Der verpatzte Weihnachtsstern

Es hätte so schön werden können, – pünktlich zum Weihnachtsfest, wenn alle Gemüter den Vorbereitungsstress abwerfen und versuchen, auf  Besinnlichkeit umzuschalten, wäre am Firmament ein hellstrahlender Komet erschienen, von jedermann mit bloßem Auge zu sehen. Ein Weihnachtsgeschenk des real existierenden Himmels!
Es kam aber – wie so oft in der Wirklichkeit – ganz anders, obwohl die „Astroweisen“ das ganze Jahr hindurch diesen „Weihnachtskometen“ hochgejubelt hatten. Doch die Schweifsterne, eigentlich recht kleine lockere Brocken aus Eis und Gestein, waren schon immer unberechenbar, was die Entwicklung ihres Erscheinungsbildes anlangt. Anders verhält es sich mit den himmelsmechanischen Bahndaten. Und die verhießen bei Ison von Anbeginn nichts Gutes. Er würde sich nämlich der Sonne bis auf rund 1,8 Millionen Kilometer nähern und somit einer Höllenglut von rund 2.000 Grad ausgesetzt sein. Dass der nur wenige Kilometer große Brocken dabei – unterstützt durch starke Gezeitenkräfte - zerbersten könnte, musste mit einiger Wahrscheinlichkeit erwartet werden. Bislang sind rund 1.000 solcher „Sungrazer“-Kometen beobachtet worden, von denen meist nur eine Staubwolke übrig blieb. Und so ist es auch diesmal gekommen. Ison erlitt das Schicksal von Ikaros, dem Helden der griechischen Mythologie, der einst seine zu große Sonnennähe mit dem Leben bezahlen musste. Zuvor hatte der Komet seine „Fans“ – Forscher ebenso wie zahlreiche Astroamateure in aller Welt – lange in Atem gehalten. Kurz vor Erreichen des sonnennächsten Punktes seiner Bahn brach bereits ein riesiges Stück aus dem Kern heraus. Dann verschwand der Schweifstern hinter der Sonne. Doch Raumsonden, allen voran die 1995 gestartete amerikanisch-europäische SOHO (Solar and Heliospheric Observatory) behielten ihn weiter im Blick. So warteten alle ungeduldig auf sein mögliches Wiedererscheinen nach dem Höllenritt seiner größten Sonnennähe am 28. November. Deshalb herrschte auch große Freude, als man in einem ständig zugänglichen Lifestream im Internet sehen konnte, wie etwas Leuchtendes jenseits der Sonne auftauchte. Schon las man von Ison als einem „Kometen-Zombie“. Skeptiker allerdings warnten: Es könne sich auch um eine übrig gebliebene Staubwolke handeln, während der eigentliche Kometenkern gar nicht mehr vorhanden sei. Sie behielten recht. Schon am 3. Dezember erklärten die Experten, ein Wiedersehen mit dem Kometen werde es nicht geben. Adieu Weihnachtsstern.
Für die Forschung dürfte Ison trotzdem ein Erfolg gewesen sein. Gerade weil er gleichsam einen Blick in sein Inneres offenbart hat. Mit dem Instrument „Sumer“, das von Experten des Max-Planck-Instituts für Sonnensystemforschung in Katlenburg-Lindau gebaut wurde und sich an Bord von SOHO befindet, hat man eine Fülle von Spektraldaten erhalten, die Auskunft über die Bestandteile des Objektes geben. Auch die Raumsonde EPOXI sowie die beiden Mars und Lunar Reconnaissance Orbiter kamen zum Einsatz. Besonders interessant sind all die auf diesem Weg erhaltenen Informationen deswegen, weil Ison wohl aus den tiefsten Tiefen des Planetensystems erstmals in Sonnennähe kam. Damit repräsentiert er gleichsam Urmaterie aus der Entstehungszeit unseres Planetensystems, die sich in der (hypothetischen) sogenannten Oortschen Wolke weit draußen an den Grenzen unserer kosmischen Heimat befindet. Die Auswertung wird allerdings einige Zeit in Anspruch nehmen.
Die Esoteriker haben natürlich auch ihre Freude an dem Kometen gehabt – wie immer. Wieder einmal kursierten die abenteuerlichsten Hypothesen im Netz. Der Komet wäre eigentlich ein UFO, hieß es da auf einigen Webseiten. Nun ja, ein „Unbekanntes Fliegendes Objekt“ war er eigentlich nicht. Aber vielleicht weiß man im Bundestag ja mehr? Dort gibt es nämlich ein Dossier zum Thema „Ufo“, das der wissenschaftliche Dienst erstellt hat. Leider bleibt es nach einem jüngst verkündeten Gerichtsbeschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg geheim. Doch das Arsenal der Esoteriker war mit dem Ufo keineswegs ausgeschöpft. Auch von einem bevorstehenden Weltuntergang wurde (wieder einmal) orakelt. Gelegentlich wollte man in Ison auch den in alten babylonischen Schriften erwähnten geheimnisvollen „Planeten X“, Nibiru genannt, erkannt haben. All diese Aufgeregtheiten einer offenkundig uninformierten Minderheit sind aber so unprofessionell, dass sich eine Auseinandersetzung mit ihnen erübrigt.
Apropos Weihnachsstern: Schon das Original, eine Art GPS für die „Weisen aus dem Morgenland“, hat möglicherweise niemals am Himmel gestanden. Die Geburtsgeschichte von Jesus Christus wird bekanntlich von zwei Evangelisten berichtet, einmal von Matthäus, zum anderen von Lukas („Es begab sich aber zu der Zeit...“). Doch nur Matthäus erwähnt einen auffälligen Stern, dem die Weisen gefolgt seien, weil sie ihn als Signal verstanden, dass die Geburt des Heilands bevorstünde. Die Details des Textes in der wortgetreuen Übersetzung aus dem Griechischen (nicht zu verwechseln mit der lateinischen Vulgata) sind oft analysiert worden. Das Ziel bestand darin, ein Himmelsereignis um die Zeit von Christi Geburt zu finden, das als der von Matthäus beschriebene „Stern von Bethlehem“ gelten könnte. Besonders der österreichische Astronom Konradin Ferrari d' Occhieppo hat in einer äußerst peniblen Studie die These erhärtet, der bewusste Stern sei eine dreimalige Begegnung, eine sog. Große Konjunktion der beiden Planeten Jupiter und Saturn im Sternbild Fische im Jahre 7 v.u.Z. gewesen. Manches spricht durchaus dafür, zumal aus der Sicht der damals angenommenen astrologischen Bedeutung einer solchen Zusammenkunft. Jupiter galt nämlich als Königsstern, Saturn als Stern Israels und die Fische als Geburtssymbol. Da in dem Text aber von einem Stern die Rede ist, die beiden Planeten aber selbst bei größter Annäherung noch zwei Vollmonddurchmesser voneinander entfernt standen, halten andere Autoren die Deutung nicht für schlüssig. Sie suchen stattdessen nach einem Kometen, den wieder andere aber wegen seiner damals allgemein mit Unheil verbundenen Wirkung für ungeeignet befinden. Außerdem gibt es in keiner alten Chronik ein passendes Objekt. Der berühmte und damals noch spektakulär helle Komet Halley war bereits im Jahre 12 v. u. Z. erschienen – zu früh für Christi Geburt. Immerhin käme auch noch eine Supernova in Frage, eine Sternexplosion, wie sie etwa Johannes Kepler im Jahre 1604 beobachtet hatte. Solche Phänomene sind extrem auffällig, bleiben über längere Zeit sichtbar und erregen eine entsprechend hohe Aufmerksamkeit. Jedoch  müsste dann der Matthäus-Bericht als der einzige Beleg für das Ereignis betrachtet werden, denn weitere Aufzeichnungen sind unbekannt. Außerdem finden sich an dem von einem der Vertreter der Hypothese berechneten Ort der Sternexplosion keinerlei Überreste. Solche müssten aber nach kosmisch so kurzer Zeit noch mühelos zu beobachten sein.
So bietet sich als Deutung des Matthäus-Textes (der ja ohnehin erst Jahrzehnte nach der Geburt des Messias aufgeschrieben wurde) schließlich doch die Vermutung an, dass der Stern in die Geschichte hinein geschrieben wurde, um die Glaubwürdigkeit zu erhöhen, dass es sich bei Jesus Christus um den wirklichen Erlöser handele. Eine Königsgeburt ohne ein himmlisches Zeichen? Unmöglich. So musste es notfalls erfunden werden. Im astrologischen Denken der damaligen Zeit verhaftet, entsprach ein solcher Stern auch der Vorhersage des Alten Testaments der Bibel (4. Buch Mose, 24,17) für einen kommenden Messias. Die gerade um jene Zeit weit verbreitete Hoffnung des Volkes auf einen Befreier von allen Übeln hatte gute historische Gründe, schmachteten doch die Palästinenser unter römischer Fremdherrschaft, personifiziert in dem verhassten Tetrarchen Herodes. Als Messias hingegen hatten sich schon viele ausgegeben, Oppositionelle eben, die gegen Herodes aufbegehrten und nach Anhängern suchten. Die vermeintlichen neuen Könige an der Spitze von sektenähnlichen Gemeinden standen untereinander durchaus in Konkurrenz. Da könnte Matthäus mit seiner PR-Idee von einem Stern des Messias, gleichsam ein „Deko-Wunder“, vielleicht doch den geschicktesten Schachzug gemacht haben. Jedenfalls war „seinem“ Stern ein weitaus längeres Leben beschieden, als einer Supernova, einer Planeten-Konstellation oder einem Kometen. Der Stern von Bethlehem ist nämlich seither ein Symbol, das weit über das Christentum hinaus Bedeutung erlangt hat. So knüpfte zum Beispiel Arnold Zweig mit seiner Erzählung „Es geschah zu Bethlehem“ (1943) an die Weihnachtsgeschichte an, als er selbst von den Nazis verfolgt und nach Palästina emigriert war. Oder Louis Fürnberg. Er formte aus der alten biblischen Weihnachtsgeschichte eine zeitgeschichtliche Novelle, in der es auch an einem „Himmelszeichen“ nicht mangelt, dem aktivierenden Stern des Mutes und der Kraft. Am einprägsamsten aber hat wohl Johannes R. Becher den überkonfessionellen und die Zeiten überdauernden Rang der Weihnachtsgeschichte in seinem immer noch aktuellen und von Hanns Eisler vertonten „Weihnachtslied“ ausgedrückt:

Es sei gegrüßt die Weihnachtszeit!
Ihr Menschen alle seid bereit,
Die Hände Euch zu reichen.
Dann herrscht der Friede unbegrenzt,
Und über allen Ländern glänzt
Des Friedens Sternenzeichen.

Was ist schon ein verpatzter Komet gegen solch ein visionäres Symbol der Hoffnung!