Flucht nach Europa

Eher unauffällig hat Tom Strohschneider in die ND-Wochenend-Ausgabe vom 23./24. November 2013 eingerückt: „Linkspartei diskutiert über Europawahlprogramm – und über den Nationalstaat“ und als Überschrift gewählt: „Zu eng für eine Heimat“.
Im Text wird mit Hinweis auf Diskussionspapiere als „Richtungsfrage“ benannt: „Wie hältst Du es als Linker mit Europa?“ und im Zuge dessen zitiert: „Man bekennt sich dazu, ‚die falschen Grundlagen der Europäischen Union von Anfang an kritisiert’ zu haben und verlangt einen ‚Neustart’ der EU“.
Damit würde unsere Überschrift freilich eine ganz andere Bedeutung mit anderen Akteuren bekommen, als bei dem ursprünglichen Anliegen, von der „Flucht“ Adenauers nach Europa zu berichten, also eine Erfolgsgeschichte zu erzählen, denn diese Europakonzeption ist aufgegangen und wirkt, wie zitiert.
Wohl nicht überraschend, dass diese Konzeption und Praxis seinerzeit von „Linken“ unabhängig von der Sozialisation in beiden deutschen Staaten heftig abgelehnt wurden, und nicht nur von diesen. Aus anderen Motiven und damit auch ärgerlicher für Adenauer und Seinesgleichen war die Grundsatzkritik aus bürgerlichen und konservativen Kreisen, weil diese dies auch zutreffend als Absage an das verbliebene Gesamtdeutschland und die Forderung nach einem Friedensvertrag mit Deutschland deuteten. Und das hatten Antifaschisten aller Couleur damals mehrheitlich weder individuell noch für Deutschland gewollt.
Pars pro toto: Theodor Steltzer – von Freisler zum Tode verurteilt, nach der Befreiung aus dem Zuchthaus „Reichs“-Gründungsmitglied der CDU in Berlin, von den Briten als Gegenkandidat zu Adenauer auserwählt, ihr erster Ministerpräsident von Schleswig-Holstein (1946/47) – äußerte sich in diesem Sinne nicht nur in tage- und nächtelangen Gesprächen privat in Ostberlin über „die deutschen Dinge“, sondern erklärte auch im Fernsehen der DDR am 22. September 1967 (andere Fernseh-Stationen in Deutschland waren ihm verschlossen), dass Adenauers „Westintegration“ mit auch militärisch-antikommunistischer Zielsetzung Deutschland dauerhaft teilen werde, was übrigens Adenauer selbst als Ziel der Deutschlandpolitik deklarierte. Das war die gleiche Zeit, als in der DDR alle offizielle Post nach der Grußformel den Schluss-Satz enthielt: „Für Einheit und gerechten Frieden“.
Befriedigt sei erwähnt, dass auch namhafte Historiker aus der Bundesrepublik tendenziell Auffassungen wie die von Steltzer teilten und partiell ähnlich handelten. Ich erinnere mich noch ganz gut, dass etwa zeitgleich Carl-Christoph Schweitzer und sein „Milchbruder“ – so scherzhaft von ihnen benannt, weil beide gemeinsam im Berliner Umland aufgewachsen sind – Hans Adolf Jacobsen zu mir Kontakt  aufnahmen, durchaus mit der Ambition, herauszufinden, ob und wie man der Spaltung entgegenzuwirken vermöchte. Gegenbesuche an der Bonner Universität mit öffentlicher Vorlesung waren dabei eingeschlossen. Man hoffte trotz gegenteiliger Kenntnis, es mögen noch nicht alle Messen gesungen sein. Reminiszenz daraus und dazu: „Ostpolitik“ und Kontakte, nicht nur um die DDR herum, begannen eben auch west-seitlich nicht erst mit Brandt/Bahr, ohne deren Leistung zu schmälern. „Das Nationale“ war ein eigenständiger Wert, hier und auch da, entsprechend politisch gebraucht (in des Wortes Doppelbedeutung). Auch Adenauers Außenminister Gerhard Schröder hatte mit Gromyko schon in Genf 1966 darüber gesprochen, im Zuge weiterer Veränderungen mit dem „Ostblock“ in Europa irgendwie auch mit der DDR hinzukommen, freilich unter Ablehnung offiziellen Anerkennung und ohne den Begriff „Koexistenz“ zu gebrauchen.
Für die praktische, in Adenauer symbolisierte Politik war das alles aber nur „Petersilie bei der Suppe“. Seine Flucht nach Europa war Bewältigung der jüngsten Vergangenheit ohne inhaltliche radikale Erneuerung und perspektivisch schon der Ansatz dazu, mit modernen Mitteln und zugleich Rückbesinnung auf „seine“  zwanziger Jahre im Rheinischen erneut deutsche Weltgeltung zu erlangen.
Wenn man die aktuelle Diskussion (siehe oben) wohlwollend versteht, meinen manche „Linke“ möglicherweise mit den „falschen Grundlagen“ diesen Sachverhalt. Ich denke aber, daran denken sie mehrheitlich eher nicht, wie es tatsächlich mit „Europa“ begann und was damit bezweckt war.
Um nicht der Einseitigkeit und Nostalgie geziehen zu werden, hier keine eigene Interpretation zum „Warum?“, aber ein längeres Zitat, dessen Hauptaussagen, weniger die behutsame Wortwahl, meinen Wertungen unter anderem im Einleitungstext zum Handbuch „Die westdeutschen Parteien 1945 – 1965“ (1966) auch schon vor 50 Jahren entsprachen. Freilich, wie in Zeiten der Konfrontation üblich, zunächst als „Propaganda“ abgetan, aber dann gern genutzt, da kein vergleichbares westdeutsches Produkt vorlag.
Verfasser ist Hans Jürgen Küsters, dem die Politik und die Historikerzunft bemerkenswerte akribische Dokumentationen mit sorgsamer Kommentierung auch zu deutsch-deutschen Themen verdankt. Auf ersten Blick möglicherweise überraschend, dass es sich bei ihm um den HA-Leiter „Wissenschaftliche Dienste/ Archiv für Christlich-Demokratische Politik“ der Konrad-Adenauer-Stiftung handelt. In unserem Zusammenhang ist die Position eher zusätzliches Qualitätsmerkmal als Quelle:
„Westintegration war nicht nur politisch der einzige Weg aus der Isolation, in welche sich die Deutschen durch den Nationalsozialismus hineinmanövriert hatten. Für die Bundesrepublik implizierte die Annäherung an den Westen neben der Erlangung politischer Souveränität zugleich die Chance zum wirtschaftlichen Wiederaufbau in engster Verbindung mit dem westlich geprägten Weltwirtschaftssystem. .... Sein (Adenauers –H. Bertsch) eigentliches Ziel der Verflechtung war stets eine politische Union. .... Beeinflußt von den stark föderalistischen Vorstellungen jener Jahre zwischen 1948 und 1950/51, enthielten seine Reden immer die Forderung nach einem Souveränitätsverzicht der westeuropäischen Demokratien zugunsten eines europäischen Bundesstaates. Natürlich fiel unter den damaligen Gegebenheiten der Besatzung den Deutschen der Souveränitätsverzicht leichter als den übrigen Nachbarstaaten. Jedoch wusste Adenauer ebenso gut, dass ein souveräner westdeutscher Staat nur wieder in der internationalen Staatengemeinschaft aufgenommen und respektiert würde, wenn er bereit war, sich bedingungslos diesem Integrationsprozeß zu verschreiben, ja seine eigene staatlich Existenz damit zu verknüpfen.“ Das war Konzeption und richtiges Kalkül – und ist heute auch deshalb Realität. Der Wiederaufstieg des größeren Teil-Deutschlands zu europäischer Hegemonialmacht, nun noch um das andere Teil-Deutschland verstärkt.
Bekanntlich gibt es im Verlauf des Geschehens jähe Wendungen. So kann es durchaus passieren, dass Nachfahren Gegebenheiten vorzufinden vermeinen, die dazu verleiten könnten, die Wende rückwärts zu probieren. Aber dass es nach erfolgreicher Flucht nach Europa derzeit sinnvoll sein könnte, „einen Neustart“ dieser EU zum Programm zu erheben, ist doch sehr fragwürdig und politisch „über den Wolken“ – bei aller realen Verflechtung. Wäre eine politische Nummer kleiner, nämlich mit Schwerpunkt in Deutschland „Wenden“ anzusteuern statt den gesellschaftlichen Konflikt europaweit anzugehen, da nicht angemessener und auch wählerwirksam? Der „Durchschnittsdeutsche“, den es zwar so nicht gibt, empfindet sich mehrheitlich wohl immer noch als Deutscher, nicht als in deutsche Haut gepresster Europäer. Wird da mit der Konzeption, Europa links verändern zu wollen und dies mit Aussicht auf Erfolg auch zu können, wirklich einem dringlich empfundenen Hauptanliegen dieser Klientel entsprochen?
Oder hat da jemand einfach nur mal so eine Idee, eine Auslagerung der innerstaatlichen Konflikte nebst Lösungen könne als Neu- oder Nachauflage der bis heute erfolgreichen Adenauer-Flucht nach Europa nun als Projekt von „Linken“ reüssieren? Diese EU ist, wie sie ist – oder gar nicht. Umkrempeln?
„Hegel erinnerte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ – so leitet Karl Marx seine Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ ein.