Unter die Haut gehen: Affekt und Sorge in kollektiver Organisierung

Was macht Affekt in sozialen Bewegungen und Organisierungsprozessen aus? Im letzen Jahrzehnt bestand ein gewisser Hype um einen Affektbegriff, der primär von körperlichem Prickeln und high-speed Interaktionen ausging, oder die wachsenden Dienstleistungsindustrien der ersten Welt als Kontexte vermeintlich neuer und revolutionärer Beziehungsformen vorzog. Jenseits dieser Optionen fragen wir hier bescheiden nach der Rolle von Affekt, Beziehung und Care im gemeinsamen Organisieren.

 Affekt: das Klebrige an uns in der Welt
Affekt ist, wenn uns etwas erfasst, trifft, bewegt oder beeinträchtigt, das unserer bewussten Wahrnehmung und Sprache entgeht. Ausdrücke wie „mich packt’s/erwischt’s/haut’s um“ erzählen von Affekt als einer schwer definierbaren Intensität, die uns angeht und aufrüttelt. Affekt benennt so die Fähigkeit, sich mit der Welt in Beziehung zu setzen und von ihr verändert zu werden. Sie ist allerdings keine Frage des Willens, sondern unseres unvorhersehbar klebrigen Verbundenseins mit der Welt. Ein Zusammenspiel von unserem Körper, unseren Sinnen, unseren Gedanken, Emotionen und Umwelten. Es geht also um die Möglichkeit, auf Dinge in der Welt anzusprechen. Laut dem Biologen und Philosophen Jakob von Üxküll hat eine Zecke zum Beispiel drei affektive Möglichkeiten, sie kann drei Aspekte der Welt „merken“: oben – unten, warm – kalt, Buttersäure: ja oder nein.[1] Diese Möglichkeiten bestimmen zu großem Teil, wie sich die Zecke auf die Welt bezieht. Wohin sie kriecht, wann sie sich fallen lässt, wo sie ansaugt. Wir Menschen taumeln ebenso auf Basis unserer biologisch-affektiven Möglichkeiten und entsprechenden Organen umher. Dabei haben wir viel Spielraum, unser Ansprechen und unsere Ansprüche zu gestalten.

Ansprüche, Ansprechen und (Sub-)Kulturen
Affekt ist etwas, das man als Gefühl kultivieren kann, und etwas, auf dem Kulturen mit aufbauen. Affekt wird zur Emotion wenn wir klarer erkennen, worum es geht, und beginnen, Werte und Worte an einen Eindruck hängen: traurig, hoffnungsvoll, usw. So kann man an Affekten als Emotionen festhalten, allein und gemeinschaftlich. Unsere singulären Formen des gemeinsamen (Er)lebens und gegenseitigen Ansprechens entwickeln wir meist als affektive Kulturen: Sie machen aus, wie wir der Welt und anderen begegnen.
Beim Affekt bewegen wir uns jenseits von Privilegien- und Identitätsdiskursen, er ist ein zentraler Punkt fürs Überwinden gewisser politischer Schemata, die oft gegen den Strom der Zeit klebenbleiben. In individualisierten, geregelteren und also reicheren Gesellschaften/Gemeinschaften gestaltet sich Affekt – als die Bezugsform zur Welt – großteils anders als in chaotisch-kollektiven Kontexten, wo wenig Geld und Prestige fließt. Als Klebstoff zwischen Lebewesen und der Welt taucht Affekt dort auf, wo Beziehung wichtig ist, wo wir an die Welt andocken müssen. Je nach dem, wie sehr man andere und die Welt braucht, braucht man also Affekt, spricht man auf Gegebenheiten an.

Soziale Bewegungen bauen auf Affekt auf, insofern sie Momente bedeuten, in denen Menschen einander intensiv brauchen, und so das Neu-Aushandeln von Beziehung, Gemeinsamkeit und Verschiedenheit auf breiter Ebene möglich wird. Widersprüche werden neu artikuliert und alte Muster und Kategorien brechen auf, neue Gespräche werden möglich. Damit tun solche high-affect Momente nicht nur Gesamtgesellschaften, sondern besonders auch eingefleischten „linken“, „alternativen“ und „politischen“ Szenen gut, weil sie ideologische Pfosten auflockern und damit viel neue Dynamiken möglich machen. Uns geht es hier um Beziehung als emanzipatorisches Konzept und um die Möglichkeit, soziale und politische Welten zu denken, die in Bewegung sind und sich selbst reflektieren. Was sind denn einige Grundaffekte in den subkulturellen Welten der sogenannten linken, aktivistischen oder politischen Szenen? Hier ein Versuch – keinesfalls vollständig – drei gängige Formen zusammenzufassen.
Einerseits die Affekte des sogenannten Aktivismus, die mit schnellem Reagieren auf eine  Situation zu tun haben, sowie mit Adrenalin, Geschwindigkeit, höchstmöglicher Aktivierung und Aktion. „Repression!“, „Blockade!“, „Demo!“ ruft man, Voluntarismus und Burnout gehen oft einher. Andererseits die sozialen Bewegungs-Affekte, die in schnellem Reagieren auf größere Menschenmengen und neue Zusammenhänge bestehen, sich vom Baum fallen lassen, wenn sie kollektiven Aufruhr riechen („Schwarm!“ „Rebellion!“ „Bewegung!“) und unbedingt mitfließen wollen. Dritterseits die großes-P-„Politik“ mit ihrem Reagieren auf Medien, Meinungsumfragen und Bewegungen der Gegner: Am Schachbrett heißt es Kontern, Taktieren, Strategieren. Wenn sich Risse in instituionellem Konsens zeigen, wird hastig Kaffee getrunken und diskutiert. Jede (Sub)kultur hat ja ihre Drogen, ihre Moden, ihre Rhythmen – und kultiviert also ihre Körper.
Unser Bezugs- und Metamorphosepotenzial verschiebt und erweitert sich ständig. Unser affektiver Spielraum kann schier unendlich sein: weil wir „nie im Vorhinein wissen, wozu irgendein Körper oder irgendeine Seele in einer gegebenen Situation, Konstellation [agencement] und Kombination fähig ist“ (Deleuze/Spinoza). Beim Affekt geht es also um körperlich-seelisch-soziale Möglichkeiten der Veränderung und Beziehung, nicht einfach um Erregbarkeit.

Veränderung und Komposition
In Bezug auf politisches Organisieren will ich hier die Fragen der Beziehungsfindung, der Begegnung und der Konstitution von Gemeinsamem hervorheben. Das affektive Potenzial eines Kollektivs (wie auch immer geartet) aus dem neue Lernprozesse, Lebensformen und Praxen entstehen können. Uns interessiert ja Veränderung: und zwar jene, die Materialität sowie Subjektivität einbezieht[2], die nicht nur in Sprache und Denken Neues ermöglicht, sondern auch im Leben und Handeln. Solche Veränderung kann als Frage der „Komposition“ verstanden werden:
„Im Gegensatz zur ‚Artikulation’ ist die ‚Komposition’ nicht nur intellektuell. […] Im Gegensatz zu den ‚Übereinkommen’ und ‚Allianzen’ (strategische oder taktische, parteiische oder totale) die auf textuellem Verständnis basieren, ist die Komposition mehr oder weniger unerklärbar, und geht weiter als alles was man über sie sagen kann. […] Liebe und Freundschaft zeigen uns den Wert der Qualität über die Quantität: Der kollektive Körper, der aus anderen Körpern besteht, erweitert sein Potenzial [potencia] nicht auf Basis der reinen Quantität seiner individuellen Komponenten, sondern in Bezug auf die Intensität der Verbindung, die sie zusammenhält.“[3]
Wie machen wir Beziehungsspielräume auf und schaffen so neue Formen und Kreise der Begegnung? Wie entstehen neue Formen der Gemeinsamkeit und des Verbundenseins, jenseits von voluntaristischen, identitären und ideologischen Kategorien? Es ist möglich, politisch zu mobilisieren und zu organisieren, ohne sonderlich berührt oder transformiert zu werden, ohne ständig neue Modi des „Wir“ zu erlernen und erfinden. Wir kennen das: kühle Treffen in denen die Luft steht, Gespräche, die wie slot cars in der eingefahrenen Bahn kreisen, subkulturelle Feinderlwirtschaft, politisches Strategieren im Elfenbeinturm. Dabei geht es nicht zuletzt um affektive Fragen.

Grenzen, Körper und Care
Ein Schritt zurück. Was sind soziale Bewegungen und kollektive Kämpfe, wenn nicht komplexe Konstellationen aus einzelnen und gemeinsamen Entwicklungs- und Bezugsmöglichkeiten? Sie gehen von Momenten aus, in denen irgendwo plötzlich etwas möglich wird: ein Lächeln, ein Aufschreien, ein Aufstehen, ein Hinhören und Sprechen, ein gemeinsames Auftauchen und vielleicht sogar Auftreten. Sie bauen auf klebrigen Mischungen aus Problemen, Wünschen, Sehnsüchten, Erfahrungen und Widersprüchen auf, deren Alchemie die Lebendigkeit einer Bewegung ausmacht. Jede kollektive Zusammenkunft durchlebt und erfindet so ihre eigenen Bezugsformen. Revolutionäre Affekte können anstecken, sind aber nicht einfach übertragbar. Die „würdige Wut“ der Zapatist_innen, die Empörung der Indignados des 15M, das „love and rage“ der US-Amerikanischen Anarchistischen Bewegung, sie alle bringen gewisse Möglichkeiten und Grenzen der Beziehung mit sich.
Die Grenzen und Unmöglichkeiten einer affektiven Kultur sind nämlich genau so wichtig wie deren Potenzial. Dort, wo das Unendliche und Vielversprechende aufhört, kann gemeinsame Sorge und Fürsorge beginnen, als Care, Achtung, Pflege und Zuwendung. Wo der Körper (als einzelner oder gemeinsamer) sich als begrenzter und sterblicher spürbar macht, vertiefen sich Formen der Aufmerksamkeit und des Respekts. Beziehungen und Zusammenkünfte können sich so langsam in Orte einer täglichen Praxis der gemeinsamen Sorge verwandeln. Ein wichtiger Schritt, denn Affekt ohne Care resultiert oft in hyperaktiver und naiver Affirmation; umgekehrt ist Sorge ohne Berührung oft kalt und unheilsam.
Der Körper bleibt zentral: Die Möglichkeit einer Beziehung, in der Differenzen und Konflikte nicht abgetötet werden, hängt zu großem Teil vom Umgang mit dem eigenen Körper und dem der Anderen ab. Es macht viel aus, wozu politisch engagierte Körper fähig sind: wenn Herzrasen, Schweißausbrechen, Stottern, Zittern, Krankheit und Anders-Sein nicht Tabu sind. Nicht der Athletismus von Blockadetrainings, die perfekt trainierte Gestik oder der queerste Stil, sondern die Fähigkeit, verschiedene Formen der Beziehungen zu finden und zu halten: Blickkontakte, Stimmlagen, Berührungen, Atmen. Gemeinsames Essen und Trinken, Stille, Zuhören und Sprechen.

Mikropolitische Wegweiser
Manchmal wäre es leichter, ein kollektives Projekt loszulassen im Hinblick auf körperlich-seelische Gegebenheiten, anstatt sich ideologisch oder persönlich zu zerreißen. Wo politischer Wille ist, und vielleicht auch Kompetenzen und Wissen, muss noch lange kein Beziehungspotenzial sein, und daran scheitern schließlich viele politische Initiativen. Oft fehlt es an Werkzeugen, Konzepten und Erfahrungen, die einen Umgang mit Affekt und Care ermöglichen. Denn jenseits der Intensität von kollektiven Prozessen liegt deren Extensität, deren Ausweitung in Zeit und Raum: die Aufrechterhaltung von aufgebauten Beziehungen, das Schaffen von Räumen, Rhythmen und Kontinuitäten. Aus jeder Organisierungserfahrung könnte man eine kleine mikropolitische Werkzeugkiste zusammenstellen, die singuläre Umgangsformen reflektiert.
David Vercauteren hat das in Bezug auf das Collectif sans Ticket gemacht in seinem Buch Micropolitiques des Groupes, in dem er ein Vokabular zu kollektiven Prozessen erstellt: „Zusammensetzen“, „Umwege“, „Phantome“, „Sprechen“, „Stille“ und „Sorge um sich Selbst“ sind da einige Begriffe[4]. Dieser Tage bringt die nanopolitics group aus London ein ähnliches Buch heraus, das auf zwei Jahren kollektiver körperlich-militanter Forschung aufbaut und als theoretisch-praktisches Handbuch zur Reflexion und Aktivierung politischen Prozessen dienen soll[5]. Weil militante Untersuchung nie genau weiß „wozu“ sie forscht, weil sie kein Objekt fixiert, hat sie viel mit Affekt und Beziehungsfindung zu tun.

Auf der Ebene der Begegnung könnten besonders auch „Accueil“ („Empfangen“ und „Aufnahme“ wie in der französischen psycho- und schizoanalytischen Praxis[6]) und „Addresse“ (als das Moment des „Ansprechens“, nicht bloß Kommunizierens) nützlich sein. Auch das „Zuhören“[7] und „Tonalität/Tonus“[8] im Umgang miteinander sind wichtige Felder für militant-affektive Erforschung, ebenso Fragen der „Rhythmen“ kollektiver Organisierung[9]. Und dann ist da auch das „Sterben lassen“[10] von kollektiven Prozessen, in den Worten von Gilles Deleuze: „Das Kriterium einer guten Gruppe ist nicht, dass sie sich als einzigartig, unsterblich und wichtig träumt, wie ein Verteidigungs- oder Sicherheitssyndikat oder ein Ministerium alter Kämpfer, sondern dass sie an ein Außen andocken kann, dass sie mit ihren eigenen Möglichkeiten der Sinnlosigkeit, des Sterbens und der Auflösung konfrontiert.“[11] In diese Richtung könnte eine konkrete Anwendung des Affektbegriffs in sozialen Bewegungen gehen, als selbstreflexives Werkzeug, daß sich mit den Fragen der Beziehungsfindung und Care überschneidet.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Nr. 30, „What a feeling!“


Manuela Zechner ist Forscherin, Kulturarbeiterin und Übersetzerin und lebt momentan in Wien.





[1] Wikipedia Eintrag zu Jakob Johann von Uexküll (Stand 12.Sept 2013) http://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_Johann_von_üxk%C3%BCll

[2] Mit David Harvey interessieren wir uns für Prozesse, die sich sowohl auf 1.) die Beziehung zur Natur und 2.) jene zwischen Menschen, 3.) Subjektivität und Wissen, 4.) Arbeits- und Produktionsprozesse, 5.) Institutionen und Gesetze, sowie 5.) Alltagsleben und soziale Reproduktion auswirken. David Harvey, Organizing for the Anti-Capitalist transition, Rede beim Porto Alegre Social Forum 2010. http://davidharvey.org/2009/12/organizing-for-the-anti-capitalist-transition/#more-376

[3] Colectivo Situaciones (2002), Hipotesis 891. Sobre el Método. Buenos Aires: Ediciones de Mano en Mano, S.16. Übers. MZ.

[4] David Vercauteren (2007), Micropolitiqüs des Groupes: pour une écologie des pratiqüs collectives. Paris: HB.

[5] Nanopolitics group (2013), Nanopolitics handbook. Wivenhoe: Minor Compositions. www.minorcompositions.info/?p=590

[6] Jean Oury (1990), Pathique et fonction d'accueil en psychothérapie institutionnelle. In: Schotte J. (Ed.): Le contact. Bruxelles : De. Boeck, S. 111-125, S. 112-113.

[7] Anja Kanngieser (2013), Towards a careful listening. In: Nanopolitics Handbook, ibid.

[8] Carla Bottiglieri (2013), Body semblances, temporary dwellings: a somatic moulding of spaces and subjectivities. In: Nanopolitics Handbook, ibid.

[9] Pascal Michon (2007), Les Rythmes du Politique. Paris: Les Prairies Ordinaires.

[10] Félix Guattari (1976/2003), Psychanalyse et Transversalité. Paris: La Redecouverte.

[11] Gilles Deleuze (1974), Trois problémes de groupe. Préface au livre de Félix Guattari, Psychanalyse et Transversalité. Ibid. S. I, Online hier: http://1libertaire.free.fr/Guattari14.html