heilt, hat nur für die wirklich Schuldigen gute Arbeit getan. Denn die HBV-Verbrechen sind mittlerweile allesamt verjährt, so dass niemand mehr eine Strafe zu befürchten hat. Auch eine Verurteilung von Richter Brixner wegen Rechtsbeugung ist nicht mehr möglich, weil auch diese Taten verjährt sind. Ende gut, alles gut?
Mitnichten. „Die Zeit mag Wunden heilen, aber sie ist eine miserable Kosmetikerin“, meinte schon Mark Twain. Justizministerin Beate Merk (CSU) eiert nach wie vor herum, beteuert immer und immer wieder, in der Sache seien keine Fehler unterlaufen, und sie sähe auch keine Versäumnisse. Was Mollaths Zwangspsychiatrisierung betrifft, verweist sie gern und gebetsmühlenartig auf die „Befunde“ dreier „Koryphäen“, die bei Mollath eine psychische Beeinträchtigung festgestellt hätten.
In der Psychologie nennt man eine solche Aussage „Autoritätsbeweis“, der immer dann angetreten wird, wenn man sich seiner Sache nicht sicher ist, seine eigenen Vorstellungen durchsetzen oder Unrecht vertuschen will. Dr. Klaus Leipziger, Chefarzt des Bezirksklinikums Bayreuth, auf den sich zurzeit die öffentliche Kritik fokussiert hat, bescheinigte als Sachverständiger Mollath eine wahnhafte Paranoia, ohne den Betroffenen persönlich untersucht zu haben. Allein das ist ein schwerwiegender Verstoß gegen alle Regeln des Gutachterwesens – was dem Gericht bekannt war.
Auch aus rein medizinischen Gründen waren Leipzigers Feststellungen offenbar eine groß angelegte Fehldiagnose. Das Vorliegen einer Psychose nach dem auch in Deutschland gültigen Diagnoseklassifikationssystem „ICD-10“ der Weltgesundheitsorganisation, wie Dr. med. Ralf Cüppers in der jungen welt vom 20. Juni 2013 schrieb, ist wie folgt definiert: „anhaltender kulturell unangemessener, bizarrer und völlig unrealistischer Wahn, wie der, das Wetter kontrollieren zu können oder mit Außerirdischen in Verbindung zu stehen“. Der Gutachter Leipziger, so der Mediziner weiter, habe Herrn Mollath unter Missbrauch seines Amtes und seiner Approbation als Arzt vorsätzlich Schaden zugefügt. Und Cüppers fügt richtig hinzu, dass es daher gar nicht des Beweises bedurft hätte, dass Schwarzgeldgeschäfte und Steuerdelikte Realität waren.
Zwei andere Gutachter hatten Mollath immerhin als nicht gemeingefährlich eingestuft. Der Gutachter Dr. Hans Simmerl vom Bezirkskrankenhaus Mainkofen und Friedrich Weinberger, Nervenarzt in Garmisch-Patenkirchen und Vorsitzender der Walter-von-Baeyer-Gesellschaft für Ethik in der Psychiatrie e. V., konnten keine Gemeingefährlichkeit diagnostizieren. „Noch nicht ansatzweise aber wurde in den Medien angesprochen, welche in der Psychiatrie selbst liegenden Faktoren zu den Skandalen beigetragen haben, von denen der Fall Mollath wohl nur einer ist“, sagte Friedrich Weinberger kürzlich in einem Interview.
Und der Psychiater Klemens Dieckhöfer reichte inzwischen Klage gegen die bayerische Justizministerin Merk wegen „Ehrabschneidung“ ein. Sie habe sein Gutachten im Mollath-Prozess als unwissenschaftlich abgetan und ihn dadurch in seiner Berufsehre verletzt. In dem Gutachten hatte Dieckhöfer 2012 die Diagnose, die zur Einweisung Mollaths in die Psychiatrie geführt hat, angezweifelt.
So ist es halt im Rechtsstaat – im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung ist alles möglich. Gutachten, die nicht ins Konzept des Gerichts passen, werden ignoriert und zurückgewiesen. Dafür wird immer wieder mit „Koryphäen“ des Fachs gedroht, wie es auch Frau Merk getan hat, was suggerieren soll, das ihr Urteil auf den neusten wissenschaftlichen Stand beruht und daher unanfechtbar ist. Das ist, schlicht und einfach formuliert, menschenverachtender Größenwahn.
An dieser Stelle muss nun ergänzt werden, dass der Sachverständige in der Bundesrepublik nach offizieller Lesart schon immer eine mater dolorosa gewesen ist: rosenumkränzt und rein. Die Volksseele wird durch Politik, Industrie und Werbung ja täglich angehalten, ihn ikonenhaft als einen ehrlichen und lauteren Menschen zu sehen, der sich nie irrt und auf Grund seines Fachwissens unvoreingenommen und selbstlos urteilt. Kaum jemand hat bisher erkannt, dass dies natürlich eine ganz feine und sinistere Methode der Machtsicherung ist, was uns die „Wirtschaftsweisen“ jedes Jahr in einer zirkusreifen Vorstellung vor Augen führen. Und weil die Bürger immer wieder von der Unabhängigkeit und Seriosität der Experten beeindruckt werden müssen, gibt es beispielsweise seit April 2011 sogar eine parteiübergreifende „Hochrangige Konsensgruppe Fachkräftebedarf und Zuwanderung“, die sich angeberisch selbst so nennt, um ihren „hochrangigen“ Ergebnissen a priori einen hohen Wert verleihen zu können. Aber ist es nicht so, dass sich, wer sich selbst erhöht, eigentlich anklagt?
Der Stoff also, aus dem dieses ganze Ammenmärchen vom unabhängigen Experten gemacht wurde, ist seit der Dreyfus-Affäre längst zerschlissen. Falsch- und Gefälligkeitsgutachter aller Couleur führen uns heute vor, dass das Sachverständigenwesen dabei ist, zu einem profitablen Politik- und Wirtschaftsgeschäft zu mutieren. Mitunter sogar nach dem Motto von Karl Kraus: „Die wahren Wahrheiten sind die, die man erfinden kann.“
Doch zurück zu Gustl Mollath. Unbedingt erwähnt werden muss noch, dass das Attest, das Petra Mollath seinerzeit zum „Beweis“ der vermeintlichen Übergriffe und einer „ernst zu nehmenden Erkrankung“ ihres Mannes vorlegte, nicht von der Ärztin stammte, die unterschrieben hatte, sondern von deren Sohn. Juristisch ist ein solches Dokument unbrauchbar, und doch wurde es im Verfahren gegen Mollath vom zuständigen Richter für bare Münze genommen. Jetzt ist es allerdings, wie durch ein rechtsstaatliches Wunder, der Grund dafür geworden, dass Mollath nun endlich sein Wiederaufnahmeverfahren bekommt. Zwar an den Haaren herbeigezogen, aber immerhin. Andere, viel schwerwiegendere Gründe für ein Wiederaufnahmeverfahren hätten mit einer einzigartigen Leichtigkeit genannt werden können.
Die Sache entwickelte sich in aller Dramatik so: Die Staatsanwaltschaft Regensburg hatte nun endlich von Ministerin Merk die Weisung erhalten, ein Wiederaufnahmeverfahren einzuleiten. Das war schnell getan, denn die Sachlage war ziemlich klar. Im ersten Entwurf wurden schwere vorsätzliche Rechtsbeugungen des Vorsitzenden Richters aufgezählt, nach einigen Berichten waren es fünf (!); Tatsachen, die offensichtlich auf der Hand lagen und die man schon viel früher hätte ins Feld führen können, wenn das politisch gewollt gewesen wäre. Wollte man aber nicht, so dass Frau Merk natürlich der erste Entwurf der Behörde außerordentlich missfiel, vermutet man. Rechtsbeugungen im Freistaat gibt es nicht und hat es nicht geben. Punkt. Der Antrag wurde reduziert und reduziert, bis dieser Notnagel eines nicht beweisfähigen Dokuments gefunden wurde, um vor den Bundestagswahlen den Fall Mollath entschärfen zu können, ohne das eigene Gesicht allzu sehr zu verlieren.
Das sind alles schwerwiegende Hinweise, dass es die viel beschworene Unabhängigkeit der Justiz nur in der Theorie gibt. Was die bayerischen Verhältnisse betrifft, hat der Publizist und Jurist Wilhelm Schlötterer am 5. August im ND-Interview gesagt: „Die Staatsanwälte sind weisungsabhängig, aber auch in ihrer Beförderung abhängig vom Justizministerium. Die Richter sind zwar weisungsunabhängig, aber ihre Beförderung hängt genauso vom Justizministerium ab. Was bedeutet, dass das Verhalten eines Richters durchaus seine Beförderung beeinflussen kann.“
Wie der schon zitierte Richard Albrecht herausfand, hat erstmalig in der gut 60-jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland im Juli 2010 eine Landesregierung, nämlich die von Nordrhein-Westfalen, öffentlich erklärt, dass „die Justiz” keine unabhängige Staatsgewalt ist: „Als einzige der drei Staatsgewalten ist die Justiz nicht organisatorisch unabhängig, sondern wird von der Exekutive verwaltet, deren Einflussnahme auf die Justiz von erheblicher Bedeutung ist.” So steht’s geschrieben im Koalitionsvertrag zwischen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen, der programmatisch „Gemeinsam neue Wege gehen“ heißt.
Ralf Wurzbacher hat in der jungen welt vom 13. Juni 2013 die Sache so auf den Punkt gebracht: „Wo Banker mit Richtern kungeln, die mit Regierenden auf du und du sind, die sich wiederum nur in der High-Society wirklich heimisch fühlen, sind Fälle wie der von Gustl Ferdinand Mollath, bei dem die Netzwerkerei der Reichen und Mächtigen ans Licht kommt, ein lästiger Betriebsunfall. Aber auch solche Skandale erledigen sich irgendwann, zumal dann, wenn die Medien die tieferen Ursachen und Mechanismen nicht hinterfragen.“
Ohne Medien und ohne den Druck einer breiten Öffentlichkeit, einschließlich der Opposition im bayerischen Landtag, säße Mollath mit Sicherheit noch immer in der Psychiatrie und wäre dort irgendwann eines natürlichen Todes gestorben. Denn eine Justiz handelt niemals selbstständig, auch wenn sie noch so großes Unrecht erkennt, und Schicksale von Menschen interessieren nicht. Die Justiz hat keine Gefühle, und sie hat immer Recht. Und das ist die eigentliche Katastrophe im viel beschworenen System von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, das immer mehr abhanden kommt.
Die Verantwortlichen haben in der Tat bisher nichts unternommen, um Licht in das Dunkel zu bringen. Ein Schweige-, Lügen- und Vertuschungskartell hat alles nur Mögliche getan, um sich vor der Öffentlichkeit reinzuwaschen, und das, wie in Rechtskreisen immer sehr beliebt, mit teilweise abenteuerlichen juristischen Konstruktionen. Mollaths Verteidiger Gerhard Strate meinte dazu, dass es hier lediglich „um die Selbstverteidigung der Justiz“ ginge. „Das Gericht versucht mit Zähnen und Klauen, die Rechtskraft eines Unrechtsurteils aufrechtzuerhalten.“
Die Justiz verschanzt sich oft und ausgiebig hinter wohlklingenden, schönen juristischen Sätzen. „Wir können doch Verfahren nicht immer wieder neu aufgreifen, selbst wenn sie fehlerhaft waren. Rechtskraft und Rechtssicherheit haben immer Vorrang vor der Einzelfallgerechtigkeit“, jammert sie unisono, so auch im Urteil der 7. Strafkammer des Regensburger Landgerichts vom Juli 2013: Ja, im Mollath-Verfahren wurden Fehler gemacht, aber die wiegen nicht schwer genug, um den „Grundsatz der Rechtssicherheit“ zugunsten der Einzelfallgerechtigkeit zu brechen…
Bei Lichte besehen heißt das doch, dass man schon einmal fünf oder zehn Jahre oder gar lebenslänglich unschuldig im Gefängnis oder in der Psychiatrie schmoren kann, weil das die Grundsätze unseres Rechtsstaates so verlangen. Eigentlich müsste es doch umgekehrt sein, dass Gerechtigkeit in jedem einzelnen Fall zu einer hohen Rechtssicherheit führt.
Der Kriminologe Frank Arnau hatte schon 1967 in seinem Buch „Die Straf-Unrechtspflege in der Bundesrepublik“ die Strafjustiz angeklagt, die lieber schuldlos verurteilte Menschen hinter Gittern sitzen lässt, als in einem neuen Gerichtsverfahren durch ihren Freispruch Staatsanwälte, Richter und somit die Strafjustiz selbst der Irrtumsanfälligkeit zu überführen. Ein weit verbreitetes Attribut zahlreicher deutscher öffentlicher Ankläger und Strafrichter sei eine „megalomanische Überheblichkeit“. Er bewies dokumentarisch, dass unter rechtsstaatlichem Justizgebaren mittels formal-juristischer Absicherungen elementare Menschenrechte fortgesetzt und ungestraft verletzt werden. Die Ursache dafür bringt Frank Arnau so auf den Punkt: „Der obrigkeitlichen Autorität leistet eine gehorsame Masse blind Gefolgschaft.“
Das hat auch der Fall Mollath bewiesen, der zudem dem Gerichtsreporter Gerhard Mauz Recht gibt, der von einem bedrückenden Zustand unserer Justiz spricht. Sie wird immer häufiger ein Hilfsinstrument der politisch Mächtigen und hat das Volk, in dessen Namen sie richtet, schon längst aus den Augen verloren. Und die Gerechtigkeit auch.
Einen Termin für das Wiederaufnahmeverfahren gibt es noch nicht. Zuviel Optimismus ist, was dessen Ausgang betrifft, nicht angesagt. Das Vertuschen wird weitergehen. Der französische Schriftsteller Anatole France hatte in seiner berühmten und höchst aktuellen Erzählung „Die Affäre Crainquebille“ vor 112 Jahren den Fall Mollath genial vorausgesehen: „Wer den richterlichen Entscheidungen die methodische Tatsachenerforschung zugrunde legen wollte, wäre ein gefährlicher Sophist und ein heimtückischer Feind der bürgerlichen und militärischen Rechtspflege.“