Mit Peter Ruben über Gesellschaft nachdenken[1]

Peter Ruben wird am 1. Dezember 2013 achtzig Jahre alt. Die Umstände in der DDR und nach der deutschen Vereinigung haben es bewirkt, dass er nicht – wie es seiner wissenschaftlichen Leistung angemessen gewesen wäre – gleichsam schulbildend wirken konnte. Gleichwohl regten seine Anstöße viele Kollegen und Freunde zum weiteren und tieferen Nachdenken über wissenschaftliche Probleme und Fragestellungen an.

Ab 1955 studierte Peter Ruben Philosophie in Berlin. Nach Vorwürfen, in „staatsfeindliche“ Aktivitäten verstrickt gewesen zu sein, musste er 1958 das Studium unterbrechen, konnte es nach „Bewährung in der Produktion“ aber ab 1961 fortsetzen und 1963 abschließen; es folgten 1969 die Promotion und 1976 die Habilitation. Sein Interesse galt zunächst dem Verhältnis der Philosophie zur theoretischen Physik und Mathematik. „Im Gegensatz zu der in der offiziellen DDR-Philosophie vorherrschenden Vorstellung, Philosophie sei Verallgemeinerung fachwissenschaftlicher Ergebnisse, besteht Ruben auf ihrer Autonomie“, heißt es in einer neueren Darstellung seiner Arbeiten. Und weiter: „Er sieht die Dialektik als Methode der Philosophie, die Analytik als die der Fachwissenschaft, wobei erstere Konkreta, letztere (insbesondere in der messenden Wissenschaft) Abstrakta thematisiert. Ruben übernimmt dabei den Abstraktionsbegriff der mathematischen Grundlagenforschung, nach dem Abstrahieren im Übergang von der Betrachtung einer Gleichheit zu der entsprechenden Identität bei vorausgesetzter Äquivalenzrelation besteht. Diesen Begriff sieht Ruben durch Marx’ Begriff der ‚verständige[n] Abstraktion‘ realisiert“. Das seit den Eleaten kontrovers diskutierte Problem des dialektischen Widerspruchs, das in den 1950er Jahren in der DDR durch Georg Klaus neu aufgeworfen wurde,  erfährt so eine Lösung. 

Die materialistische Philosophie entwickelt Ruben (im Gegensatz zur offiziellen DDR-Lehrmeinung) von der Kategorie der Arbeit her. „Diese Auffassung war im Tätigkeitskonzept von Kant bis Hegel als Subjekt-Objekt-Problem vorgegeben, aber in ihm wurde die Frage, wie das denkende Subjekt zu Objekten gelangt, idealistisch beantwortet: Die Objekte werden vom Subjekt gesetzt, Dinge erscheinen als Verdinglichungen ideellen Tuns. Ruben hebt dieses Konzept materialistisch auf, indem er, Marx folgend, in der Arbeit die Tätigkeit des Subjekts bestimmt und sie in ihrer kategorial dreigliedrigen, aus Subjekt, Arbeitsmittel und Objekt bestehenden Struktur herausarbeitet. Im Arbeitsmittel (Werkzeug), das sich der Mensch herstellt, um sich seine natürliche Umwelt anzueignen, ist der unvermittelte Gegensatz von Subjekt und Objekt aufgehoben, da es immer zugleich subjektiv-ideell und objektiv-materiell bestimmt ist. Hieraus folgert Ruben, dass der Gegenstand der philosophischen Analyse der Wissenschaften nicht allein durch Theorien – wie in der analytischen Wissenschaftstheorie –, sondern im erkennenden Verhalten der Wissenschaftler – also ihrer jeweils spezifischen Arbeitsweise – gegeben sei. Den Begriff der Wissenschaft bestimmt Ruben nach Marx als ‚allgemeine Arbeit‘. Nicht nur die Arbeitenden in der materiellen Produktion stellen ihre dinglichen Werkzeuge her, sondern auch die Wissenschaftler produzieren ihre materiellen Arbeitsmittel: Experimentalanordnungen, Messmittel, Modelle usw.“2 Seit den 1970er Jahren befasste sich Peter Ruben vor allem auch mit wirtschaftstheoretischen Fragen,  dem Problem der Entwicklung von Wirtschaft und deren Berechnung sowie den „Langen Wellen“ nach Schumpeter und Kondratieff. 

Da Rubens Philosophie-Konzept der SED-Staatsideologie nicht in den Kram passte, wurde Anfang der 1980er Jahre mit dem Revisionismus-Verdikt versucht, ihn aus der Wissenschaft auszuschließen – inwiefern dabei vor allem die Spezifik des kommunistischen Herrschaftssystems, für dessen Legitimierung die Philosophie eine zentrale Rolle spielte, zur Wirkung kam oder auch die Borniertheit und Impertinenz intriganter Neider, wie sie unter allen gesellschaftlichen Verhältnissen anzutreffen sind, lässt sich sicherlich nicht mehr vollständig rekonstruieren. Nach politischen Interventionen aus dem Westen konnte Peter Ruben jedoch seinen Arbeitsplatz behalten, verbunden allerdings mit einem Publikationsverbot und dem Verbot, öffentlich aufzutreten.

In den Umbruchszeiten am Ende der DDR wurde Peter Ruben zum ersten (und letzten) frei gewählten Direktor des Zentralinstituts für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR. Seine Bemühungen, das Institut als Forschungsstätte der Philosophie des vereinten Deutschlands zu erhalten, scheiterten nun an der Borniertheit der Evaluatoren und der bundesdeutschen Wissenschaftspolitik. Bis zum Erreichen des Rentenalters verbrachte er noch einige Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder. Von 1990 bis 2010 war Peter Ruben Präsident des maßgeblich von ihm gegründeten Vereins Berliner Debatte Initial. Im Rahmen seiner wissenschaftlichen Arbeiten befasste er sich nun vor allem auch mit Themen, die mit der Analyse des Scheiterns des Realsozialismus zusammenhängen, sowie der Geschichte der Philosophie in der DDR.

Berliner Debatte Initial – das Programm von 1990

Die Abonnenten der Zeitschrift „Sowjetwissenschaft / Gesellschaftliche Beiträge“ erhielten Anfang 1990 das erste Exemplar der erneuerten Zeitschrift. Sie hieß jetzt „INITIAL. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft“. Bereits das erste Heft war ein originäres Resultat der Umbruchsprozesse in der DDR. Auch künftig sollten „Gedanken sowjetischer Gesellschaftswissenschaftler ins Land“ geholt werden – lautete ein Teil der Positionsbestimmung der Redaktion in diesem ersten Heft, immerhin formuliert am Jahresbeginn 1990, als Perestroika und Glasnost noch Momente der Umwälzungen in der DDR zu sein schienen und der Zusammenbruch der Sowjetunion für niemanden ernsthaft vorstellbar war. Zugleich sollte die Zeitschrift Podium der Debatte um die weitere gesellschaftliche Entwicklung und um die Analyse des dahingehenden Realsozialismus sein, zunehmend mit „Autoren aus der DDR und aus anderen Ländern“. Die Verabschiedung von der kommunistischen Parteilichkeit war bereits zu diesem Zeitpunkt erfolgt: „Dem Humanismus verpflichtete Ideen werden hier eine theoretisch-publizistische Tribüne haben.“3 In einem zweiten redaktionellen Text zur Darstellung des Anliegens der neuen Zeitschrift wurde hervorgehoben, die gesellschaftswissenschaftliche Forschung in der DDR, „deren neugewonnene Freiheit es nun ermöglicht, provinzielle Rahmen zu sprengen“, werde in der gewandelten Situation ihren Beitrag zu leisten haben.4

Am 6. April 1990 wurde der Verein Berliner Debatte Initial gegründet, zunächst praktisch als Förderverein für die Zeitschrift.5 Zum Vereinspräsidenten wurde Peter Ruben gewählt. Er stand dafür, unter den neuen Bedingungen ernsthafte gesellschaftstheoretische Debatten zu führen, die dringender denn je waren. Im folgenden will ich zunächst das damals formulierte Selbstverständnis des Vereins und der Zeitschrift – die ja immerhin inzwischen im 24. Jahrgang herauskommt – rekapitulieren, weil es wesentlich durch Peter Ruben geprägt wurde. Es ist Ausdruck seines wissenschaftstheoretischen Grundverständnisses, das eine Unterordnung der Philosophie bzw. insgesamt der Sozial- und Geisteswissenschaften unter den Ideologievorbehalt ablehnt, wie er in dem früher oft zitierten Leninschen Diktum konzentriert zum Ausdruck kommt: „bürgerliche oder sozialistische Ideologie. Ein Mittelding gibt es hier nicht“.6

Darüber hinaus hat Peter Ruben zu verschiedenen Themen gearbeitet, die für die politikwissenschaftliche Analyse und zeithistorische Debatten von hoher Bedeutung sind. Das soll zumindest in Umrissen deutlich gemacht werden. Aus der Rückschau kann gesagt werden: Das Vereinsdokument von 1990 bringt im Grunde nicht nur eine Positionsbestimmung, sondern auch ein Forschungsprogramm zum Ausdruck. Der Verein und die Zeitschrift waren durch die Umstände zu schwach, um dies vielleicht vollständig abarbeiten zu können. Aber Peter Ruben hat auch auf diesen Gebieten in den vergangenen fast 25 Jahren wesentliche Beiträge geleistet.

In der Mitteilung über die Vereinsgründung am 6. April 1990 heißt es: „Das Ziel von Berliner Debatte INITIAL besteht vor allem darin, alle diejenigen Wissenschaftler, Politiker, Kulturschaffenden und theoretisch interessierten Menschen zu vereinen, die Spaß daran finden, den Meinungsstreit über alle interessierenden sozialen Entwicklungen der Gegenwart zu pflegen.“ Damit wurde ein Credo formuliert, das auf Debatte und Meinungsstreit zielt, sich von Dogmen und Begrenzung auf einzelne Schulen in der Wissenschaft verabschiedet hat, mithin Erkenntnisgewinn aus konkurrierenden wissenschaftlichen Ansätzen ziehen will, eine breite sozialwissenschaftliche Zugangsweise und interdisziplinären Diskurs präferiert und zugleich den wissenschaftlichen Streit hin in die Gesellschaft öffnen will. „Wichtigster Ort der Streitkultur ist für den Verein die Zeitschrift INITIAL […]. So eröffnet Berliner Debatte INITIAL der Zeitschrift neue Wirkungsfelder und materiellen Spielraum für interessante Projekte.“7

In seiner Grundsatzerklärung: „Unser Selbstverständnis oder Was will INITIAL?“, veröffentlicht im folgenden Heft der Zeitschrift, charakterisierte der Vorstand des Vereins die Zeitschrift als „sozialwissenschaftliches Journal mit Redaktionssitz in Berlin […], um angesichts tiefgreifender Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa und der Probleme der gesamteuropäischen Einigung eine Tribüne für die geistigen Auseinandersetzungen um die vernünftigen Wege, die sozialwissenschaftlich begründbaren Entscheidungen, die ökonomisch und ökologisch vertretbaren Lösungen zu bieten, die die kommende gesellschaftliche Entwicklung bestimmen werden“. Die programmatischen Aussagen sollen im folgenden ausführlicher zitiert werden, weil sie konzeptionell über den damaligen Zeitpunkt des Gesellschaftsumbruchs, der Beendigungen und der Neuanfänge weit hinausreichen: „INITIAL­ will keiner besonderen Partei das Wort reden, sondern ein sozialtheoretisches Forum sein, um wissenschaftliche Überlegungen unterschiedlicher Denkrichtungen zu ökonomischen, soziologischen, politischen, psychologischen, kulturellen und ökologischen Problemen des gesellschaftlichen Fortschritts zu erörtern. INITIAL sieht in der Wissenschaft getreu der Tradition der Aufklärung, die einst auch in Berlin eine Heimstatt hatte, das Allgemeine aller menschlichen An- und Einsichten, aus welcher besonderen Stellung, parteipolitischen Sicht oder weltanschaulichen Voraussetzung sie auch immer gewonnen werden.“8

Ob Geistes- und Sozialwissenschaften nach dem Realsozialismus, am Ende des 20./ Anfang des 21. Jahrhunderts noch oder wieder eine „aufklärerische Funktion“ haben können, ist in der Zeitschrift, in der Redaktion und im Verein sowie in öffentlichen Streitgesprächen mehrfach debattiert worden. Es wurde nicht immer ein alle Beteiligten befriedigender Konsens gefunden. Gleichwohl blieb es das gemeinsame Verständnis, wonach allein wissenschaftliche Kriterien und zugleich die Tradition der Aufklärung profilprägend und Fluchtpunkte von Berliner Debatte Initial sind. Weiter hieß es: „INITIAL ist daher für alle Soziallehren offen, seien sie in der Tradition der klassischen Arbeiterbewegung ausgebildet oder in der der christlichen, der liberalen oder konservativen Soziallehre. INITIAL will keinen Sonderinteressen dienen, kein ideologisches Banner aufziehen, sondern jederzeit die Interessen der Erhaltung der menschlichen Gattung vertreten, die nur wirklich bestimmt sind, wenn sie aus der Verständigung erwachsen, die die Demokratie ermöglicht.“9

Während es im engeren Sinne um das Selbstverständnis eines kleinen Vereins und der von ihm herausgegebenen Zeitschrift ging, war der Bezug des eigenen Tuns das generelle Verhältnis von Wissenschaft und gesellschaftlichem Handeln. Wissenschaft war erklärt als „das Allgemeine aller menschlichen An- und Einsichten“ und damit waren für die Bewertung von Wissenschaft allein wissenschaftliche Kriterien in Ansatz zu bringen. Zugleich wurde betont, dass Interessen immer differenziert sind. Es gibt also kein gesellschaftliches oder politisches Allgemein- oder Gattungsinteresse, das aus einer bestimmten wissenschaftlichen Einsicht oder Position bzw. Weltanschauung folgt. Damit ist weder die Philosophie die Magd einer bestimmten politischen Richtung oder Politik, noch eine soziale Gruppierung, politische Partei oder Bewegung der Vollstrecker einer eineindeutigen Weltinterpretation. Das war der definitive, nun auch theoretisch-konzeptionelle Abschied von dem gerade überwundenen Parteimarxismus. Die Wissenschaft war befreit von der Zumutung, einer Parteipolitik zu- oder untergeordnet zu sein. Umgekehrt machte der Verweis auf die Demokratie deutlich, dass politische Entscheidungen nach anderen Kriterien als denen von Wissenschaft gehen. Verständigung über Interessenwahrnehmung in einem politischen Prozess erfolgt über Mehrheiten, deren Relevanz nicht dem Kriterium wissenschaftlicher Erkenntnis oder Einsicht folgt. Zu den aus der konkreten Situation am Ende des Realsozialismus folgenden Aufgaben wurde dann betont: „INITIAL versteht sich als ein Organ der sozialen Aufklärung und als Ausdruck der Verabschiedung der alten ideologischen Dichotomien in der Beantwortung der sozialen Frage. Was immer der ‚ideologische Klassenkampf‘ in der Vergangenheit als Index der Sozialkonflikte bedeutet haben mag, die wissenschaftliche Aufklärung hat er nicht ermöglicht, sondern bestenfalls auf das pragmatisch Machbare reduziert, schlimmstenfalls ihre Vertreter in Lager getrieben oder in die Emigration verbannt. Gegen diese ideologische Unterwerfung der Sozialwissenschaft richtet sich INITIAL in dem Bewusstsein, dass die soziale Frage nicht erledigt ist, sondern allein schon durch die Wirtschaftsentwicklung beständig reproduziert wird und heute weltweite Bedeutung erlangt hat. Die internationale Schuldenkrise, der Nord-Süd-Konflikt, der bare Hunger und die ökologische Bedrohung der Naturbedingungen menschlicher Produktion sind dafür Beweis genug. [...] INITIAL wird in Berlin herausgegeben und versteht sich als in der Tradition der ursprünglichen antifaschistischen  und demokratischen Ziele stehend, die in der Gründung und der Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik stets mitgewirkt haben und bleibendes Erbe des kommenden vereinten Deutschlands sein werden. INITIAL sieht sich in der verpflichtenden Aufgabe, den Gründen und Ursachen der stalinistischen Vergangenheit nachzugehen, genauer zu verstehen, was im Herbst 1989 in Mittel- und Osteuropa endgültig seine geschichtliche Auflösung erlebt hat. INITIAL verteidigt die Freiheit der Person und bemüht sich, einen Beitrag zur Verständigung der Nationen zu leisten, deren Selbstbestimmung Bedingung ihrer Verständigung ist.“10    

Das bedeutet, wenngleich die vereinfachten, dichotomischen Antworten auf die soziale Frage erledigt sind, die soziale Frage ist es nicht. Sie wird „durch die Wirtschaftsentwicklung beständig reproduziert“ – das Wort „Kapitalismus“ kommt hier nicht vor, aber der Kontext ist klar: Die soziale Frage wird sich mit der (Wieder-)Einführung kapitalistischer Produktionsverhältnisse im Osten Europas verstärkt reproduzieren. Sie wird mit der Globalisierung globalisiert und durch die ökologische Frage weiter zugespitzt. (Da bei Ruben die Arbeit als Zentralkategorie der Analyse menschlicher Verhältnisse in Ansatz kommt, ist hier – im Unterschied zu den heute modischen Sprüchen, die die Umweltproblematik im Sinne eines romantisierenden Mit-Fühlens mit der leidenden Natur artikulieren, – in einem streng Marxschen Sinne von der „ökologische[n] Bedrohung der Naturbedingungen menschlicher Produktion“ die Rede. Weil: ohne menschliche Produktion keine menschliche Existenz – ein Punkt, der für die postmodernen Bauch-Sozialisten außerhalb des Gesichtsfeldes liegt.) Und deshalb ist soziale Aufklärung, gemeint ist eine Aufklärung, die sich insbesondere auch auf die soziale Frage bezieht, neu gefragt. Das hat Ruben in seinen Arbeiten zur Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft sowie zu den Bestimmungen von Sozialismus und Kommunismus dann weiter ausgearbeitet.

Die Analyse des stalinistischen Herrschaftssystems wird als eine spezifische Aufgabe definiert, die sich auch aus der Verortung in Berlin ergibt. Dabei jedoch wird die ursprüngliche antifaschistische Tradition, die in die Geschichte der DDR eingebunden ist, als ein positives Erbe aufgerufen, das im vereinten Deutschland bleibend zu bewahren ist. Diese Position ist von der, eine klare Analyse dessen vorzunehmen, „was“ da im Herbst 1989 untergegangen ist, klar geschieden. Das Ende der DDR desavouiert nicht die Gründe ihrer Entstehung; jene wiederum exkulpieren nicht die Ursachen ihres Scheiterns. Und der Realsozialismus ist in seinem Entstehen, seiner Entfaltung und seinem Scheitern in breitere historische Zusammenhänge einzuordnen. Hier schließen sich dann die Arbeiten von Ruben zum Platz der DDR in der deutschen Geschichte und zu den Charakteristika des kommunistischen Herrschaftssystems an.

Schließlich ist ein positiver Bezug sowohl auf die Freiheit der Person wie auf die Nation hergestellt. Die eine schließt die andere nicht aus; die Freiheit der einen Nation setzt die der anderen voraus, ihre Selbstbestimmung ist Vor­aussetzung ihrer Verständigung mit anderen. Hier haben Rubens Arbeiten zu Gemeinschaft und Gesellschaft sowie zur Frage der Nation Wesentliches geleistet.

Sozial- und Geisteswissenschaftler waren in der DDR 1989 in einer eigenartigen Situation. Staatstragende, die theoretisch-methodisch vom Marxismus herkamen, wie oppositionelle, die z.T. ziemlich eng an aktuelle westliche Debatten angeschlossen hatten, wurden vom Zusammenbruch des eingewöhnten DDR-Systems überrascht. Zwar erklärte diese oder jener hernach, es schon immer gewusst zu haben, doch lässt sich dies eher mit Freud als mit sozialtheoretischen Ansätzen erklären, und kann hier vernachlässigt werden. Im Nachhinein zeigte sich, dass es keinen nennenswerten geistigen, wissenschaftlich formulierten Vorlauf für die Wende gab, der den neuen politischen Akteuren Anregungen hätte geben können.11 Die wissenschaftliche Interpretation des Umbruches lief den Ereignissen hinterher, nicht umgekehrt. So waren das Tempo sowie die Art und Weise des Vollzugs der deutschen Einheit nicht nur dem realen Machtungleichgewicht zwischen der DDR und der BRD geschuldet, sondern auch den programmatischen Defiziten aller Akteure in der zu Ende gehenden DDR.

Dennoch gab es ein Wechselverhältnis zwischen der Wende auf den Straßen der DDR und den Veränderungen in den wissenschaftlichen Instituten. Mit dem Macht- und Ideologiemonopol der SED im Staate fiel auch das in den Sozialwissenschaften. Zum einen verschwanden die engen Dogmen des Marxismus-Leninismus, ebenso die „Tabu-Themen“, die es in jeder Sozial- und Geisteswissenschaft gegeben hatte. Jeder suchte, fortan seine Forschungsthemen und seine wissenschaftlichen Ansätze selbst zu bestimmen. Zum anderen wurden die institutionellen Strukturen umgestürzt. Die Parteiaufpasser, Denunzianten und von der Parteibürokratie eingesetzten Wissensverwalter verschwanden von selbst oder wurden dazu genötigt. Die Institute wählten in der Regel neue Leitungen – und Peter Ruben wurde so der erste gewählte Direktor des Philosophie-Instituts der Akademie der Wissenschaften. Diese wiederum gab sich einen „Runden Tisch“, der eine neue Wissenschaftsverfassung ausarbeiten sollte. Viele DDR-Wissenschaftler haben sich 1989/1990 den aufrechten Gang verordnet und öffentlich sprechen gelernt. So ähnlich wie in den Medien und anderen Institutionen fand ein weitgehender Prozess der Erringung der Freiheit statt, groß wie nie. Das Initial-Programm von 1990 ordnet sich hier ein.

Die alten Zwänge waren beseitigt, neue schienen nicht zu bestehen. Die Vertreter der bundesdeutschen Wissenschaftseinrichtungen waren kooperativ und freundlich, vermeinten sie doch zunächst, die neue Wissenschaftsentwicklung werde sich noch eine Zeitlang in einer eigenständigen DDR vollziehen. Als jedoch klar war, dass es zur deutschen Einheit geht, und die ostdeutschen Wissenschaftler um die gleichen „Fördertöpfe“ konkurrieren würden, wurden Ehrabschneidung, Inkompetenzvermutung und Stasi-Unterstellung zu Mitteln der innerwissenschaftlichen Konkurrenz in der gesamtdeutschen Szene, um die ungeliebte ostdeutsche Konkurrenz auszuschalten.

Wissenschaftsgeschichtlich war in der DDR bzw. Ostdeutschland die Zeit vom Herbst 1989 bis Ende 1990, als die institutionellen Abwicklungen der ostdeutschen Wissenschaftseinrichtungen begannen, außerordentlich produktiv und brachte viel Interessantes hervor. In den meisten späteren Darstellungen kommt diese Phase der deutschen Wissenschaftsgeschichte nicht vor. Sie erscheint lediglich als abschließende Periode der DDR-Wissenschaft. Ihre geistigen Wirkungen reichen vielfach jedoch über das Jahr 1990 hinaus. Berliner Debatte Initial ist ein kleines, wenngleich bescheidenes Zeugnis dessen.

Roher Kommunismus

Bereits während der „Wende“ hatten in der DDR kritische, oft schon immer um selbständiges Denken bemühte unorthodoxe Sozial- und Geisteswissenschaftler begonnen, die DDR, wie sie sie kannten, zu ergründen, für Analysen methodische und theoretische Voraussetzungen zu schaffen. Vieles war unfertig, konnte schon aus konzeptionellen Gründen nicht reifen, anderes wurde durch die Umstände abgebrochen.

Insbesondere zum Thema DDR und „Untergang des Realsozialismus“ gab es neue Ansätze, die sich jedoch erheblich voneinander unterschieden. Einiges findet sich im Jahrgang 1990 von Berliner Debatte Initial. Exemplarische Verweise sollen dies deutlich machen. Michael Brie begründete, dass der „administrativ-zentralistische Sozialismus“ sich in einer „allgemeinen Krise“ befindet, fasste diese aber nicht linear als sich ständig vertiefend, sondern als zyklisch verlaufend. Die Ursache sah er in dem wachsenden Widerspruch zwischen der im System erfolgenden Entwicklung von Produktivkräften und menschlichen Bedürfnissen und Werten einerseits und der „durch die Enteignung der Basissubjekte verwirklichten Zentralisierung der gesellschaftlichen Kräfte“. Die Folgerung lautete: „Es bedarf der revolutionären Ablösung dieses Systems selbst“.12 Reinhard Mocek analysierte den „Patriarchensozialismus“,13 Hans-Peter Krüger betonte, dass moderne Gesellschaft und Marxismus-Leninismus einander ausschließen; es reiche nicht, sich auf „Zurück zu Marx“ zurückzuziehen, sondern es seien die heutige Problemlage und der relevante internationale Forschungsstand zu berücksichtigen.14 Neben dem Versagen des Realsozialismus in der DDR auf dem Felde der Wirtschaft, war es das Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Pluralisierung und parteizentrierter Struktur des politischen Systems, das wesentlich zu den inneren Ursachen des Scheiterns der DDR gehörte, meinte Rolf Reißig. „Mit dem ‘realen Sozialismus’ ist deshalb auch Abschied zu nehmen von früheren Epochenillusionen, altem Systemdenken, Fortschrittsdeterminismus [...] und abstrakten Sozialismusmodellen.“15

Dagegen unterstrich Wolfgang Engler: „In der DDR revoltierten im Herbst 1989 nicht ‚die Produktivkräfte‘ gegen die ‚Produktionsverhältnisse‘, nicht die ‚Arbeiterklasse‘ gegen die sich vormodern reproduzierende Klasse der ‚Staatskapitalisten‘, es revoltierte die sich im Proto-, d. h. Atomisierungszustand befindliche Gesellschaft der Individuen gegen das engmaschige Netz von Makro- und Mikromächten, die die Freisetzung von millionenfach schon produzierten autonomen Handlungs- und Urteilsfähigkeiten verhinderten. Trifft diese Feststellung zu, steht zu erwarten, dass die aufbegehrenden Individuen ihren Ausgangs­impulsen auch künftig verhaftet bleiben und darüber wachen werden, dass man ihnen keine anderen Motive unterschiebt, weder abstrakt antikapitalistische noch roh-kapitalistische. Sofern es ihnen gelingt, die Demokratisierung der politischen Machtverhältnisse mit dem Konstitutionsprozess einer Gesellschaft der Individuen zu verbinden, die die klassisch-bürgerlichen Öffentlichkeiten in sich aufnimmt und deren macht- wie marktkritische Funktionen revitalisiert, kann die Eigenlogik der Kapitalakkumulation an die Existenz- und Reproduktionsbedingungen der Menschen rückgekoppelt werden“.16 Dieses künftige Verhaftet-Bleiben hat sich als heroische Illusion der „Wende-Zeit“ erwiesen. Das Überstülpen der Institutionen und Machtverhältnisse der BRD auf die beigetretene DDR hat jene erhoffte Eigensinnigkeit als Element des Öffentlichen verhindert und sie in die Nischen der individuellen Existenz zurück verwiesen. Das heißt aber nicht, dass das Uneingelöste des Herbstes 1989 nicht in künftigen Krisen als Berufungsgrundlage für emanzipatorisches Handeln wieder angerufen werden kann. 

Das Herangehen von Peter Ruben war grundsätzlicher. Er charakterisiert den Realsozialismus unter Bezug auf Marx als „rohen Kommunismus“, der den beständigen Krieg gegen die Persönlichkeit des Menschen und seine Subsumtion unter den Apparat bedeutet habe. So stellt er zunächst die Frage: „Wie soll man nun eine sozialökonomische Verfassung nennen, die wesentlich nur einen einzigen Produzenten kennt, den Staat, die entscheidend auf dem Ausschluss des Marktes, d. h. des Austausches, basiert, die mit dem Gebrauch einer reinen Binnenwährung die Außenwirtschaftsbeziehungen dem Staatsmonopol unterwirft?“17 Dann verweist er auf J. G. Fichtes Schrift: „Der geschloßne Handelsstaat“ aus dem Jahre 1800 und betont: „Ich ziehe es vor, die zur Debatte stehende sozialökonomische Verfassung mit dem jungen Marx ‚rohen Kommunismus‘ zu nennen und festzustellen: ‚Dieser Kommunismus – indem er die Persönlichkeit des Menschen überall negiert – ist eben nur der konsequente Ausdruck des Privateigentums […] Der Gedanke jedes Privateigentums als eines solchen ist wenigstens gegen das reichere Privateigentum als Neid und Nivellierungssucht gekehrt […] Der rohe Kommunist ist nur die Vollendung dieses Neids und dieser Nivellierung von dem vorgestellten Minimum aus [...] Wie wenig diese Aufhebung des Privateigentums eine wirkliche Aneignung ist, beweist eben die abstrakte Negation der ganzen Welt der Bildung und der Zivilisation, die Rückkehr zur unnatürlichen Einfachheit des armen und bedürfnislosen Menschen, der nicht über das Privateigentum hinaus, sondern noch nicht einmal bei demselben angelangt ist.‘ Und weiter heißt es bei Marx: ‚Die erste positive Aufhebung des Privateigentums, der rohe Kommunismus, ist also nur eine Erscheinungsform von der Niedertracht des Privateigentums, das sich als das positive Gemeinwesen setzen will.‘“18

Weiter heißt es dann: „Was für Marx 1844 zunächst nichts weiter als Gegenstand einer literarischen Kontroverse war, ist für uns heute praktischer, materieller Gegenstand wirklicher geschichtlicher Aufhebung.“ Ruben geht es „um einen vernünftigen Begriff des Sozialismus“. Seine Folgerung ist deshalb: „Ich vertrete also die These: Was jetzt den Gang ins Konkursverfahren antritt, ist mitnichten der Sozialismus, der überhaupt noch keine reale, dauerhafte geschichtliche Gestalt gefunden hat […], sondern der rohe Kommunismus im Sinne der Marxschen Charakterisierung, den wir heute auch das System des Stalinismus nennen.“19 Die Natur dieses rohen Kommunismus in der modernen Welt ist es, die Wirtschaft einer Gemeinschaft – „eines Volkes bzw. einer Nation“ – „so zu reorganisieren, dass ausschließlich Gemeineigentum an den objektiven Produktionsbedingungen besteht und mittels der politischen Realisierung des Gemeinwesens […], d. h. mittels des Staats, mehr oder weniger produktiv genutzt wird. Der rohe Kommunismus ist daher identisch mit der ausschließlichen Existenz der Gemeinwirtschaft, mit der fortwährenden Niederhaltung der Person als eines Wirtschaftssubjekts.“20 Die Unterdrückung der Person als Wirtschaftssubjekt führt zu einem sozialökonomischen Inhalt des Systems, der nichts anderes ist „als die politisch-militärische Durchsetzung der subjektiv vorgestellten Interessen des Gemeinwesens durch seine obersten Vertreter des ‚Apparates‘.“ Damit wird zentrale Aufgabe nicht die wirtschaftliche Entwicklung, sondern die „Erhaltung der politischen Macht, die zur privaten Verfügung über das Gemeinwesen verkommt“. Die Liquidation des Austausches führt zu seiner „Ersetzung durch die Zuteilung, womit die Hierarchisierung der Gemeinschaft unweigerlich verbunden ist.“ Die Konsequenz eines solchen Systems „ist der stete Angriff auf die Persönlichkeit des Menschen und daher die Verstopfung des Entwicklungspotentials […] und folglich die Produktion der Stagnation.“

Die Folgerung daraus ist, dass der Realsozialismus als der „rohe Kommunismus“ im Sinne von Marx nicht „der Sozialismus“, sondern eine wesentlich im politischen Kampf hergestellte „abstrakte Negation des Kapitalismus“ war. „Mit dieser Sicht des sozialökonomischen Inhalts des Stalinismus kann der Blick wohl frei werden für das, was vernünftig ‚Sozialismus‘ im Sinne der Lösung der klassischen ‚sozialen Frage‘ genannt werden mag.“21 Die Frage nach dem Sozialismus ist mit dem Ende des „realen Sozialismus“ im Osten Europas nicht erledigt, sondern stellt sich auf historisch neue Weise.

Gemeinschaft und Gesellschaft

Eines der sozialtheoretischen Probleme, die bei Marx und Engels nicht hinreichend ausgearbeitet wurden, ist die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft. In der Soziologie und im weiteren Sinne den in Sozialwissenschaften geht diese auf Ferdinand Tönnies zurück. Tönnies ging davon aus, dass die bisherige wissenschaftliche Terminologie Gemeinschaft und Gesellschaft ohne Unterscheidung nach Belieben zu verwechseln pflegt. Unter Verweis zunächst auf den umgangssprachlichen Gebrauch des Deutschen machte er die unterschiedliche Verwendung der beiden Wörter deutlich: „Alles vertraute, heimliche, ausschließliche Zusammenleben [...] wird als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die Öffentlichkeit, ist die Welt. In Gemeinschaft mit den Seinen befindet man sich, von der Geburt an, mit allem Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde [...] Man leistet sich Gesellschaft; Gemeinschaft kann niemand dem anderen leisten [...] Gemeinschaft der Sprache, der Sitte, des Glaubens; aber Gesellschaft des Erwerbes, der Reise, der Wissenschaften. So sind insonderheit die Handelsgesellschaften bedeutend; wenn auch unter den Subjekten eine Vertraulichkeit und Gemeinschaft vorhanden sein mag, so kann man doch von Handels-Gemeinschaft nicht reden. Vollends abscheulich würde es sein, die Zusammensetzung Aktien-Gemeinschaft zu bilden. Während es doch Gemeinschaft des Besitzes gibt: an Acker, Wald, Weide. Die Güter-Gemeinschaft zwischen Ehegatten wird man nicht Gütergesellschaft nennen [...] Im allgemeinsten Sinne wird man wohl von einer die gesamte Menschheit umfassenden Gemeinschaft reden, wie es die Kirche sein will. Aber die menschliche Gesellschaft wird als ein bloßes Nebeneinander voneinander unabhängiger Personen verstanden.“22

Peter Ruben hat diesen Ansatz rekonstruiert und hervorgehoben, dass „die Gemeinschaft durch die unmittelbare Kooperation in der Erhaltung des physischen Lebens via Produktion realisiert“ ist, „die Gesellschaft aber durch den Austausch, durch den Handel.“23 An anderer Stelle betont Ruben, dass Gemeinschaft gleichsam „die naturhistorische Verbindungsweise zwischen Menschen (ist), die bereits allein auf Grund der sexuellen Reproduktion den Grund der Produktion menschlicher Individuen bildet. Gesellschaft dagegen ist Produkt des Handelns der Individuen als Personen, vermittelt durch den Kontrakt, den sie schließen. Das Individuum ist Teil der Gemeinschaft und zwar sein letzter unteilbarer Teil, wie es diese lateinische Übersetzung des griechischen atomos auch meint. Die Gemeinschaft ist gegen ihre Individuen daher auch in der Verteilung, in der Distribution wirklich. Die Gesellschaft wird [...] durch den Austausch gebildet, der – in der rein theoretischen Annahme – wenigstens zwei gegeneinander verschiedene und miteinander in Verkehr tretende Gemeinschaften voraussetzt, die im Verkehr zumindest eine Preisverhandlung betreiben [...] Mit dieser Beschreibung verzichte ich auf Tönnies‘ Bemühung des Willens und denke lieber an die Produktion und den Austausch, wenn ich seine Termini Gemeinschaft und Gesellschaft übernehme. Isolierte Individuen, so wissen wir, können nicht menschliche Generationen garantieren. Dies gelingt erst bei Gemeinschaften von etwa 500 Individuen, die mit interner Arbeitsteilung unmittelbar kooperativ zusammenwirken und in reiner Subsistenzwirtschaft sich bei passenden Umweltbedingungen auf Dauer, d.h. über Generationen hinweg, erhalten können. So ist die Gemeinschaft unerlässliche Bedingung individueller Existenz. Die Gesellschaft dagegen ist die eigentlich historische Erfindung, die mit der Entdeckung gemacht wird, dass Gemeinschaften Bedürfnisse mit fremden Gütern befriedigen können, wenn sie anderen Gemeinschaften eigene Güter zur Befriedigung fremder Bedürfnisse zu liefern fähig sind. Die Entwicklung der Gesellschaft impliziert die Produktion von Gütern über den Eigenbedarf hinaus. Sie ist daher die notwendige Bedingung der Entwicklung des Reichtums.“24

Folgt man diesem Verständnis, so stellen Gemeinschaft und Gesellschaft nicht, wie von etlichen zeitgenössischen Geistes- und Sozialwissenschaftlern unterstellt, einen konträren Gegensatz dar. Auch ist nicht Gemeinschaft eine niedere Form, weil in ihr etwa die bürgerliche Distinktion der Gesellschaft nicht gelten würde. Allein schon die Vorstellung, dass die Vermarktlichung, wie von der neoliberalen Ideologie unterstellt, immer mehr alle Seiten des menschlichen Lebens erfassen würde, liefe auf die Auflösung der bestehenden Vergemeinschaftungsformen hinaus. Vielleicht ist der jahrelange Rückgang der Geburtenrate in Deutschland ja gerade Ausdruck des marktförmigen Verhaltens weiter Teile der deutschen Mittelschichten, mit der Folge – wie die Debatten um Zuwanderung zeigen –, dass die einfache Reproduktion der Bevölkerung schon aus Gründen des hierzulande installierten Produktionsapparates nur durch Menschen auszugleichen ist, die in anderen Gemeinschaften aufgewachsen sind. Die öffentliche Thematisierung von Ehrenamt und häuslicher Arbeit zeigt ebenfalls, dass die Gesellschaft bei Strafe ihres Untergangs nicht die Gemeinschaftsformen aufzehren kann. Beide sind nicht Geschöpfe von Willensentscheidungen, sondern Ausdruck der wirklichen Existenz und Bewegung menschlicher Bindungen als positiver Verbindungen der Menschen in ihrem Lebensprozess, die wiederum aus den materiellen Lebensverhältnissen erwachsen.

Es handelt sich um einen unaufhebbaren Dualismus, der jedoch in einem beständigen Spannungsverhältnis steht. Dazu wieder Ruben: „Wird durch den Austausch keine einfache Reproduktion (Gleichgewicht) bewerkstelligt, sondern Innovation, so stellt die gesellschaftliche Bewegung die Struktur der beteiligten Gemeinschaften in Frage und zwingt sie zur Reorganisation, zur Reform. Dadurch tritt der Schein der Feindlichkeit der Gesellschaft gegen die Gemeinschaft ein [...] Er bleibt aber ein Schein, weil die Gemeinschaft schon um den Preis der physischen Erhaltung der Gattung gar nicht beseitigt werden kann.“ Der Dualismus von Gemeinschaft und Gesellschaft erklärt sich hinreichend – nach Tönnies wie nach Ruben – aus dem Verhältnis zwischen Produktion und Austausch.

Ist also davon auszugehen, dass die Einzelmenschen in Gemeinschaften Individuen, in Gesellschaften Personen sind, d.h. kontraktfähig und als solche Vertragspartner, so gilt: „Gemeinschaften sind durch gemeinsame Vermögen bestimmt, z.B. durch eine Gemeinschaftskasse [...] Besondere Gesellschaften unterstellen die Assoziation von Teilen persönlicher Vermögen, die nicht zum Gruppeneigentum in dem Sinne werden, dass nur die Gruppe als solche über seine Verwendung entscheidet (die Geschäftsführung handelt im Auftrag der Gruppe, und nie kann die Geschäftsführung die Gruppenmitglieder entmündigen, ausschließen, kooptieren oder sonst in irgendeiner Form in ihre Funktionäre verwandeln, das gerade kann ein Gemeinwesen mit seinen Individuen in der Tat veranstalten) [...] Personen bringen Teile ihres Eigentums in eine geschlossene Gesellschaft ein, und sie bleiben darin die persönlichen Eigner“. 25

Bei Marx ist die Ununterschiedenheit der Gemeinschaft von der Gesellschaft Moment seines Konzepts der Entfremdung der Arbeit. So schreibt er: „Die gesellschaftliche Tätigkeit und der gesellschaftliche Genuss existieren keineswegs allein in der Form einer unmittelbar gemeinschaftlichen Tätigkeit und unmittelbar gemeinschaftlichen Genusses, obgleich die gemeinschaftliche Tätigkeit und der gemeinschaftliche Genuss, d.h. die Tätigkeit und der Genuss, die unmittelbar in wirklicher Gesellschaft mit anderen Menschen sich äußert und bestätigt, überall da stattfinden werden, wo jener unmittelbare Ausdruck der Gesellschaftlichkeit im Wesen ihres Inhalts begründet [...] ist.“26 Ruben merkt an, dass Marx hier das Adjektiv gemeinschaftlich durch die Wortfolge unmittelbar in wirklicher Gesellschaft mit anderen Menschen erklärt. Das zeigt, dass er die Möglichkeit der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft ausspricht, aber im eigenen Denken nicht wirklich bestimmt.27

Ist in diesem Sinne die Gemeinschaft unmittelbare Gesellschaft, so kann nur die vermittelte Gesellschaft nicht Gemeinschaft sein. Sie aber ist eben die, die das Individuum durch Gebrauch der Produkte anderer Individuen eingeht. Marx folgert demgemäß: „Es ist vor allem zu vermeiden die ‚Gesellschaft‘ wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen.“ Das läuft dann darauf hinaus, die Gesellschaft als Gemeinschaft zu denken bzw. als die „wahre Gesellschaft“ im Gegensatz zur „falschen“ oder „entfremdeten“. Konsequenz kann dann nur sein, diese Gesellschaft abzuschaffen. Der Einzelmensch ist dann als Individuum Element der Gemeinschaft, sein letzter unteilbarer Teil, gegen den sie das Ganze ist, er ist jedoch nicht mehr kontraktfähige Person in der Gesellschaft, die sich am Gütertausch beteiligt. Folgerichtig wurde in allen kommunistischen Ländern nicht nur das Privateigentum am Produktivvermögen beseitigt, sondern gerade in der Anfangsphase jede Form des „Schachers“ am Staat vorbei streng geahndet.

Die von Ruben bei der Analyse des „rohen Kommunismus“ als zentral ausgemachte „Niederhaltung der Person als eines Wirtschaftssubjekts“ war so absichtsvolles Ergebnis eines Programms und einer Politik, die Lösung der sozialen Frage durch Abschaffung nicht nur des Marktes, sondern der Gesellschaft erreichen zu wollen. Das bedeutet aber umgekehrt nicht, nur noch Gesellschaft um den Preis der Zerschlagung der Gemeinschaften anvisieren zu wollen.

Sozialismus oder Kommunismus?

Die Auseinandersetzung mit geschichtsphilosophischen Kategorien gehört seit Marx, Engels und dem „Kommunistischen Manifest“ zu den vernünftigen Debatten um sozialistische Konzepte und Politik. Insofern ist die Frage, wie nach dem Scheitern des Realsozialismus in Osteuropa, im 21. Jahrhundert sinnvoll über „Sozialismus“ und „Kommunismus“ zu reden ist, zunächst eine sozial-theoretische Frage, dann eine programmatische und erst zuletzt eine tagespolitischer Verwendbarkeit. In den aufgeregten Medienaufwallungen der vergangenen Jahre, etwa zur Verwendung des Wortes „Kommunismus“, wurde dies meist vermengt.

Der Begriff kommunistisch wird hier weder pejorativ noch nur auf den kommunistischen Parteitypus bezogen benutzt. Er beschreibt präzise das, was von 1917 bzw. 1945 bis 1989/91 im Osten Deutschlands und Europas historisch absolviert wurde. Der ursprüngliche Unterschied zwischen Sozialismus und Kommunismus ist nicht der, der von Marx kam und später unter Stalin dogmatisiert wurde, nämlich einer von zwei Phasen einer Gesamtentwicklung der Gesellschaft in der Geschichte. Die ursprüngliche Differenz, wie sie Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa allgemein bekannt war, ist die zwischen zwei unterschiedlichen politischen und Gesellschaftskonzepten: Mit dem Heraufkommen der Industrie hatte sich die soziale Frage, die vordem stets die Agrarfrage, nämlich die Frage nach dem Bodeneigentum war, in die Frage nach dem Anteil der Besitzlosen, der Proletarier an der Gesellschaft verwandelt. Die „kommunistische Antwort“ auf diese soziale Frage war die Enteignung des privaten Produktivvermögens und der Versuch, die Produktion anders zu organisieren, nämlich über eine Zuteilung von Ressourcen, die Verteilung der Arbeiter auf die Produktionszweige, die Kontrolle und Verordnung der Preise usw. Die Kommunisten, die 1917 in Russland und mit dem zweiten Weltkrieg in anderen osteuropäischen Ländern an die Macht kamen, sahen folgerichtig im Staat das Instrument zu dessen Durchsetzung und in der Diktatur, mithin der Abschaffung der Freiheit und der Demokratie das Mittel, dies zu verwirklichen. „Sozialismus“ dagegen ist die „systematische Entwicklung der Idee des Kapitals, des Eigentums, der Familie, der Gesellschaft und des Staates unter der Herrschaft der Arbeit“ (Lorenz Stein). Auf diese Unterscheidung hat in der neueren sozialtheoretischen Literatur vor allem Ruben hingewiesen.28

Danach ist Kommunismus die Herstellung einer Gemeinschaftsordnung, die auf dem Prinzip der Abschaffung des persönlichen Produktivvermögens bzw. Eigentums beruht, Sozialismus dagegen eine Gesellschaftsordnung, die die Institutionen der Gesellschaft nicht abzuschaffen, sondern zu nutzen trachtet, um sie den Interessen der Mehrheit, die nicht über großes Kapitaleigentum verfügt, nutzbar zu machen. Soziale Demokratie, demokratische politische Verhältnisse, Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat sind die modernen Gestalten, in denen eine politisch erwirkte Kontrolle über die Kapitalverwertung im Interesse der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder sich erreichen lassen kann, um eine Dominanz „der Arbeit“ gegenüber „dem Kapital“, der menschlichen Interessen der wirklichen Menschen in der Gesellschaft gegenüber den Verwertungs- bzw. Profitinteressen der Kapitaleigentümer oder neudeutsch: „der Shareholder“, herzustellen. Das setzt die Fortexistenz und Nutzung der Basisinstitutionen der modernen Gesellschaft voraus, während deren Abschaffung nur wieder die Notdurft der staatssozialistischen – im sozialtheoretischen Sinne kommunistischen – Zuteilungswirtschaft reproduzieren würde. Die allerdings war ja 1989 gerade gescheitert.

Aus der Sicht der ursprünglichen Vorstellungen des Marxismus, wie sie bereits auf Marx zurückgehen, ist Kommunismus ein Stadium der Entwicklung höchster Produktivkraft, in dem Geld und Kredit, Ware und Preis, das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft sind und das Prinzip gilt: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“, in der zugleich die Freiheit des Einzelnen Voraussetzung der Freiheit aller ist.

Demgegenüber ist nach dem Scheitern des osteuropäischen Staatssozialismus oder, mit anderen Worten, des kommunistischen Herrschaftssystems erstens festzustellen, dass unter den Bedingungen der heutigen und für absehbare Zukunft vorstellbaren Entwicklung der Produktivkräfte ein gesamtgesellschaftlich vergemeinschaftetes Eigentum, das über den Staat reguliert wird, die menschlichen Produktivkräfte nicht voranbringt, sondern einschränkt. Zweitens sind die „Springquellen des Reichtums“ angesichts der Vernutzung der natürlichen Ressourcen nicht unendlich, sondern müssen in ihrer Allokation sparsam genutzt werden. Dazu gibt es bisher keine Alternative zu Ware-Geld-Beziehungen und Preisen. Es geht also nicht darum, alles zu vergemeinschaften, sondern über den Staat, Gesetze und politische Entscheidungen durch die Mehrheit der Menschen Produktion, Verteilung und Austausch zu kontrollieren und im Dienste der Mehrheit zu gestalten.

Das Ideal eines Kommunismus – im Sinne von Marx, nicht von Stalin – kann also dazu dienen, über eine menschliche Zukünftigkeit nachzudenken. Als regulative Idee für konkrete Politik hier, jetzt und für die nächsten Jahrzehnte taugt er nicht. Sozialismus und Kommunismus sind nicht zwei Stufen eines Ganzen, sondern – nach Ruben in Anlehnung an Stein – zwei deutlich zu unterscheidende Gesellschaftskonzepte. Das allerdings hat dann sozial-theoretische Konsequenzen und Folgen für programmatische wie politisch-praktische Vorstellungen.

Die DDR in der deutschen Geschichte

Analog zum Verein Berliner Debatte Initial wurde Anfang der 1990er Jahre in Potsdam der Verein Politischer Club Potsdam gegründet, der sich später in WeltTrends umbenannte und seit 1993 die gleichnamige Zeitschrift für internationale Politik herausgibt. Zu den ersten öffentlichen Veranstaltungen in jener Zeit gehörte eine Reihe, die sich mit der Analyse von Entstehung, Entwicklung und Scheitern der DDR befasste. Peter Ruben wurde eingeladen, einen Beitrag zu diesem Thema zu leisten. So entstand ein kurzes, allerdings sehr grundsätzliches Thesenpapier. Später hat die Zeitschrift  Berliner Debatte Initial das Thema wieder aufgenommen, ebenfalls mit einem wesentlichen Beitrag von Ruben.

Die Frage nach der DDR ist heute ein auf vielerlei Weise vermintes Gelände. Zur mehr oder weniger offiziellen Geschichtsdarstellung im heutigen Deutschland gehört, dass die BRD das eigentliche und die DDR das gleichsam uneigentliche Deutschland qua sowjetischer Besatzung war, eine Irredenta, durch deutsche Vereinigung zu erlösen. Insofern ist die Spaltung Deutschlands als Teil des Ganzen der deutschen Geschichte zur Kenntnis zu nehmen.

Natürlich war die Teilung Deutschlands Ergebnis des zweiten Weltkrieges und des Untergangs des Hitler-Reiches. Die Besatzungsmächte haben in ihrem jeweiligen Besatzungsbereich jene politischen Kräfte präferiert, die ihnen politisch am nächsten standen. Oftmals wird, um von daher die nachmalige Entwicklung im Osten Deutschlands zu erklären, auf die internen Pläne, Vorhaben und Konzeptionen der sowjetischen Führung unter Stalin 1944/1945 verwiesen. Die Entwicklung im Osten Deutschlands nach 1945 ist in der Tat von den weltpolitischen Konzepten Stalins nicht zu trennen (wie auch die Entwicklung im Westen Deutschlands nicht von den Konzepten der USA, Großbritanniens und Frankreichs), aber nicht allein aus diesen zu erklären. Um die Verhältnisse in Deutschland zu gestalten, bedurfte es deutscher politischer Kräfte, die eigene politische Interessen und Pläne verfolgten, die mit denen der jeweiligen Besatzungsmacht zusammentrafen. Dies war ein korrelatives Verhältnis: die Besatzungsmacht suchte sich jene politischen Kräfte, die ihren politischen Zielen entsprachen, und unterstützte sie; die unterschiedlichen, ja gegensätzlichen politischen Kräfte in Deutschland suchten ihrerseits die Unterstützung jeweils jener Besatzungsmacht, deren Grundinteresse mit dem ihren im Wesentlichen übereinstimmte. Die tatsächliche Entwicklung in Deutschland nach 1945 war das Ergebnis des Wirkens der Siegermächte und der verschiedenen deutschen politischen Kräfte. So ist die Entstehung und Geschichte der DDR Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte und daher Folge des verbrecherischen Eroberungskrieges, den Deutschland unter Führung Hitlers begonnen und verloren hatte. Sie ist zugleich Teil des Versuches der Sowjetunion, ihren Machtbereich bis nach Mitteleuropa auszudehnen und zu erhalten, wo sie auf das analoge geopolitische Machtstreben der angelsächsischen Siegermächte traf.

So unterstrich Peter Ruben: Es sind allgemeine weltgeschichtliche Bedingungen der Existenz der DDR und die spezifisch deutschen Umstände zu unterscheiden. Die besondere deutsche Natur der Existenzbedingungen der DDR liegt darin, „die staatliche Konstituierung einer der Bürgerkriegsparteien in der Revolution von 1918/19 zu sein. Was sich vierzig Jahre, von 1949 bis 1989, in Deutschland in Entgegensetzung gegenüberstand, waren die Parteien der linken Reichstagsmehrheit von 1917 (SPD, Zentrum, Linksliberale) einerseits und die revolutionären Sozialisten andererseits, die in der Revolution die angenommene Alternative – Nationalversammlung oder Rätemacht – im Widerspruch zueinander entscheiden wollten. Die Phrase ‚Rechtsstaat oder Arbeiter-und-Bauern-Macht‘ ist nur eine andere Benennung des von der Revolution gestellten Problems.“29 Angesichts der konkreten historischen Konstellationen, der Niederlage der Linken 1919, der Unfähigkeit der Deutschen, auch der Arbeiterparteien, 1933 Hitler zu verhindern bzw. während des Krieges zu stürzen, hatte dies eine besondere Bereitschaft der deutschen Kommunisten zur Subordination unter die Führung der KPdSU zur Folge, womit ihre Abhängigkeit von den Entscheidungen in Moskau existentielle Bedingung für die DDR wurde. „Sucht man also den Standort der Deutschen Demokratischen Republik [...] in der deutschen Geschichte zu bestimmen, so wird man finden, dass sie die mit Hilfe der russischen Kommunisten und ihrer siegreichen Roten Armee Staat gewordene linke Opposition von 1918/19 (KPD sowie Teile der USPD) ist. Die personelle Kontinuität in der Gründergeneration der DDR ist ganz unverkennbar. Und wenn diese sich nach dem Mai 1945 um viele Personen erweiterte, die 1918/19 durchaus nicht zur linken Opposition gehörten, so muss die Erfahrung mit dem deutschen Faschismus in Rechnung gestellt werden, die 1945/46 die Annahme einer sozialistischen Perspektive Deutschlands in sehr weiten Bereichen der politischen Akteure als Selbstverständlichkeit erscheinen ließ – von der Sozialdemokratie in der Repräsentanz  Grotewohls bis Schumachers bis zum Ahlener Programm der CDU, von den Kommunisten nicht zu reden. Dass die DDR unter Besatzungsrecht entstanden ist, bedeutet nur eine konkrete geschichtliche Bedingung des Handelns der linken Opposition. Dieses Schicksal teilt sie mit der Bundesrepublik. Es macht also keine Spezifik der deutschen Politik nach  1945 für sich aus. Es besagt nur, dass sie unmittelbar in die internationale Politik eingebettet realisiert werden musste. Aber das ist für die deutsche Geschichte schlechthin kein neuartiges Phänomen. Die DDR als spezifisch deutsches Geschehen zu verstehen, heißt, sie als Erbin des deutschen Kommunismus zu denken. Und der ist wahrhaftig ein hausgemachter Geselle, kein in die deutsche Geschichte hineingeschmuggelter ‚Agent einer ausländischen Macht‘.“30

Von ihren Verfechtern wurde die DDR immer als eine eigene Antwort auf das Hitler-Reich verstanden. Krieg und Faschismus sollten niemals wieder möglich sein. Diese Antwort nahm jedoch typologisch die Gestalt des sowjetischen, stalinistischen Sozialismus an. Dessen bewusste Träger blieben eine Minderheit in der DDR-Gesellschaft. Der Antifaschismus und die proklamierte Lösung der sozialen Frage in ihrer kommunistischen Gestalt sollten dem kommunistischen Herrschaftssystem eine eigene Legitimität geben, die nicht nach der zahlenmäßigen Zustimmung in der Gesellschaft fragte. Die Abschaffung des Realsozialismus in der DDR wurde dagegen von der Mehrheit der Bevölkerung bewirkt und vollzogen. Das Legitimationspotential, wie groß es auch immer gewesen sein und worin es auch bestanden haben mag, war wirtschaftlich, politisch und geistig am Ende der 1980er Jahre aufgebraucht. 

Um die Nation

Mit der deutschen Vereinigung 1990 sowie dem Zerfall der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens war auch in Europa die Frage der Nation wieder auf die Tagesordnung gerückt. In Gestalt der Separationsbewegungen in Katalonien und Schottland hat sie auf neue Weise nun auch den Westen des Kontinents erreicht. Die erste Reaktion vieler Linker, zumal in Deutschland, in den 1990er Jahren war es, dieses Problem zu verdrängen. Es sei die falsche Frage. Die Beschäftigung damit wurde gleichsam als nicht „politisch korrekt“ empfunden.

In Potsdam war die Nationsproblematik 1992 Thema einer Konferenz, die die damals besonders aktuellen Entwicklungen in Osteuropa in einen breiteren europäischen, aber auch historischen und theoretischen Kontext stellen sollte. Peter Ruben war gebeten worden, den Einleitungsbeitrag zu halten. Sein Ausgangspunkt war, die Problematik der Nation insbesondere vor dem Hintergrund von Gemeinschaft und Gesellschaft zu erörtern. Ausgangsthese dabei ist, „dass die Nation zu jenen menschlichen Bildungen gehört, die wir unter den Begriff der Gemeinschaft subsumieren können. Die Nation ist, wenngleich die entsprechende Wortbildung oft genug verwendet wird, keine Gesellschaft, sondern eine Gemeinschaft. Sie ist das als Verein zur wechselseitigen Unterstützung ihrer Angehörigen ohne Rücksicht auf den individuellen Anteil in der Bildung des Unterstützungsfonds. Sie ist das als die Produzentin einer volks- oder nationalwirtschaftlichen Infrastruktur [...]“.31

Diesseits von weltrevolutionären Träumen über Alternativen zum Kapitalismus, nachdem der Sozialismus von einer „Wissenschaft“ wieder zur Utopie geworden ist, gilt es stärker denn je, die Welt zunächst so zu nehmen, wie sie ist. Im Kommunistischen Manifest heißt es: „Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehn wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.“ Diese Charakterisierung der großen Entwicklungslinien von Produktivkräften und Weltwirtschaft, wie sie Marx und Engels vor 150 Jahren vornahmen,32 scheint heute ihre tatsächliche Realisierung zu finden.

Die Globalisierung von Waren- und Finanzmärkten wurde zur Tatsache und zugleich zur Bedingung für den Reichtum der Nationen und die Wohlfahrt der Menschen in ihnen. Insofern ist die Nation im Angesicht globaler Herausforderungen zu betrachten. Sie ist eine eigenständige, sozialhistorisch begründete Verbindungsweise zwischen Menschen. Das Modell von Ernest Gellner erweist sich als hinreichend erklärungsfähig:33 Mit der Nationalökonomie entstand der moderne Staat, der die einheitliche Rechtsordnung, den einheitlichen Entwicklungsraum für die Wirtschaft und das vereinheitlichte Bildungssystem mit schuf und sicherstellte.

Die Entscheidung darüber, welche Sprache diesen Prozess trug und die gleichsam vormoderne – sich in diesem Prozess allerdings selbst modernisierende – Voraussetzung für die Nationsbildung abgab, war nie voraussetzungslos, bei einigen der größeren Völker auch im Grunde von vornherein klar, bei anderen, kleineren oder multinational bzw. multikulturell zusammengesetzten das Ergebnis politischer Kämpfe oder auch unmittelbarer Gewaltanwendung. Unter veränderten Bedingungen, bei Nachlassen oder Demokratisierung der Staatsgewalt konnte diese Entscheidung durchaus auch wieder in Frage gestellt werden, etwa in Katalonien. In Einzelfällen sind auch mehrsprachige nationale Zusammenhänge möglich, wie etwa in Gestalt der Schweiz. (Hier spielt eine Gruppe von Sprachen die Rolle, die sonst der Sprache der Hochkultur zukommt. Was allerdings in diesem konkreten Falle nur unter der Voraussetzung möglich ist, dass die hochkulturelle Sprachpflege des Deutschen in Deutschland, des Französischen in Frankreich und des Italienischen in Italien erfolgt.34)Anderenorts lässt die Kohäsionskraft des „Schmelztiegels“ nach, wie im Fall der USA. Dennoch bleibt, die Verteilung von Berufschancen wird vorwiegend über Kenntnis und Beherrschung der jeweiligen Hochkultur vermittelt, so dass diejenigen, die sich dem nicht stellen, auf die sozial niederen Beschäftigungen verwiesen bleiben oder lediglich in ihrem kulturell-ethnischen Ghetto – wenn es denn genügend groß ist – begrenzte Aufstiegschancen haben; das betrifft etwa Teile der türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland oder der Hispanos bzw. Chinesen in den USA.

Die Nation und der ihr zugehörige Staat sind in Europa und darüber hinaus als historisch gewachsene Organisations- oder Lebensformen menschlicher Gesellschaft vorauszusetzen, die gewiss nicht – oder nicht mehr – die ihnen im 19. Jahrhundert zugeschriebene Potenz haben. Sie werden von der Weltgesellschaft und der Weltwirtschaft einerseits und dem wachsenden Gewicht der Regionen andererseits schrittweise relativiert, behalten aber doch ihren Platz und ihr Gewicht in der Geschichte. Als solche ist die Nation und ihr Staat auch Träger national-staatlicher Interessen, die im Verhältnis zu anderen Nationen und Staaten sowie zu anderen Akteuren der internationalen Beziehungen zu realisieren sind. Die Bestimmung dieser nationalen Interessen erfolgt in der jeweiligen Gesellschaft gemäß Verfassungs- beziehungsweise politischer Ordnung durch die in ihr wirkenden politischen Kräfte, Interessengruppen und sozialen Kräfte. Insofern ist es wie mit dem Wählen: Wer nicht hingeht, muss hinnehmen, was die anderen gewählt haben. Wer sich an der Interessendefinition und -artikulation nicht beteiligt, muss gegebenenfalls zur Kenntnis nehmen, dass die anderen mittlerweile entschieden haben.

In den politischen und sozialen Kämpfen des 19. und 20. Jahrhunderts hat sich das ursprüngliche Modell der (US-)amerikanischen und französischen Revolution durchgesetzt, das die Nation mit den Bürger- und Menschenrechten in eins setzt und die Verfassung zur Voraussetzung hat. Vor diesem Hintergrund wird denn auch die Zugehörigkeit zur Nation nach den Regeln der Konstituierung der Staatsbürgernation und nicht nach denen einer völkischen Nation bestimmt, was in der veränderten deutschen Staatsbürgerschaftsgesetzgebung seinen politischen Ausdruck findet. So bleibt hervorgehoben, nochmals mit den Worten von Peter Ruben, „dass die Nation keine bloße Ethnie ist, eine besondere unter speziellen Naturbedingungen oder unter spezifischen sozialen Umständen handelnde Volksgruppe, mehr oder weniger von den Ereignissen des Weltverkehrs betroffen. Sie ist vielmehr das Ergebnis politischer Konstituierung unter Voraussetzung der Teilnahme am Weltmarkt. Völker werden Nationen, indem ihre Individuen Staatsbürger werden, indem der Citoyen auftritt, der die Konstitution, die Verfassung, zur ideellen Bedingung seines politischen Verhaltens macht. Eine Nation ohne Verfassung ist so wenig vorhanden wie eine polis ohne nomos. Und eine Verfassung, die nicht die politische Gleichheit der in ihr definierten Staatsbürger deklariert, bedeutet nur die Karikatur der Idee nationaler Konstitution. In diesem Sinne ist die Bildung einer Nation stets die ideelle Antizipation einer stände- und klassenfreien Gemeinschaft. Und eben darin besteht die Attraktivität und Macht der Idee der Nation.“35

Die deutsche Vereinigung wie die Verselbständigung der vormaligen Sowjetrepubliken oder der Republiken Jugoslawiens zeigen, dass das Bild von der „verspäteten“ oder „zu späten“ Nation falsch ist. Der Nations-Bildungsprozess als Moment der Modernisierung hält auch im 21. Jahrhundert an und ist idealiter erst abgeschlossen, wenn die Weltgesellschaft zur Gänze von Nationen, die über ihre respektive Staatlichkeit verfügen, gebildet wird.

Zugleich wird dieser Prozess überlagert von der Globalisierung, die den existierenden Nationen ihre Bedingungen aufzunötigen bestrebt ist und den sich noch herausbildenden Nationen Hindernisse in den Weg legt. Da eine Weltregierung die Weltgesellschaft in absehbaren historischen Zeiträumen nicht zu ordnen vermag, bleibt dies ein naturhistorischer, das heißt hier: anarchischer Prozess, der auch immer wieder mit Gewaltausbrüchen, kriegerischen und anderen Auseinandersetzungen bzw. Konflikten verbunden ist. Ein Beitrag zur Verfriedlichung kann über außenpolitisch-diplomatische Einflussnahmen sowie die Stärkung der UNO erfolgen.

Für die Nationen in der EU ist der Integrationsprozess einerseits Moment der Globalisierung, indem dem Integrationsverbund Funktionen übertragen werden, die in der Vergangenheit von den Nationalstaaten wahrgenommen wurden. Andererseits ist er zugleich ein Schutzverbund gegenüber den Zumutungen der größeren, gleichsam „globalen“ Globalisierung. Der Nationalstaat hat in diesem Prozess an Regelungskompetenzen verloren, die insbesondere mit Wirtschaft, Zöllen und Kapitalverkehr zu tun haben. Auch die „souveräne“ Fähigkeit, Kriegsführung zu betreiben, zumal um den Preis von Kriegsverbrechen, ist seit dem Nürnberger Gerichtshof, nunmehr verstärkt durch die Ahndung der Massaker in Südosteuropa, immer mehr begrenzt worden. Übrig bleibt ein Torso der Souveränität, der zu tun hat mit der Verfassungsordnung, der eingeübten Praxis der Rechtsprechung, aber auch mit dem Bildungssystem, der Sprachpflege bzw. der staatlich präferierten Hochkultur und dem gemeinsam zurückgelegten politisch-gesellschaftlichen Schicksal, wie groß auch immer die Zeitspanne dessen sein mag.

Dieser Torso steht in völliger Übereinstimmung mit Gellners Modell. Die Nation, einmal entstanden, bleibt als Form der Vergemeinschaftung auch dann erhalten, wenn etliche ihrer Voraussetzungen entfallen sind; sie reproduziert und realisiert sich stets aufs Neue. So bleibt der Nation eine kulturelle Grundlage auch dann, wenn die anderen Entstehungsgründe und Entwicklungszusammenhänge nicht mehr in der ursprünglichen Weise bestehen. Auch mit den kulturellen Globalisierungsprozessen verschwinden die verschiedenen Kulturen nicht. Die eigene Kultur ist das Medium der Aufnahme, der Rezeption der globalisierten Kultur. Diese wiederum bewegt sich in verallgemeinerten, abgehobenen Chiffren. Allein schon die Tatsache, dass in Hollywood Studios, die wesentlich japanischen Firmen gehören, mit deutschen Regisseuren und französischen Schauspielern Filme erstellen, die in einem Amerika handeln, von dem die US-amerikanischen Fundamentalisten meinen, es hätte mit dem real existierenden Amerika nichts zu tun, weist darauf hin, dass die „globalisierte“ Kultur in erheblichem Maße ein virtueller Medienvorgang ist, der seine eigentliche, konkret ausmessbare Voraussetzung in einem global angezielten Markt, nicht aber in einer tatsächlichen Kultur oder Nation hat.

In ähnlichem Sinne wird McDonalds – von etlichen Kultursoziologen immer gern als Argument für kulturelle Globalisierung auf der Alltagsebene herbeigezogen – wohl in ein Marktsegment auch Frankreichs eingerückt bleiben, nicht aber die französische Küche liquidieren. Wie im Römischen Reich die Sprache der Reichsverwaltung das Lateinische war, ansonsten die Leute koptisch, aramäisch, griechisch usw. redeten, wird heute „Broken English“ zur lingua franca der globalisierten Weltgesellschaft, vielleicht auch der EU, während die kulturelle Selbstverständigung auf Deutsch, Französisch, Spanisch usw. erfolgt. Eine kulturelle Globalisierung gibt es nicht, bisher nicht einmal eine (EU-)Europäisierung der Kultur, die Nation behält demzufolge ihre kulturelle Disposition und Anziehungskraft. Sie bleibt als solche identitätsstiftend, wobei man sich die Identitäten durchaus nicht als ausschließende vorstellen darf; eher im Sinne soziologischer Rollentheorie:36 Man kann zugleich Bürger der Gemeinde Schulzendorf und des Landes Brandenburg sein, sich als Ostdeutscher verstehen und ebenso Deutscher und Europäer sein und in jedem dieser Zusammenhänge seinen Bezug herstellen.

Zugleich aber gilt: Nur dann, wenn man Gemeinschaft und Gesellschaft als zwei verschiedene Verbindungsformen von Menschen zu verorten vermag, die gleichzeitig bestehen und wirken und nicht ineinander übertragbar sind, ist der neoliberale Angriff auf die national-staatliche sozialpolitische Verantwortung abzuweisen. Die Nation als Gemeinschaft und die Gesellschaft der Kapitalverwertung bewegen sich in unterschiedlichen Raum-Zeit-Strukturen. Der Raum der Nation ist begrenzt, der Zeithorizont lang; denken wir an die Rentendebatten in Deutschland, so sind die ältesten Rentner an die einhundert Jahre alt und der Zeitraum, für den die derzeit umgesetzte Reform veranschlagt wird, drei Jahrzehnte – wir erhalten also einen zeitlichen Zusammenhang von Politik bzw. gesellschaftspolitischer Regelung, der insgesamt einhundertdreißig Jahre umfasst. Der Raum der Kapitalverwertung dagegen ist heute angesichts der Globalisierung faktisch unbegrenzt, die Zeit auf einen Punkt zusammengeschrumpft. Der Shareholder-Value soll morgen kommen, danach kann getrost die Sintflut über alle hereinbrechen.

Nun ist eine Gemeinschaft von der Art der Nation kein Ort der Glückseligkeit. Die Auseinandersetzungen mit den Behörden, den Hütern der Kassen, sind immer wieder neu zu führen, und es bleiben Auseinandersetzungen. Die Frage ist nur, welche Voraussetzungen des Zugangs zu den Leistungen die Mühseligen und Beladenen, die sozial Schwachen haben. Hier wirkt immer die soziologisch untersuchbare Logik von Eigen- und Fremdgruppe, in-group und out-group, und zwar auch bezüglich des Verhaltens der Staatsbürger oder Nation-Zugehörigen. Die depravierten Unterschichten der entwickelten Länder werden stets von sich selbst ausgehen und für sich eine Versorgung durch die Gemeinschaft einfordern, die sie armen Zuwanderern aus den Ländern der Peripherie nicht zubilligen wollen. Galtung schreibt dazu: „Menschen, die über Vermittler von der sehr armen Peripherie ins sehr reiche Zentrum wandern, werden – wenn sie nicht bereits von Polizei und Militär an den Grenzen angehalten werden – auf eine sehr reiche Arbeiterklasse treffen, die keine Arbeitsplätze hat oder deren Arbeitsplätze ernsthaft bedroht sind.“ Und er betont: „Die faschistische Natur dieses Zusammentreffens zeigte sich in verschiedenen EU-Ländern bereits sehr deutlich.“37

Der Kampf um die Erhaltung des Prinzips der Solidarität der Gemeinschaftsglieder muss die Barmherzigkeit mit den Anderen einschließen, wohl wissend, dass die eigene Kasse stets begrenzt ist und nicht alle Probleme, die das Verwertungsprinzip weltweit schafft, im eigenen Lande gelöst werden können. Dazu bedarf es international des gemeinsamen Wirkens aller Nationen und Staaten und im Innern einer aufgeklärten Politik. Bei Ruben heißt es dazu: „Wo […] Ausländerfeindlichkeit artikuliert wird oder gar herrscht, haben wir es mit kindischer Verrücktheit zu tun, der die Normen der Zivilisation entgegengesetzt werden müssen – und zwar im Interesse der nationalen Selbsterhaltung. Indem die Nationsbildung die Konstituierung einer Vielheit von Nationen unterschiedlicher produktiver Potenz bedeutet, wird durch sie auch die Gefahr des feindlichen Gegensatzes zwischen ihnen hervorgebracht. Diese Gefahr auszuschließen, ist die Aufgabe echter nationaler Politik, der bewusst ist, dass die eigene Nation nur ist, sofern die anderen sind, dass die Nationen nur im produktiven Verhältnis zueinander bestehen können. In der Durchsetzung dieses Bewusstseins hört die Nation auf, ein Problem zu bedeuten.“38 Und die Nation ist der Ort, daran zu arbeiten.

 

Anmerkungen

1   Der Verein Berliner Debatte Initial gibt aus Anlass des 80. Geburtstages von Peter Ruben eine Festschrift heraus: Erhard Crome, Udo Tietz (Hg.): Dialektik – Arbeit – Gesellschaft, Potsdam 2013. Dieser Text ist eine leicht gekürzte und modifizierte Fassung des Beitrages von Erhard Crome in diesem Band.

2   Hans-Christoph Rauh, Camilla Warnke: Stichwort „Peter Ruben“. In: Thomas Bedorf, Andreas Gelhard (Hg.): Die deutsche Philosophie im 20. Jahrhundert: Ein Autorenhandbuch, Darmstadt 2013.

3   INITIAL. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft. Heft 1, Berlin 1990, S. 1.

4   Ebenda, S. 4.

5   Die Zeitschrift „Sowjetwissenschaft/ Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge“ erschien 1989 im 42. Jahrgang; noch vor Gründung der DDR geschaffen, sollte sie der deutschen Leserschaft Artikel aus der Sowjetunion mit gesellschaftswissenschaftlichen Themen nahebringen. Sie war insbesondere in der Perestroika-Zeit von spezifischer Bedeutung, weil sie auch – nach Maßgabe des in der DDR Möglichen – kritische Texte zur Entwicklung der UdSSR enthielt, die für interessierte Leser, die des Russischen nicht mächtig waren, auf anderem Wege nicht zu erhalten waren. Insofern war es eine wesentliche Veränderung bei dem Übergang zu Initial, Originalbeiträge sowie nicht nur sowjetische Autoren zu publizieren. Verlegt wurde die Zeitschrift damals im Verlag Volk und Welt. Nachdem der dies nicht mehr fortzusetzen gedachte, hat der Verein Berliner Debatte Initial auch die verlegerische Herausgabe der Zeitschrift übernommen, die später in „Berliner Debatte Initial“ umbenannt wurde.

6   W. I. Lenin: Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung. In: Ders.: Werke, Bd. 5, Berlin 1955, S. 396. Unter diesem Motto stand übrigens die gesamte Publikationsreihe: „Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie“, die in der DDR von dem Philosophie-Institut der Akademie der Wissenschaften, vertreten durch den Direktor Manfred Buhr, herausgegeben wurde – Ermahnung und Drohung zugleich.

7   INITIAL. Heft 3, Berlin 1990, 2. Umschlagseite.

8   INITIAL. Heft 4, Berlin 1990, S. 442.

9   Ebenda.

10 Ebenda, S. 442/443.

11 Die Reformdebatten, die es auch in der DDR gab, etwa in Gestalt des sog. SED-Reformdiskurses, hatten selbstverständlich einen analytischen Bezug zum DDR-Sozialismus. Die Rezeption westlicher Modernevorstellungen, die Vorstellung des „modernen Sozialismus“ als Auflösung realsozialistischer Zentralstaatlichkeit hin zur Ausdifferenzierung autonomer gesellschaftlicher Bereiche von Wirtschaft, Recht, Politik, Kultur im Kontext des Sozialismus-Projektes an der Humboldt-Universität oder ähnliche Überlegungen an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beeinflussten die konzeptionellen Positionierungen auf dem Außerordentlichen Parteitag der SED/PDS im Dezember 1989 und trafen sich beispielsweise mit Rolf Henrichs Analyse des „Vormundschaftlichen Staates“, die ihrerseits in die Positionsbestimmung des „Neuen Forums“ im Herbst 1989 einfloss. (Vgl. „Der SED-Reformdiskurs der achtziger Jahre“. Abschlussbericht des von der Deutschen Forschungsgesellschaft [DFG] finanzierten Forschungsprojektes. Erarbeitet von Lutz Kirschner, Erhard Crome und Rainer Land. In: http://www.rosalux.de/publication/28682/der-sed-reformdiskurs-der-achtziger-jahre.html.) So gab es relativ rasch einen neuen Grundkonsens zur Streichung der „Führenden Rolle“ der SED aus der Verfassung der DDR, zu Rechtsstaat und Marktwirtschaft. Rückblickend gilt m.E. jedoch insgesamt, dass sich die Ereignisse in der Zeit von Oktober 1989 bis März 1990 rascher vollzogen, als die wissenschaftliche Reflexion darüber, und dass es einen relevanten konzeptionellen Vorlauf, etwa vergleichbar dem der ungarischen Reformer Ende der 1980er Jahre, in der DDR 1989 nicht gab.

12 Michael Brie: Die allgemeine Krise des administrativ-zentralistischen Sozialismus. Eine reproduktionstheoretische Skizze. In: INITIAL. Heft 1/1990, S. 17, 25. Die Weiterentwicklung dieses Ansatzes der Krisenzyklen des Realsozialismus ist nachzulesen in: Michael Brie, Dieter Klein (Hg.): Zwischen den Zeiten. Ein Jahrhundert verabschiedet sich, Hamburg 1992, S.57ff. Siehe auch: Helmut Bock: Partei - Staat - bürokratische Kaste. Zu einigen struktur-analytischen Aspekten bezüglich des staatsmonopolistischen Sozialismus in der DDR. VMS-Materialien Nr. 1, Bern 1993.

13 Reinhard Mocek: Vom Patriarchensozialismus zur sozialistischen Demokratie. Gedanken zu einer neuen Theorie der Gesellschaft. In: INITIAL. Heft 1/1990, S. 5ff.

14 Hans-Peter Krüger: Moderne Gesellschaft und „Marxismus-Leninismus“ schließen einander aus. In: INITIAL, Heft 2/1990, S. 149.

15 Rolf Reißig: Der Umbruch in der DDR und das Scheitern des ‘realen Sozialismus’. In: Rolf Reißig, Gert-Joachim Glaeßner: Das Ende eines Experiments. Umbruch in der DDR und deutsche Einheit, Berlin 1991, S. 12ff, Zitat S. 56.

16 Wolfgang Engler: Auf dem Weg zu einer Gesellschaft der Individuen? Kollektive Handlungschancen jenseits und gegenüber von Vermachtung und Vermarktung. In: INITIAL, Heft 4/1990, S. 398.

17 Peter Ruben: Was ist Sozialismus? Zum Verhältnis von Gemein- und Personeneigentum an Produktionsmitteln. In: INITIAL, Heft 2/1990, S. 116.

18 Ebenda, S. 116/117. Die Zitate von Karl Marx aus: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In der neuen Ausgabe: Marx, Engels: Werke (MEW), Bd. 40, Berlin 2012, S. 534-536. Hervorhebungen von Marx.

19 Ebenda, S. 117.

20 Ebenda. Hervorhebung von Ruben.

21 Ebenda, S. 125.

22 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1887), Darmstadt 2005, S. 3f.

23 Peter Ruben: Die kommunistische Antwort auf die soziale Frage. In: Berliner Debatte Initial, Heft 1/1998, S. 6.

24 Peter Ruben: Realität und Problem der Nation. In: Erhard Crome, Jochen Franzke: Nation und Nationalismus, Berlin 1993, S. 22.

25 Peter Ruben: Die kommunistische Antwort, S. 7f.

26 Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In: MEW, Bd. 40, S. 538.

27 Peter Ruben: Grenzen der Gemeinschaft? In: Berliner Debatte Initial, Heft 1/2002, S. 54.

28 Vgl. Peter Ruben: Die kommunistische Antwort auf die soziale Frage, a.a.O.

29 Peter Ruben: Thesen zu einem Vortrag auf der Tagung des Politischen Clubs Potsdam e.V. zum Thema: „Wirklichkeiten in der DDR – Strukturen und Handlungsmuster“, Januar 1993.

30 Peter Ruben: Vom Platz der DDR in der deutschen Geschichte, in: Berliner Debatte INITIAL, Heft 2-3/1998, S. 23f.

31 Peter Ruben: Realität und Problem der Nation. A.a.O., S. 23.

32 Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In MEW, Bd. 4, S. 466.

33 Ernest Gellner: Nationalismus und Moderne, Berlin 1991.

34 Das Wort „Parasit an seinen Nachbarn“, das Gellner hier benutzt, soll hier nur erinnert werden. Ebenda, S. 76.

35 Peter Ruben: Realität und Problem der Nation. A.a.O., S. 29f. Hier sei daran erinnert, dass bereits die Ethnie keine naturhistorische Gegebenheit, sondern Resultat kultureller Formierungsprozesse ist.

36 Vgl. Günter Wiswede: Soziologie. Grundlagen und Perspektiven für den wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Bereich, Landsberg am Lech, S. 179ff.

37 Johan Galtung: Der Preis der Modernisierung. Struktur und Kultur im Weltsystem, Wien 1997, S. 27.

38 Peter Ruben: Realität und Problem der Nation. A.a.O., S. 31.

 

Erschienen in: Berliner Debatte INITIAL 24 (2013) 4, S. 105-122