Heimerziehung in der (alten) Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik - und was wir daraus lernen können. Eine Textcollage

Aus: Kappeler 1971: 151ff.:

In der Bundesrepublik ist das Disziplinarsystem am weitesten verbreitet. Fast alle Fürsorge-Erziehungsheime fallen unter diese Kategorie. Das Disziplinarsystem zeichnet sich durch eine offen autoritäre Struktur aus, die auch im Erziehungsstil des einzelnen Erziehers dominiert. (Exemplarische Beispiele dafür und genaue Berichte können der großen Zahl der Broschüren und kleinen Publikationen der APO entnommen werden, die während der Heimkampagne seit 1968 entstanden sind.) […] Starre festgelegte Ordnungsprinzipien und ein hierarchisch gegliedertes Beziehungssystem, angefangen bei den Kindern und Jugendlichen in den Gruppen bis hin zum Direktor, bestimmen den Rahmen des Heimlebens und alle zwischenmenschlichen Beziehungen. In der Regel handelt es sich um geschlossene Einrichtungen. In den totalen Zwangsgruppen - hier ist den Zöglingen die Entscheidung über Eintritt und Verlassen sowie die Selbstbestimmung über den Spielraum im Inneren der Einrichtung genommen - führt der blinde, nicht bewusst geleitete Gruppenprozess automatisch zur Etablierung der berühmten ‚Hackordnung’, das heißt zur Durchsetzung des Rechts des Stärkeren. Die Gruppenentwicklung erzeugt regelmäßig die Herausdifferenzierung von Sündenböcken und anderen problematischen Rollen (z.B. Prügelknaben, Versager. Gruppenclown, Dienstmädchen, Hilfs-Sheriff etc.) mit stellvertretenden Entlastungsfunktionen. Die in dieser Gruppenstruktur verstärkt entstehenden Aggressionen können aufgrund des hierarchischen Aufbaus nicht an die autoritäre Leitung, durch deren Führungsstil die Aggressionen zum Teil provoziert werden, zurückgegeben werden. Zwangsläufig breiten sich diese Aggressionen auf der horizontalen Ebene unter den Zöglingen aus, mit einer die Gruppenatmosphäre vergiftenden Intensität. Ständige Gereiztheit der Gruppenmitglieder, feindselige Haltung gegeneinander, ausgeprägte Unlustgefühle bei der Mehrheit der Gruppenmitglieder, depressive Verstimmungen sind die äußeren Symptome dieser Situation. […] Nur selten gelingt es den Jugendlichen, aus dem Zwang zur horizontalen Aggressionsverteilung auszubrechen. Wenn der Druck unerträglich wird (wiederum vor allem in geschlossenen Heimen), kann es geschehen, dass es einem oder mehreren Zöglingen gelingt, die Aggressionen zu organisieren beziehungsweise zu kanalisieren und sie dort zu lokalisieren, wo sie nach dem Empfinden der Eingeschlossenen entstehen. Vor einiger Zeit wurde zum Beispiel in einem Heim des Landschaftsverbands-Rheinland ein Erzieher erschlagen; zuvor war es in diesem Heim schon zum Totschlag eines Jungen durch andere Zöglinge gekommen. Immer wieder ist in Heim- und Gefängnisberichten zu lesen, dass Erzieher sich besonders aggressiv gegenüber Jugendlichen verhalten haben, die sich an Aufständen und Meutereien beteiligen usw. Jahrelanger praktischer Umgang mit diesen Jugendlichen bewies, dass sie nicht einfach von sich aus ein größeres ‚hochexplosives Aggressionspotential’ hatten, sondern eher besonders sensibel in solchen Gruppensituationen reagierten, in denen sich ja nur konsequent die Struktur der ganzen Einrichtung widerspiegelte. Den „Rädelsführern“ wird dann von den Jugendgerichten der Prozess gemacht und sie werden verurteilt, weil hier ein Exempel statuiert werden muss. Sie werden zu Sündenböcken –-stellvertretend für das unmenschliche System, das es eigentlich selber anzuklagen gelte. Der Schluss-Satz eines Heimberichts über einen solchen Vorfall lautet: ‚Das Heim verzichtete auf die Bestrafung des Jugendlichen und gab den Vorfall an die Staatsanwaltschaft weiter’. In vielen Berichten von Erziehern aus der Heimpraxis werden diese völlig blind verlaufenden dynamischen Vorgänge in Erziehungsgruppen beschrieben, die zum Teil zu massiver Selbstjustiz und regelrechten Pogromen führten, an denen die Erzieher mehr oder weniger bewusst beteiligt waren.

 

Goffmans Analyse Totaler Institutionen

 

Aus: Kappeler 2008b: 68-74[1]:

Ein zentraler Punkt der Kritik der Achtundsechziger-Bewegung an den gesellschaftlichen Verhältnissen in der Bundesrepublik waren die „Totalen Institutionen“. Mit diesem Begriff wurden Anstalten bezeichnet, in denen Menschen, oft gegen ihren Willen, „untergebracht“ waren. Der Alltag dieser Menschen war weitgehend fremdbestimmt. Ihre mit repressiven Methoden durchgeführte „Behandlung“ lief auf eine umfassende Entmündigung hinaus. Der Begriff „Totale Institution“ stammt von Erving Goffman, der auf der Grundlage empirischer Forschung bereits 1961 sein Buch „Asylum“ in den USA veröffentlicht hatte. Die deutsche Übersetzung erschien 1972. Mit der englischsprachigen Fassung arbeitete im Wintersemester 1968/69 und im Sommersemester 1969 ein Seminar an der Frankfurter Universität unter Leitung von Jürgen Habermas mit dem Titel „Soziologie der Jugendkriminalität und Totale Institutionen“. Goffmans Analyse des Anstaltsystems wurde im Handumdrehen zu einem Basistext jener Gruppen der außerparlamentarischen Opposition, die sich in der Sozialen Arbeit, im Gesundheitswesen und im System der Strafverfolgung und des Strafvollzugs kritisch engagierten. Goffmans „Asyle – Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen“ (1972) ist für das Verständnis der durch die von der Heimkampagne (1968 bis 1978) in Theorie und Praxis entwickelten Kritik des Systems der Heimerziehung in der Bundesrepublik ein Schlüsseltext. Aus diesem Grund will ich hier die Hauptbefunde Goffmans in einer Zusammenfassung zitieren:

– Eine Totale Institution lässt sich als Wohn- und Arbeitsstätte einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen definieren, die für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen.

– Ihr allumfassender oder totaler Charakter wird symbolisiert durch Beschränkungen des sozialen Verkehrs mit der Außenwelt sowie der Freizügigkeit, die häufig direkt in die dingliche Anlage eingebaut sind, wie verschlossene Tore, hohe Mauern, Stacheldraht, Felsen, Wasser, Wälder oder Moore.

– Alle Angelegenheiten des Lebens finden an ein und derselben Stelle unter ein und derselben Autorität statt.

– Die Mitglieder der Institution führen alle Phasen ihrer täglichen Arbeit in unmittelbarer Gesellschaft einer großen Gruppe von Schicksalsgenossen aus, wobei allen die gleiche Behandlung zuteil wird und alle die gleiche Tätigkeit gemeinsam verrichten müssen.

– Alle Phasen des Arbeitstags sind exakt geplant, eine geht zu einem vorher bestimmten Zeitpunkt in die nächste über, und die ganze Folge der Tätigkeiten wird von oben durch ein System expliziter formaler Regeln und durch einen Stab von Funktionären vorgeschrieben.

– Die verschiedenen erzwungenen Tätigkeiten werden in einem einzigen rationalen Plan vereinigt, der angeblich dazu dient, die offiziellen Ziele der Institution zu erreichen.

– Die Handhabung einer Reihe von menschlichen Bedürfnissen durch die bürokratische Organisation ganzer Gruppen von Menschen […] ist das zentrale Faktum Totaler Institutionen.

– Wenn Menschen in Blöcken bewegt werden, können sie durch Personal beaufsichtigt werden, dessen Hauptaufgabe nicht die Führung oder periodische Inspektion ist, sondern Überwachung - wobei darauf geachtet wird, dass jeder das tut, was ihm klar und deutlich befohlen wurde, und zwar unter Bedingungen, unter denen ein Verstoß des Einzelnen sich deutlich gegen die sichtbare, jederzeit überprüfbare Willfährigkeit der Anderen abhebt.

– In Totalen Institutionen besteht eine fundamentale Trennung zwischen einer großen, gemanagten Gruppe, treffend „Insassen“ genannt, auf der einen Seite, und dem weniger zahlreichen Aufsichtspersonal auf der anderen. Für den Insassen gilt, dass er in der Institution lebt und beschränkten Kontakt mit der Außenwelt hat. Das Personal arbeitet häufig auf der Basis des Acht-Stunden-Tags und ist sozial in die Außenwelt integriert.

– Jede der beiden Gruppen sieht die andere durch die Brille enger feindseliger Stereotypien. Das Personal hält die Insassen häufig für verbittert, verschlossen und wenig vertrauenswürdig, während die Insassen den Stab oft als herablassend, hochmütig und niederträchtig ansehen. Das Personal hält sich für überlegen und glaubt das Recht auf seiner Seite, während die Insassen sich – zumindest in gewissem Sinne – unterlegen, schwach, tadelnswert und schuldig fühlen.

– Die soziale Mobilität zwischen den beiden Schichten ist sehr gering. In der Regel besteht eine große und oft formell vorgeschriebene soziale Distanz.

– Obgleich ein gewisses Maß an Kommunikation zwischen den Insassen und dem Aufsichtspersonal nötig ist, haben die Wärter u.a. die Funktion, die Kommunikation zwischen den Insassen und den höheren Ebenen des Stabes zu kontrollieren.

– Wie das Gespräch über die Grenze, so ist auch die Weitergabe von Informationen, besonders von Informationen über die Pläne des Stabes für die Insassen, beschränkt. Es ist typisch, dass der Insasse von den Entscheidungen, die sein Geschick betreffen, keine Kenntnis erhält.

– In jedem Fall gibt dieses Vorenthalten von Informationen dem Stab besondere Voraussetzungen für die Distanz von den und die Kontrolle über die Insassen.

– Die Feststellung, dass der ganze Tagesablauf von Insassen Totaler Institutionen vorgeplant wird, bedeutet auch, dass ihre wesentlichen Bedürfnisse vorgeplant werden müssen.

– Das Individuum […] wird durch das Arbeitssystem der Totalen Institution demoralisiert.

– Zwischen der Totalen Institution und der fundamentalen Arbeits-Lohn-Struktur unserer Gesellschaft besteht ein Widerspruch. Auch mit einem weiteren Kernstück der Gesellschaft, nämlich der Familie, sind Totale Institutionen unvereinbar.

– Totale Institutionen […] sind Treibhäuser, in denen unsere Gesellschaft versucht, den Charakter von Menschen zu verändern. Jede dieser Anstalten ist ein natürliches Experiment, welches beweist, was mit dem Ich des Menschen angestellt werden kann.

– Die volle Bedeutung, die das „Drinnensein“ für den Insassen hat, existiert für ihn nicht unabhängig von der besonderen Bedeutung des „Hinauskommens“. In diesem Sinn streben Totale Institutionen nicht wirklich den kulturellen Sieg an. Sie schaffen und unterhalten eine Spannung besonderer Art zwischen der heimischen Umgebung und der Welt der Institution und benutzen diese dauernde Spannung als strategischen Hebel zur Menschenführung.

– Der Neuling kommt mit einem bestimmten Bild von sich selbst in die Anstalt. Beim Eintritt wird er sofort der Hilfe beraubt, die seine früheren sozialen Bedingungen ihm boten. Er durchläuft eine Reihe von Erniedrigungen, Degradierungen, Demütigungen und Entwürdigungen seines Ichs. Sein Ich wird systematisch, wenn auch häufig unbeabsichtigt, gedemütigt. Es treten einige radikale Veränderungen seiner moralischen Laufbahn ein. Die Prozesse, durch die das Ich eines Menschen gedemütigt wird, sind in Totalen Institutionen ziemlich gleich.

– Die Zugehörigkeit zu Totalen Institutionen unterbricht die Rollenplanung, denn die Trennung des Insassen von der weiteren Welt dauert rund um die Uhr an und kann jahrelang dauern. Daher tritt ein Rollenverlust ein. In vielen Totalen Institutionen wird das Privileg, Besuch zu empfangen oder außerhalb der Anstalt Besuche zu machen, anfangs völlig vorenthalten, wodurch ein tiefer Bruch mit den früheren Rollen und eine Anerkennung des Rollenverlustes sichergestellt wird.

– Schon der Eintritt in die Totale Institution bringt Verluste und Demütigungen mit sich. Es gibt gewisse Aufnahmeprozeduren, wie die Aufnahme des Lebenslaufs, fotografieren, wiegen und messen, Abnehmen von Fingerabdrücken, Leibesvisitation, Erfassung der persönlichen Habseligkeiten zur Einlagerung, Entkleiden, Baden, Desinfizieren, Haare schneiden, Ausgabe von Anstaltskleidung, Einweisung in die Hausordnung, Zuweisung von Schlafplätzen.

– Diese Aufnahmeprozeduren (die Goffman als „Programmierung“ bezeichnet) sollen den Neuankömmling zu einem Objekt formen, das in die Verwaltungsmaschinerie der Anstalt eingefüttert und reibungslos durch Routinemaßnahmen gehandhabt werden kann.

– Aufnahmeprozeduren und Gehorsamsproben werden mitunter zu einer Art Initiation verfeinert, die „Willkommen“ genannt wird und bei der das Personal oder die Insassen, oder auch beide, sich alle Mühe geben, um dem Neuling einen klaren Begriff von seiner Zwangslage zu geben.

– Als eine diffizile Methode der Demütigung hat Goffman „die Zerstörung des formellen Verhältnisses zwischen dem handelnden Individuum und seinen Handlungen“ festgestellt: Jemand ruft beim Insassen eine Abwehrreaktion hervor und richtet dann seinen nächsten Angriff gerade gegen diese Reaktion. Die Schutzreaktion des Individuums gegenüber einem Angriff auf sein Selbst bricht zusammen angesichts der Tatsache, dass es sich nicht, wie gewohnt, dadurch zur Wehr setzen kann, dass es sich aus der demütigenden Situation entfernt. Die in Totalen Institutionen herrschenden Ehrerbietungs-Patterns illustrieren diesen Rückkoppelungseffekt. In der bürgerlichen Gesellschaft kann der Einzelne gegenüber Umständen und Anordnungen, die sein Selbstbild bedrohen, durch bestimmte reaktive Ausdrucksformen sein Gesicht wahren: Hierzu gehören Verstimmung, das Unterlassen der üblichen Ehrfurchtsbezeugungen, beiseite gesprochene Schmähungen oder ein Anflug von Verachtung, Ironie oder Spott. Dieses, das selbstschützende Ausdrucksverhalten gegenüber demütigenden Forderungen, tritt auch in Totalen Institutionen auf, aber das Personal kann die Insassen für solche Handlungen direkt bestrafen und Verstocktheit oder Auflehnung ausdrücklich zum Anlass weiterer Bestrafung nehmen.

– In einer Totalen Institution werden die Aktivitäten eines Menschen bis ins Kleinste vom Personal reguliert und beurteilt; das Leben des Insassen wird dauernd durch sanktionierende Interaktionen von oben unterbrochen, besonders während der Anfangsphase seines Aufenthalts, noch bevor der Insasse die Vorschriften gedankenlos akzeptiert. Jede Bestimmung raubt dem Einzelnen eine Möglichkeit, seine Bedürfnisse und Ziele nach seinen persönlichen Gegebenheiten auszugleichen, und setzt sein Verhalten weiteren Sanktionen aus. Die Autonomie des Handelns selbst wird verletzt.[i][ii]

 

Kritik der Heimerziehung West als Totale Institution

 

Wie genau Goffmans Analyse der Totalen Institution auf die Heimerziehung in der Bundesrepublik zutraf wird an einem Rückblick deutlich, den Peter Wiedemann 1989 auf einem Symposium am Sozialpädagogischen Institut der Universität Tübingen vortrug. Er war im Januar 1969 zusammen mit Martin Bonhoeffer vom Berliner Jugendsenator nach Berlin geholt worden. Peter Widemann 1989 im Rückblick auf 1969:

„Wir erlebten dramatische Situationen: Viele hunderte von Kindern und Jugendlichen liefen aus den Heimen weg, gingen auf ‚Trebe’, wie es in Berlin heißt, fanden in Privatwohnungen zum Teil sehr fragwürdigen Unterschlupf. Es entstanden die zwei großen Jugendwohnkollektive (Georg-von-Rauch-Haus und Thomas-Weissbecker-Haus - M.K.) berühmt, berüchtigt, auch politisch wegweisend, überwiegend denunziert. […] Zu den Senatsheimen: Ich erinnere mich an große Festungen, an Mauern und Stacheldraht, Gitter, die regelmäßig nachzusehen waren, ob sie noch haltbar sind, in allen Heimen gab es Pförtner, die ohne Nachweis keinen rein oder raus ließen, da waren die Zellen, ‚Bunker’, die zum Teil keine Toiletten hatten, die Kinder und Jugendlichen mussten sich durch Klingeln bemerkbar machen. Manche Heime waren in Baracken untergebracht, schlimmer noch empfanden wir aber diesen riesigen Neubau des Hauptkinderheims, wo mehr als vierhundert Kinder, auch Säuglinge untergebracht waren. Ein klinischer Bau, ein Labyrinth, wo man nicht so recht den Ein- und Ausgang fand, wo Sachbeschädigungen, Bambulen der Kinder keine seltenen Ereignisse waren. […] Fast überall waren die Bauten und Räume in einem furchtbaren Zustand […]. Es gab kaum Wohneinheiten, die Versorgung war weitestgehend zentralisiert. Ich erinnere mich an die antiquierten Werkstätten, den Zwanzig-Pfennig-Stundenlohn, an die Macht der Diagnostiker und Gutachter, die tatsächlich glaubten, man könne die Kinder in eingesperrter Situation authentisch erleben, ihnen näher kommen. Ich sehe vor mir unsichere, devote, distanzierte Erzieher im Büro sitzen, die vielen Schlüssel, das Auf- und Zusperren, die Dienstbücher, Wäschebücher, Entweichungsbücher, die Bücher für ‚besondere Vorkommnisse’. Es gab auch blau-grüne Anstaltskleidung. Exemplarisch für dieses Zurichten in den Heimen waren Strafen wie Einsperren, Lohnentzug, Taschengeldentzug, Ausgangssperre, zwangsweises Haarschneiden, Bartschneiden, auch aus hygienischen Gründen. Der morgendliche Appell. Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre nahmen die Sachbeschädigungen in den Heimen und tätliche Angriffen der Jugendlichen und Kinder auf Erwachsene zu. Ein furchtbares Kapitel waren die zwangsweisen Untersuchungen der entwichenen Mädchen auf Geschlechtskrankheiten; im Hauptpflegeheim stürzten sich verzweifelte Mädchen aus dem Fenster. Unsere Arbeitsbelastung war unbeschreiblich“ (Wiedemann in Frommann/Becker 1996: 119f.).

 

Mit dem Blick auf die Kinder, die in diesen Heimen leben mussten, schreibt Martin Bonhoeffer 1973:

„Was bedeutet es für ein Kind, wenn es erfährt:

– Meine Eltern geben mich auf;

– Meine Eltern betreiben, dass ich ins Heim komme;

– Meine Eltern sind gleichgültig oder zu schwach, das zu verhindern?

Hier geht die Welt kaputt. Worauf kann ein Kind sich noch verlassen nach dieser Erfahrung? Mit Urmisstrauen geht es ins Heim, wo ihm in der Regel mit Misstrauen begegnet wird, wo

– fremde Erwachsene beanspruchen, alles zu erfahren über mich und alles für mich zu regeln,

– fremde Erwachsene bestenfalls sich anmaßen, mich lieben zu wollen.

Kein Kind kann sich dem entziehen und verrät zugleich sich selbst und alles, was ihm wert ist. Was folgt nach diesem Anfang? Es folgt das hundertfache hoffungsvoll-hoffnungslose Knüpfen und Abreißen aller menschlichen Beziehungen. Die Erzieher wechseln […] Auch die anderen Kinder kommen und gehen“ (Bonhoeffer 1973).

 

Das ist ein Zitat aus einer Rede, die Bonhoeffer aus Anlass des ihm verliehenen Georg-Michael Pfaff-Preises hielt.[iii] In der Rede sagt Bonhoeffer weiter: „Erzieherwechsel - Kameradenwechsel - Gruppenwechsel - Wechsel von Heim zu Heim - vom Heim zur Pflegestelle und wieder ins Heim -, aus heiterem oder weniger heiterem Himmel. Die Entscheidung fällt in fremden Büros. Wer noch nicht schwierig ist, der wird es. Ja, wer gesund ist und sich einen Rest eigener Person bewahrt hat, muss böse werden. Dann kommt es zur sogenannten Verlegung, schon um der braven Kinder willen. „Die Verlegungsangst“, so Bonhoeffer, „ist das letzte und latent wirksame Disziplinierungsmittel eines jeden Heims, gewollt, unbewusst oder ungewollt. Abschieben, bestenfalls in ein Spezialheim, zuvor noch in ein Beobachtungsheim und schließlich in die Endstationen mit Gittern. Die Selektion wird fachlich verbrämt mit dem Schwindel der sogenannten Heimdifferenzierung“ (ebd.).

 

Heimerziehung in der DDR

 

Nach der Maueröffnung ist auch die Jugendhilfe, die Heimerziehung in der DDR, einer kritischen Analyse unterzogen worden. Dabei hat sich herausgestellt, dass Goffmans Analyse der Totalen Institution ohne jede Einschränkung auch für die Heimerziehung in der DDR zutrifft und die von der Heimkampagne entwickelte Kritik in gleicher Radikalität für das System der öffentlichen Erziehung in der DDR nötig gewesen wäre (vgl. dazu Kappeler 2007 und Nolte/Reich 2007).

Die weitgehende Übereinstimmung der Heimerziehung in der bürgerlich-kapitalistischen Bundesrepublik Deutschland und der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik in den Jahrzehnten ihrer Parallel-Existenz lässt sich an den Einweisungsgründung, an der Organisationsstruktur der Heime und den in ihnen praktizierten Erziehungsmethoden zeigen.

 

„Schwererziehbare und Verwahrloste“

 

In den Einweisungsgründen spiegelt sich das Menschenbild der Institutionen und Personen, die die „Heimunterbringung“ eines Kindes oder Jugendlichen verfügen. Es ist das dominante Menschenbild der Gesellschaft, des Staates, dem sie dienen.

1975 erschien von dem Sowjetischen Pädagogen Alexander Kotschetow das Buch „Umerziehung Jugendlicher“, das in der DDR-Jugendhilfe stark rezipiert wurde. Als „Besonderheit, die das Verhalten der Schwererziehbaren charakterisiert“, bezeichnet er „ihre egoistische Lebenshaltung: Alles werten sie unter dem Gesichtspunkt, ob es ihnen Vorteile bringt oder nicht. Immer fragen sie, was für sie herauskommt, wenn sie eine Forderung der Eltern oder der Pädagogen erfüllen. Die Jagd nach Vergnügungen, die oft schädlich sind (Alkohol, Nikotin, Kartenspiel), wird in einem hohen Stadium der Schwererziehbarkeit zum hauptsächlichen Verhaltensantrieb. Das gilt bis zum Diebstahl und bis zum böswilligen Rowdytum“ (vgl. Kotschetow 1975).

 

Eine weitere „Besonderheit der Schwererziehbaren“ ist für Kotschetow der Widerstand, den sie erzieherischen Einwirkungen entgegensetzen. […] Wenn der Jugendliche dazu übergeht, den erzieherischen Einflüssen der Pädagogen bewussten Widerstand entgegen zu setzen, dann zeugt das davon, dass die Schwererziehbarkeit ein besonderes Stadium erreicht hat und dass schwere Fehler in der Erziehung gemacht worden sind“ (vgl. ebd.).

In den 1977 vom Institut für Jugendhilfe Ludwigsfelde herausgegebenen Unterrichtsmaterialien findet sich eine Definition der Begriffe „Schwererziehbarkeit und Verwahrlosung“: „Beim Tatbestand der Schwererziehbarkeit und Verwahrlosung lassen sich phänomenologisch in der Regel folgende Persönlichkeitsmerkmale und Besonderheiten gehäuft erfassen:

1. Unverbindlichkeit gegenüber Personen der Umwelt (fehlende Verpflichtungshaltung, keine echten Bindungen an Einzelpersonen oder Kollektive, Oberflächlichkeit im emotionalen Bereich, emotionale Verflachung).

2. Mangelhafte Übernahme bzw. Verinnerlichung (Interiorisation) moralisch-ethischer Wertnormen bis zum völligen Fehlen von Normenkenntnissen.

3. Bewusstes Negieren bekannter Normen im Zusammenhang mit dem eigenen Handeln (Egozentrismus, Unsachlichkeit, geringes Erleben der Relevanz bestimmter Normen).

4. Fehlende Zielgerichtetheit hinsichtlich der eigenen Lebensführung (Perspektivarmut, fehlende Idealbildungen, geringes Leistungsanspruchsniveau, Interessenarmut, geringes Durchhaltevermögen, schnelles Aufgeben bei Anforderungen).

5. Nachweis von asozialem bzw. kriminellem Verhalten (Diebstähle, Einbrüche, Herumtreiben, Weglaufen, Schulbummelei, Arbeitsverweigerung usw.) bei relativer Geringfügigkeit anderer Symptome (wie z.B. Bettnässen, Nägelkauen, Daumenlutschen, Tickerscheinungen, Stottern, Grimassieren usw.), wie wir sie typischerweise beim verhaltensgestörten Schüler finden werden.

6. Mehr oder weniger eindeutiger Bezug der Verhaltensauffälligkeit zu ungeordneten häuslichen Verhältnissen bzw. asozialem Milieu.

7. Intakte Verbalisierungsfähigkeit über die Ursache-Folge-Beziehungen zwischen Fehlverhalten und z.B. der Heimeinweisung (im Gegensatz zum verhaltensgestörten Schüler).

8. Fähigkeiten zur Übersteuerung des Fehlverhaltens und der Symptomatik bei entsprechender Interessiertheit […].

9. Relativ stabiles Selbstwerterleben (nur gelegentliches Erkennen bzw. Erleben der eigenen Untüchtigkeit, Fehlen jeglichen ‚Leidensdrucks’)“ (vgl. Linsener 1977).

 

Sein Fazit: „Diese Kinder gehören in Spezialheime der Jugendhilfe…“. Sie könnten „die Normen zwischenmenschlicher Beziehungen nicht in genügendem Maße einhalten“. Ihre „disziplinverletzenden Handlungen“ seien „durch ein mangelhaftes Verbindlichkeitserleben oder aber aufgrund fehlender Normenkenntnisse“ verursacht. Damit sei „der Tatbestand herabgesetzter Ansprechbarkeit für normalpädagogische Anforderungen und Einflüsse gegeben. Ein besonderer pädagogischer Aufwand und spezifische Erziehungsmaßnahmen, wie sie zum Beispiel in den Spezialheimen der Jugendhilfe erfolgen (zu denen auch die Jugendwerkhöfe gehörten - M.K.), werden im Interesse des Schülers und der Gesellschaft notwendig.“ Als Erziehungsziel für solchermaßen klassifizierte Kinder und Jugendliche sieht Linsener „die Erreichung einer Normverinnerlichung, wobei sowohl elementare Normen als auch moralisch-ethische und politisch-ideologische Normative gemeint sind“ (vgl. ähnliche Äußerungen auch bei Mannschatz 1952, 1979, 1984).

 

Prinzipien Totaler Institutionen in den Heimen beider Länder

 

In der Heimerziehung „Ost“ und der Heimerziehung „West“ stand die Einhaltung der „Heimordnung“ durch die Kinder und Jugendlichen gleichermaßen im Mittelpunkt des erzieherischen Geschehens. In der „Materialsammlung zur Heimerziehung“ des Instituts für Jugendhilfe Falkensee von 1984 wird den Aufgaben der Kinder und Jugendlichen bei der Realisierung der Heimordnung unter dem Titel „Arbeitserziehung als Bestandteil des Umerziehungsprozesses“ große Bedeutung zugemessen. „Im Rahmen der gesellschaftlich nützlichen Arbeit im Jugendhilfeheim“ nehme „die kollektive und individuelle Selbstbedienung“, wie diese Arbeit der Kinder und Jugendlichen zur Aufrechterhaltung der Binnenorganisation der Heime genannt wurde, einen großen Raum ein.

Der „erfolgreiche Umerziehungsprozess“ sei wesentlich davon abhängig, dass es dem Erzieherkollektiv gelinge, „bereits in den ersten Wochen und Monaten […] einen straff organisierten und geregelten Tagesablauf durchzusetzen“. Folgende Schwerpunkte müssten ständig auf der Tagesordnung stehen:

„– Durchsetzung und Sicherung einer festen Lebensordnung im Heim

– Gestaltung und Verschönerung der Gruppenobjekte und des Heimgeländes entsprechend der Konzeption

– Pflege und Werterhaltung aller im Heim befindlichen Einrichtungsgegenstände und der Räumlichkeiten“ (vgl. Materialien zur Heimerziehung 1984).

 

Genau die gleichen Prinzipien Totaler Institutionen wurden in der Heimerziehung der Bundesrepublik Deutschland mit großer Härte und Konsequenz angewendet, wie die zahlreichen Berichte ehemaliger Heimkinder und Fürsorgezöglinge zeigen und wie es die Kritik der Heimkampagne ans Licht gebracht hat. Goffmans Befund, dass das Leben der „Insassen“ in den Totalen Institutionen hauptsächlich von der Aufrechterhaltung der fremdbestimmten Binnenorganisation dieser Institutionen bestimmt wird, trifft für den Erziehungsalltag in den Heimen der Jugendhilfe beider deutscher Staaten in jeder Hinsicht zu. Der Unterschied ist nur wieder, dass in der DDR unter dem Titel „Gesellschaftlich nützliche Arbeit“ dieses Mittel der Zwangserziehung pädagogisch begründet und offen vertreten wird, wohingegen man in Veröffentlichungen zur Heimerziehung in der Bundesrepublik vergleichbare Texte nicht finden wird. Dieser „Mangel“ wird durch die vielen publizierten „Haus- und Heimordnungen“, um deren Durchsetzung und Einhaltung in den Heimen ein ständiger Kampf zwischen Kindern, Jugendlichen und dem pädagogischen Personal geführt wurde, ausgeglichen (vgl. dazu den einleitenden Text).

Totale Institutionen sind gewaltförmig organisiert. Ihre Struktur produziert im Inneren mit Notwendigkeit Aggression und Gewalt. Die Menschen, die in ihnen leben müssen, werden gedemütigt und für ihr Leben traumatisiert. Ihre Menschenwürde wird systematisch verletzt und missachtet.

 

Konsequenzen

 

Aus: Kappeler 2011c: 84f.:

Im Ergebnis haben offenbar das christliche Menschenbild und das sozialistische Menschenbild die gleichen Erziehungsmethoden hervorgebracht (vgl. dazu Kappeler 2008a). Für die Betroffenen macht es keinen Unterschied, ob die Demütigungen und die Unterdrückung von Kindern und Jugendlichen in der Heimerziehung in der Verantwortung des sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates DDR oder in der Verantwortung des kapitalistisch-bürgerlichen Staates BRD verübt wurden. In der zentralistischen DDR wurde die abschreckende Disziplinierung sog. asozialer bzw. gemeinschaftsunfähiger Kinder und Jugendlicher von oben nach unten durchgesetzt. In der pluralistischen BRD sorgte die Monopolstellung der kirchlichen Wohlfahrtsverbände in der Jugendhilfe, die auch nach 1945 ungebrochene starke Verbindung von Staat und Kirche mit ihrem Korporatismus dafür, dass die durch diese Verbindung geprägten und tradierten Sichtweisen auf sog. schwererziehbare bzw. verwahrloste Kinder und Jugendliche in die auf absoluten Gehorsam zielende Erziehungspraxis umgesetzt wurden, die jeden Widerstand mit Mitteln des Zwangs und der Gewalt zu brechen versuchte. Diese weitgehende Übereinstimmung des Unrechtssystems Heimerziehung in den beiden deutschen Staaten sollte nicht zugunsten einer unterschiedlichen Gewichtung des den Kindern und Jugendlichen angetanen Unrechts relativiert werden. Es wäre eine interessante Frage für die historische Jugendhilfe-Forschung, wie es möglich war, dass in der sich als freiheitlich, demokratisch und rechtsstaatlich verstehenden Bundesrepublik über den Zeitraum von 30 Jahren ein solches Unrechtssystem bestehen konnte, dem ca. 800.000 Kinder und Jugendliche ausgeliefert waren. Die dazu im Abschlussbericht des RTH[iv] gegen das Votum der Ehemaligen Heimkinder angebotenen „Erklärungen“ dienen so offensichtlich der Ablehnung der Entschädigungsforderungen der Überlebenden dieses Systems, haben eine so eindeutige Legitimations-Funktion, dass sie als Beitrag zu einer wissenschaftlichen Aufklärung der Geschichte der Heimerziehung nicht in Betracht kommen. Am RTH wurde immer wieder auf den substantiellen Unterschied zwischen dem „freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat“ Bundesrepublik und dem „Unrechtsstaat“ DDR hingewiesen. Ein „Unrechtssystem Heimerziehung“ habe es im „freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat“ prinzipiell nicht geben können. Eine pauschale Entschädigung ehemaliger Heimkinder sei daher ausgeschlossen. Es handele sich schließlich nicht um den „Unrechtsstaat DDR“, in dem selbstverständlich auch die Jugendhilfe/Heimerziehung ein Unrechtssystem gewesen sei. Man darf gespannt sein, ob diese Argumentation Bestand hat, wenn es in den kommenden Monaten um die Rehabilitation und Entschädigung ehemaliger Heimkinder aus der DDR geht, denen ja nach der Logik des RTH eine pauschale Entschädigung zugebilligt werden müsste. Ich vermute, dass dieser Anspruch mit der Argumentation zurückgewiesen wird, dass auch in der DDR nicht alle Heime gleich gewesen seien und es auch in totalitären Staaten immer Inseln/Nischen der Menschlichkeit gegeben habe, so dass von einem „Unrechtssystem Heimerziehung“ in der DDR nicht geredet werden könne. Und hat nicht auch die Deutsche Demokratische Republik in ihrer Verfassung und ihren Jugendgesetzen immer versprochen, dass die öffentliche Erziehung der Förderung und dem Wohl der Kinder und Jugendlichen diene? Freilich auch dem Wohl der sozialistischen Gesellschaft und wenn es zwischen dem einen und dem anderen „Wohl“ keine fraglose Übereinstimmung gab, war das Wohl des Staates, der Gesellschaft, so wie  es die Macht-Habenden definierten, immer ausschlaggebend. Das war in der Bundesrepublik nicht prinzipiell anders. Jahrzehntelang wurde das individuelle Handeln von Kindern und Jugendlichen an der von ihnen erwarteten „gesellschaftlichen Tüchtigkeit“ gemessen, die ebenfalls von den Macht-Habenden definiert wurde. „Abweichendes Verhalten“ wurde mit den Machtmitteln des Staates sanktioniert, u.a. mit der Einweisung in ein Heim. Eine Analyse der Beschlüsse der Vormundschaftsgerichte zur Anordnung von Fürsorgeerziehung oder zu Maßnahmen auf der Grundlage des § 1666 BGB lässt keinen Zweifel daran. Dieser mächtigen Praxis gegenüber waren selbst diverse Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes der 50er und 60er Jahre reine Makulatur, in denen die Ausrichtung der Heimerziehung an der „gesellschaftlichen Tüchtigkeit“ zum Nachteil der individuellen Entwicklungschancen der Kinder und Jugendlichen unmissverständlich gerügt wurde.

 

Zusammenfassung

 

Aus: Kappeler 2011b: 13f.:

Zuerst das Positive: Der Kampf der ehemaligen Heimkinder und ihrer Unterstützerinnen hat sich gelohnt und lohnt sich immer noch, weil das jahrzehntelange Schweigen über die Gewalt, der Kinder und Jugendliche in der Heimerziehung ausgesetzt waren, gebrochen werden konnte. Die Frauen und Männer, die jetzt über das ihnen zugefügte Unrecht und Leid reden, sprechen auch für die vielen ihrer Leidensgenossinnen, die stumm bleiben, ja selbst für die Vielen, die gestorben sind und jeden Tag sterben, denn es handelt sich bei den ehemaligen Heimkindern ganz überwiegend um ältere und alte Menschen, deren psychische und physische Gesundheit durch die Erziehung im Heim stark beeinträchtigt worden ist. Erstmals wieder seit der Heimkampagne der späten 60er und frühen 70er Jahre haben die Opfer der Jugendfürsorge, wie die Kinder-und Jugendhilfe damals hieß, eine unüberhörbare Stimme bekommen, die so schnell nicht wieder verstummen wird. Für viele ehemalige Heimkinder ist ihre Initiative ein Akt der Selbstbefreiung. Der macht zwar alte Schmerzen lebendig und bringt neue Schmerzen, Enttäuschungen und auch wieder Demütigungen mit sich. Aber die haben nicht mehr die niederdrückende und isolierende Gewalt, wie es die „Anonyma“ in Heft 118 der „Widersprüche" exemplarisch geschrieben hat.

Nun das Negative: Die Jugendhilfe hat sich im Ganzen ihrer Vergangenheitsschuld nicht gestellt. Das bedeutet auch, dass sie die Chance, aus der kritischen Selbstreflexion der „dunklen Seite“ ihrer Geschichte für die Gegenwart und die Zukunft zu lernen, weitgehend nicht genutzt hat. Die in vielen Bundesländern wieder praktizierte „geschlossene Unterbringung“ von wieder als „verwahrlost und schwersterziehbar“ definierten Kindern und Jugendlichen ist ein Beispiel dafür. Träger, die, wie der Orden der Salesianer (Don Bosco-Heime), wegen der in ihrer Einrichtungen an Kindern und Jugendlichen verübten Gewalt während der Heimkampagne und auch jetzt wieder bei der Aufdeckung sexueller Gewalt in die Schlagzeilen gekommen sind, bekommen von Landesregierungen den Auftrag zur Einrichtung geschlossener Heime oder Abteilungen mit sogenannten Time-out-Räumen, während am RTH und in den Länderparlamenten die Folgen des Wegschließens für Kinder und Jugendliche aufgeklärt werden sollen. „Wahrscheinlich muss in 20 Jahren wieder ein RTH geben, der die Gewalt aufklären soll, die Kindern und Jugendlichen heute in der Kinder- und Jugendhilfe angetan wird“, sagte kürzlich ein leitender Beamter eines Landesjugendamtes, der die katastrophale Situation der Heimaufsicht (zu wenig und nicht hinreichend qualifiziertes Personal) beklagte. Leider kann man dieser Prognose nicht widersprechen (siehe dazu den Beitrag von Michael Lindenberg in diesem Heft). Die im Abschlussbericht des RTH geforderte Qualifizierung und Intensivierung der Heimaufsicht verbunden mit einem unabhängigen Beschwerdemanagement für Kinder, Jugendliche und Familien wurde von den Verbänden der Kommunen in einem Zusatzprotokoll als zu teuer und nicht erforderlich abgelehnt.

 

Der Bundestag hat am 7.7.2011 beschlossen, dass für die Opfer der DDR-Jugendhilfe die Regelungen gelten sollen, die in der Umsetzung des Parlamentsbeschlusses für die ehemaligen Heimkinder aus der „alten“ Bundesrepublik festgelegt werden. Es soll das Prinzip „Gleichbehandlung der Opfer“ gelten. Am RTH hat die Mehrheit argumentiert, dass es eine pauschale Entschädigung für die ehemaligen Heimkinder nicht geben könne, weil die BRD im Unterschied zur DDR von Anbeginn an ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat gewesen sei, in dem es ein „Unrechtssystem Heimerziehung“ per Definition nicht habe geben können. Eine Opferrente bzw. entsprechende Einmalzahlung, wie sie von den Ehemaligen am RTH gefordert wurde, wäre nur möglich, wenn die BRD wie die DDR ein „Unrechtsstaat“ gewesen wäre, denn in einem solchen können auch Jugendhilfe/Heimerziehung nur ein Unrechtssystem gewesen sein, dessen Opfer Anspruch auf eine pauschale Entschädigung hätten.

 

(Eine Opferrente nur für die ehemaligen Heimkinder aus der DDR) würde sich nicht mit der Tatsache vertragen, dass das konkrete Leiden der Kinder und Jugendlichen in den Heimen beider deutscher Staaten sich nicht voneinander unterschieden, denn es resultierte nicht aus den unterschiedlichen politischen Vorzeichen in der DDR und der BRD sondern aus der alltäglichen gewaltmäßigen Erziehungspraxis, die identische historische Wurzeln hat und ähnliche Sichtweisen auf „verwahrloste und schwererziehbare Kinder/Jugendliche“ gesteuert wurde (vergleiche dazu Kappeler 2007, 2008c, 2011a). In der Studie „Heimerziehung in Berlin-West 1945 bis 1975/Ost 1945 bis 1989“ (Berlin 2011) heißt es in der Einleitung: „Bei allen Systemvergleichen kann es nicht darum gehen, eine Hierarchie von betroffenen Gruppen zu konstruieren: das Maß an erfahrenem Leid und Unrecht misst sich nicht daran, unter welchen politischen Verhältnissen es zugefügt wurde“. Dieser elementarer Grundsatz darf nicht dazu führen, dass DDR-Heimkindern eine ihnen zustehende Opferrente verweigert wird. Er muss umgekehrt dazu führen, dass das Bundesverfassungsgericht, das schon in den sechziger Jahren die Verletzung von Grund- und Menschenrechten in der Heimerziehung gerügt hat, in einem Grundsatzurteil den Bund und die Länder zwingt, die systematische Verletzung der Grund- und Menschenrechte von Kindern und Jugendlichen in der westdeutschen Heimerziehung anzuerkennen und ihre noch lebenden Opfer angemessen finanziell zu entschädigen.“

 

Aus: Kappeler 2008c: 74:

Aus der Geschichte lernen? - Es ist schwer, diesen unverzichtbaren sozialpädagogischen Optimismus durchzuhalten. Mir hilft dabei der Satz von Leszek Kolakowski: „Leben trotz Geschichte.“ In viel stärkerem Maße noch wird das für die Frauen und Männer zutreffen, die heute in vorgeschrittenem Lebensalter (zwischen fünfzig und achtzig Jahre alt) über ihre Erfahrungen als Kinder und Jugendliche, die in den Totalen Institutionen der Jugendhilfe leben mussten, zu reden beginnen und die Jugendhilfe unüberhörbar an ein finsteres Kapitel ihrer Geschichte erinnern. Ihnen sei dieser Artikel gewidmet.

 

Literatur

 

Aich, Prodosh (Hrsg.) 1973: Da weitere Verwahrlosung droht… Hamburg

Bartels, Heinke/Kappeler, Manfred/Schildhauer, Axel/Wiedemann, Peter 1996: Das Podium über die Berliner Zeit. In: Frommann, Anne/Becker, Gerold (Hrsg.): Martin Bonhoeffer - Sozialpädagoge und Freund unter Zeitdruck. Mössingen-Talheim

Boehme, Christa 1952: Die Beobachtung und Beurteilung der Zöglinge. Berlin

Bonhoeffer, Martin 1973: Personale Organisation im Heim - emotionale Desorientierung für Kinder. In: Neue Sammlung, 13. Jahrg. Heft 4. Göttingen

Freigang, Werner/Wolf, Klaus 2001: Heimerziehungsprofile - Sozialpädagogische Portraits. Weinheim/Basel

Goffman, Erving 1981: Asyle - Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt a.M.

Habermas-Arbeitskreis 1972: Jugendkriminalität und Totale Institutionen - Materialien zu zwei Seminaren. Frankfurt a.M.

Heuchler, Bernhard 1952: Einige wichtige Bedingungen für die Erziehung zur bewussten Disziplin. In: Heimerziehung, Heft 4. Berlin

Hoffmann, Inge/Schulze Hans-Jürgen 1984: Zur Ermittlung der Erziehungssituation durch die Organe und Heime der Jugendhilfe. Falkensee

Kappeler, Manfred 1971: Ideologie und Praxis in der Heimerziehung. In: Autorenkollektiv: Gefesselte Jugend. Fürsorgeerziehung im Kapitalismus. Frankfurt a.M.

- 1999: Verstrickung und Komplizenschaft. In: Ders.: Rückblicke auf ein sozialpädagogisches Jahrhundert - Essays zur Dialektik von Herrschaft und Emanzipation im sozialpädagogischen Handeln. Frankfurt a.M.

- 2007: Ein hohes Maß an Übereinstimmung - Heimerziehung in Deutschland „Ost“ und Deutschland „West“. In: Jugendhilfe 45, Jahrg. Dezember 2007. Neuwied

- 2008a: Von der Heimkampagne zur Initiative der ehemaligen Heimkinder - Über den Umgang mit Vergangenheitsschuld in der Kinder-und Jugendhilfe. In: Neue Praxis 4/2008

- 2008b: Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland (1950-1980) und der Deutschen Demokratischen Republik. In: Forum Erziehungshilfe 2/2008

- 2011a: Die Heimerziehung der vierziger bis siebziger Jahre im Spiegel der AGJ - eine Untersuchung auf der Grundlage der Bestände des AGJ-Archivs. Online unter: www.agj.de - Rubrik erzieherische Hilfen

- 2011b: Statt Aufklärung, Rehabilitation und Entschädigung - Verharmlosung und Schadensbegrenzung - Ein kritischer Rückblick auf den „Runden Tisch Heimerziehung“: Online unter: hdp.de/files/kappeler-kritischer-rückblick_2011.pdf, rev.15.07.2013

- 2011c: Kritik und Veränderung - Die Berliner Heimkampagne und ihre Folgen. In: Senat Berlin (Hg.): Heimerziehung in Berlin, West 1945-1975, Ost 1945 bis 1989, S. 76-133

Kotschetow, Alexander 1975: Umerziehung Jugendlicher. Berlin

Linsener, Hans-Joachim 1977: Verhaltensgestörte Kinder und Jugendliche in Sonderheimen der Jugendhilfe. Teil 1. Hrsg. vom Institut für Jugendhilfe. Ludwigsfelde

Mannschatz, Eberhard 1952: Beiträge zur Methodik der Kollektiverziehung. Berlin

- 1979: Schwererziehbarkeit und Umerziehung. Ludwigsfelde

- 1984: Heimerziehung. Berlin

Nolte, Stephan/Reich, Alexander 2007: Der geschlossene Jugendwerkhof Torgau/DDR. In: Jugendhilfe 45. Jahrg. Dezember 2007

Wiedemann, Peter 1996: Das Podium über die Berliner Zeit. In: Frommann, Anne/Becker, Gerold (Hrsg.): Martin Bonhoeffer - Sozialpädagoge und Freund unter Zeitdruck. Mössingen-Talheim



[1]    Die elektronische Fassung dieses Textes wurde uns in kollegialer Unterstützung von der Redaktion der Zeitschrift „Forum Erziehungshilfe" zur Verfügung gestellt (Herausgeber: IGfH Frankfurt/M.).



[i]             Diese Sätze sind eine Zusammenstellung aus der „Einleitung“ und dem Kapitel „Die Welt der Insassen“ aus Goffman (1981), S. 15-45. Die Satzkonstruktionen folgen nicht immer dem Originaltext, da es sich um Zusammenfassungen handelt.

[ii]            In der jüngeren Literatur zur Heimerziehung haben Werner Freigang und Klaus Wolf in ihrem Buch „Heimerziehungsprofile“ Goffmans Analyse verwendet.

[iii]            Der Laudator war Hartmut von Hentig.

[iv]    Runder Tisch Heimerziehung