Die Geister der Vergangenheit

in (14.10.2013)

In Orson Welles’ Citizen Kane (1941) wird der reichste Mann der Welt, Charles Foster Kane, von einem ganz unscheinbaren Gegenstand völlig aus der Fassung gebracht: einer kleinen Schneekugel, die Kane in dem Zimmer seiner Frau findet, nachdem sie ihn nach einem bitteren Streit überstürzt verlassen hatte. Doch wieso übt dieser wertloser Kitsch eine geradezu magische Macht über einen Menschen aus, der sich ohnehin alles leisten kann – ja, der, wie Kane, sogar eine riesige Sammlung von Kunstgegenständen, Luxuswaren und exotischen Objekten angehäuft hat? Was ist es, das die alltäglichsten Dinge mit einer solchen affektiven Kraft ausstattet?

Weder die klassische Kultursoziologie noch die neueren Material Culture Studies haben darauf eine Antwort. In ihrer Perspektive sind die Dinge, mit denen sich ein Mensch umgibt, kohärenter Ausdruck ihres Habitus, Stabilisatoren einer Gruppenidentität oder konstitutive Elemente sozialer Praktiken.  Dass sie sich darüber hinaus aber auch dem symbolischen und praktischen Zugriff entziehen und das Selbstbild ihres Besitzers stören können, wird kaum thematisiert – es sei denn im Sinne einer rein technischen Defekts, der das Zuhande in ein Vorhandenes verwandelt.

 

Die Irritationen, um die es hier geht, sind jedoch ganz anderer Natur. Sie haben mit den verdrängten Erinnerungen zu tun, die normalerweise im Unbewussten des Subjekts schlummern und sich erst dann – aber dafür mit aller Wucht – ihren Weg ins Bewusstsein bahnen können, wenn etwas gegenwärtig Wahrgenommenes mit ihnen korrespondiert – sei es eine bestimmte Dinggestalt, eine Textur oder so etwas Ephemeres wie ein Geruch. Und genau dieses Schockmoment widerfährt Kane, als er in der Schneekugel das kleine Holzhaus seiner Eltern „wiedererkennt“, das er im Kindesalter verlassen musste, um von einem fremden Mann in der Großstadt erzogen zu werden.

Um dieses Moment der unwillkürlichen Erinnerung sowie ganz allgemein das affektive Verhaftetsein an die Dinge erfassen zu können, bedarf die soziologische Theorie materieller Kultur einer psychonalystischen Erweiterung. Dazu bietet sich insbesondere Jacques Lacans psychoanalytische Kulturtheorie an, da dieser im Unterschied zu Freud nicht von einem Triebessentialismus ausgeht, sondern annimmt, dass das Begehren und die damit verbundenen Affekte kulturell produziert werden. Sie resultieren Lacan zufolge aus dem Gefühl eines ontologischen Mangels, das das Subjekt überkommt, sobald es in die „symbolische Ordnung“ einer Kultur eintritt.  Denn die Internalisierung der „symbolischen Ordnung“ – sei es auf sprachlicher, perzeptiver oder rein praktischer Ebene  – bewirkt, dass sich das Subjekt aus dem ursprünglichen Einssein mit der Welt herauslöst und sich nurmehr alle Vorgänge und Relationen mithilfe eines per definitionem lückenhaften Zeichensystems vermitteln muss. Da aber das Subjekt  aufgrund dieser „symbolischen Kastration“ seine eigene strukturelle Entfremdung nicht als solche versteht, sondern unbewusst als schmerzlichen Verlust eines „etwas“ – oder wie sich Lacan ausdrückt: des „ Dings“ – interpretiert, begibt es sich auf die Suche nach dem fehlenden Puzzleteil, das diesen Mangel aufzuheben verspricht. Das heißt, es projiziert seinen Wunsch nach Vollständigkeit auf einzelne, real existierende Objekte – seien es Menschen oder Dinge –, die solange die ontologische Leerstelle zu überdecken vermögen bis sich das Begehren an das nächste heftet.

Wie Kaja Silverman in ihrem Buch World Spectators (2000) aufzeigt, bildet jedes Subjekt im Verlaufe seines Lebens eine eigene libidinöse Dingbiographie aus, die allen zukünftigen affektiven Besetzungen zugrundeliegt.  Denn alles, was das Subjekt jemals als sein fehlendes „Ding“ identifiziert hat, bleibt als Erinnerungsspur im Unbewussten bestehen und verbindet sich dort sowohl mit alten Vorstellungen und Erinnerungen als auch – und das passiert im Fall von Kane – mit ganz neuen Wahrnehmungsbildern. Die psychische Energie einer affektiven Besetzung verschwindet also nicht einfach, wenn das materielle Objekt ausgedient hat oder verloren geht, sondern verbindet sich durch die metonymisch-metaphorischen Verschiebungen  des Unbewussten immer wieder mit neuen Dinggestalten. Eine vage Ähnlichkeit oder assoziative Nähe zu einem früheren Liebesobjekt kann daher ausreichen, damit ein Gegenstand enorme Anziehungskräfte entfaltet.

Auch Charles Foster Kane hat im Laufe seines Lebens eine solche individuelle Begehrensbiographie ausgebildet, an deren Anfang als erstes „Liebesobjekt“ die Mutter und in ihrer assoziativen Nähe das Elternhaus steht. Alle anderen Dinge, die er während der Jahre ansammelt, sind nur mehr oder weniger entfernte Ableitungen aus dieser früheren intensiven Beziehung.

 

Für die kultursoziologische Argumentation ist von entscheidender Bedeutung, dass diese Verschiebungen auf Objektebene an Kanes Subjektivität nicht spurlos vorbeigehen: Auch er verändert sich, wenn er sich mit einem neuen Objekt identifiziert, es in sein Selbst integriert und schließlich enttäuscht feststellen muss, dass es nicht hält was es verspricht. Oder um es praxistheoretisch zu formulieren: Durch seine vielen Erfahrungen mit der materiellen Welt, die sich im Laufe der Zeit sowohl in seinen körperlichen Praktiken als auch in seinem Unbewussten ablagern, verschieben sich auch Kanes Selbstbild sowie seine alltäglichen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsgewohnheiten. Das Schockhafte der unwillkürlichen Erinnerung, die die Schneekugel auslöst, hat also nicht nur damit zu tun, dass er in diesem Augenblick des Verlusts seines Elternhauses gewahr wird. Das, was ihn so irritiert, ist auch der unvermittelte Sprung in die Vergangenheit und die darin enthaltene Konfrontation mit einem ihm fremd gewordenen kindlichen Selbst - einem Selbst, das mit seinem gegenwärtigen Ich-Ideal eines starken und unabhängigen self-made-man nicht mehr vereinbar ist.


 Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Nr. 30, „What a feeling!“


Sophia Prinz, Dr. phil, Kultursoziologin und Kulturwissenschaftlerin (Europa-Universität Viadrina Frankfurt Oder). Jüngste Publikation: Die Praxis des Sehens. Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung, Bielefeld: transcript 2013 (im Erscheinen).