»Special Collection Service«

Seit vier Monaten kommen Woche für Woche neue Praktiken, Netzwerke und Ziele westlicher Geheimdienste an die Öffentlichkeit. Ein Glücksfall, bestenfalls zu vergleichen mit der Veröffentlichung der »Pentagon Papers« zur Zeit des Vietnam-Krieges und der Aufdeckung der Watergate-Affäre,[1] aber noch darüber hinaus gehend.

Allein schon was das globale System der National Security Agency anbelangt, in enger transatlantischer Freundschaft mit den britischen Stellen, vernetzt in den Prism-, Uplink- und Tempora-Programmen. Dank gebührt dem Whistleblower Edward Snowden.[2] Ein »Aufklärer«, wie Heribert Prantel schreibt, der sich »um die Sicherheit (nicht nur) Deutschlands verdient gemacht« hat (Süddeutsche Zeitung vom 28.10.2013).

Im »Weißen Haus« läuft das Krisenmanagement auf Hochtouren. Die Berater des Präsidenten streuen die Nachricht, Obama habe von vielem nichts gewusst. Eine von US-Administrationen immer wieder geübte Praxis. Seit der Ära Kennedy hat sich jede Regierung um »plausible deniability« bemüht – um die Fähigkeit, ein Mitwissen plausibel abstreiten zu können. So haben die Vorgänger Obamas in den 1970er Jahren entschieden zurückgewiesen, von Anschlägen bis hin zur Ermordung ausländischer Staatsoberhäupter durch den Geheimdienst CIA gewusst zu haben.[3]

Irgendwann wird man es erfahren: entweder über einen Präsidenten, der absegnete und fortsetzte, was sein Vorgänger Bush, gegen dessen Fanatismus er gewählt worden war, vor und nach 9/11 in die Wege geleitet hatte; oder ein Präsident, der der Verselbständigung der Staatsapparate und deren Eigenlogiken ebenso hilflos gegenüber steht wie das Repräsentantenhaus und der Senat, deren Abgeordnete sich von Leuten wie James Clapper und Keith Alexander, den Spitzen der NSA, auf der Nase herumtanzen lassen. Das eine ist wie das andere Demokratieentleerung pur.

Richtig Fahrt aufgenommen hat der NSA-Skandal erst, als bekannt wurde, dass Mitarbeiter der »Special Collection Service« (SCS) aus der US-amerikanischen Botschaft heraus in unmittelbarer Nähe des Brandenburger Tores mit modernen Hochleistungsantennen die Kommunikation im Berliner Regierungsviertel abhören.[4] Wie es US-Einrichtungen in etlichen Hauptstädten der Welt tun. Plötzlich ist die Empörung der Regierenden groß.

So groß wie die damit verbundene Heuchelei: Denn als die weltweite Ausspähung der Kommunikation im Internet bekannt wurde, wiegelte allen voran die Koalition der Kanzlerin Merkel ab. Kritikern wurde Anti-Amerikanismus vorgeworfen. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich trompetete nach seinem peinlichen Abstecher in die Vereinigten Staaten, alle Vorwürfe hätten sich in »Luft aufgelöst«. Mitte August erklärte Kanzleramtschef Ronald Pofalla die NSA-Affäre für beendet. Eine lächerlich komödiantische Inszenierung, die gleichwohl demokratietheoretisch tiefer blicken lässt.

Erstens: Es ist bezeichnend, dass Angela Merkel erst als Betroffene reagiert. Auch jetzt ist für sie und ihr Umfeld nicht die Tatsache, dass die NSA millionenfach und weltweit den Datenverkehr abschöpft, der Skandal, sondern dass sie als in ihrer ganzen Exklusivität als Regierungschefin Zielperson wurde. Die Kanzlerin und ihr Regierungspersonal handeln nicht als Repräsentanten eines Rechtsstaates, dessen vornehmste Aufgabe es sein sollte, die Grundrechte der Bürger zu schützen, sondern als politische Repräsentanten im Privaten. Amt und Person stehen im Fokus – nicht ein Gemeinwesen, dessen Unterwanderung und demokratische Entleerung es zu verhindern gilt. So zeigt sich im offiziellen Entsetzen selbst noch der postdemokratische Zustand der politischen Repräsentation.

Im Übrigen: Wenn Merkel seit 2002 abgehört wurde, als sie als CDU-Vorsitzende noch der größten Oppositionsfraktion im Parlament gegen die Regierung Schröder/Fischer vorstand, heißt das: Das ganze parlamentarische Geschehen in der Bundeshauptstadt ist Zielobjekt. Es bringt nichts, auf die Regierungschefin und ihre Entourage zu starren. Was unternimmt Frank-Walter Steinmeier, um die Rechte der (noch) Opposition zu wahren?

Zweitens: Mit ihren Horchposten in diversen europäischen Hauptstädten[5] gebärdet sich die US-Administration so, wie sie es mit einer Mischung aus dezidierter Machtpolitik, Skrupellosigkeit, Arroganz und Ignoranz über Jahrzehnte im von ihr so definierten »Hinterhof« Lateinamerika getan hat. »So benimmt sich ein Hegemon, der seine Verbündeten für Vassalen hält« (Prantl). Es wäre näher zu diskutieren, was sich darin ausdrückt: Festigung des »American empire« oder dessen Erosion im Übergang zum »Asian century«, die durch autoritäre Staatsapparate gebremst werden soll?

Das deutsch-amerikanische Verhältnis ist ein Spezielles. So verweist der Historiker Josef Foschepoth (Uni Freiburg) auf Verträge zwischen Deutschland und den Alliierten aus den 1950er Jahren, die noch heute existieren und eine Überwachung auf deutschem Boden erlauben: »Da steht natürlich nicht drin, dass die Amerikaner die Kanzlerin abhören dürfen, aber auch nicht, dass sie das nicht dürfen. Ein Geheimdienst, der Interessantes erfahren will, observiert natürlich die Topleute« (Zeit online am 25.10.2013).

Drittens: »Wer die Bundeskanzlerin und ganze Gesellschaften abhört, will Profit machen. Auf diese einfache Formel muss man augenblicklich die Moral der Überwachungsaffäre reduzieren«, schreibt Frank Schirrmacher im Leitkommentar der FAZ vom 1.11.2013. Ist das wirklich so einfach?

Über lange Jahre hat die IT-Industrie mit NSA e tutti quanti wohl immer wieder technologisch und informationspolitisch zusammen gearbeitet. »Nicht wenige Hersteller haben der NSA in der Vergangenheit sogar ihre sonst sorgsam geheim gehaltenen Quelltexte für ihre Software zur Verfügung gestellt« (Constanze Kurz in der FAZ vom 1.11.2013). Man darf davon ausgehen, dass alle Seiten – NSA wie Microsoft & Co das als Win-Win-Situation gesehen haben. Solange das klandestin ablief. Die Öffentlichkeit hingegen, die nun zumindest bruchstückhaft hergestellt ist, dürfte das verändert haben. Für Konzerne wie Google und Yahoo, in die sich die NSA eingehakt hat, wird ihr Geschäftsmodell beschädigt.

Wächst das Misstrauen der Nutzer hinsichtlich Datenverwendung und Datensicherheit noch weiter, wird das Big-Data-Geschäft in Mitleidenschaft gezogen. Dessen Vernetzungsqualität muss umfassend sein, was bedingt, dass möglichst alle sich als »User« verhalten, die ihre Daten ungeschützt zur Verfügung stellen. Weiße Flecken in Markt- und Kundenprofilen oder der verstärkte Wunsch nach Datensicherung gegenüber geheimdienstlichen Zugriffen gelten in diesen als äußerst lukrativ bewerteten Zukunftsmärkten als Geschäftsschädigung.

Was tun? Die Forderung der Linken und der Grünen nach einer Sondersitzung des neugewählten Bundestages und der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses über die Abhöraktivitäten des US-Geheimdienstes NSA – aber nicht nur diesem – ist richtig. Das Thema muss raus aus kleinen Geheimrunden und in die öffentliche Debatte.[6] Sie muss genutzt werden, um den wirklichen Charakter und Zweck der Ausspähungen deutlich zu machen.

Hans Christian Ströbele hat mit dem Gespräch mit Edward Snowden in Moskau einen wichtigen Schritt getan. Snowden würde vor einem Untersuchungsausschuss in Berlin aussagen – wird ihm die große Koalition mit einem designierten Bundesinnenminister Oppermann die erforderlichen Sicherheitsgarantien geben? Oder muss ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zwischen Berlin und Moskau pendeln – in Putins Gnaden?

Die Ankündigung, erneut eine »hochrangige« Delegation nach Washington zu senden, um über ein »No spy«-Abkommen zu verhandeln, ist angesichts der aktuellen Entwicklungen absurd. Die USA werden kein Abkommen abschließen, das von ihnen Selbstbeschränkung verlangt. So forderte NSA-Direktor General Keith Alexander nassforsch, der Berichterstattung durch die Medien über diese Geheimnisoffenbarung müsse Einhalt geboten werden.

Dabei könnten die Europäer die USA sehr wohl unter Druck setzen, um ihre Geheimdienstpraxis zu verändern. Die EU-Datenschutzverordnung etwa würde US-Konzernen wie Google oder Amazon einigen Ärger bereiten und die Freiheit der europäischen Bürger deutlich erweitern (taz vom 28.10.2013). Darüber hinaus könnte das »Swift-Abkommen« zwischen den USA und der EU auf Eis gelegt werden. Es gestattet den US-Behörden unter dem Rubrum »Terrorabwehr« den Zugriff auf Bankdaten bei allen Geschäften, die EU-Bürger mit Drittstaaten tätigen. Oder wie sieht es aus mit dem Vorschlag des Chaos Computer Club, die Unternehmen zu zwingen, gespeicherte Daten dem Bürger auf Anfrage mitteilen zu müssen?

Auch ein Blick nach Südamerika wäre lohnenswert: Hier denken Staatschefs darüber nach, ein eigenes Netz zu knüpfen. Denn die Spionage der NSA hat in den lateinamerikanischen Ländern das ohnehin verbreitete Misstrauen gegen die USA verstärkt. So prangerte die brasilianische Regierungschefin Dilma Roussef Mitte September in der UNO-Vollversammlung in New York den »Bruch des Völkerrechts« an und bezichtigte die US-Regierung, mit ihrer globalen Schnüffelei »die fundamentalen Menschenrechte der Bürger anderer Staaten zu verletzen« und »den Cyberspace als Kriegswaffe zu missbrauchen«.

[1] Siehe Frank Deppe: Der autoritäre Kapitalismus. Hamburg 2013.
[2] Otto König/Richard Detje: Der große NSA-Staubsauger – Die Überwachungsprogramme der britischen und amerikanischen Geheimdienste, in: Sozialismus, Heft 7/8-2013.
[3] 1975 und 1976 veröffentlichte das »Church Komitee«, ein Sonderausschuss des US-Senats, 14 Berichte über Operationen des US-Geheimdienstes CIA. Untersucht wurden die Versuche, ausländische Staatsführer zu ermorden wie u.a. Patrice Lumumba (Demokratische Republik Kongo), die Brüder Diem (Vietnam), General René Schneider (Chile) sowie der Plan, die Mafia zu nutzen, um Fidel Castro (Kuba) zu töten. Auf Empfehlung dieses Ausschusses untersagte Präsident Gerald Ford im Jahr 1981 die Ermordung ausländischer Politiker durch Geheimdienst-Mitarbeiter.
[4] Aus dem »Spiegel« vorliegenden Papieren geht hervor, dass für die NSA an über 80 Standorten weltweit ein »Special Collection Service« (SCS) zumeist in Botschaften und Konsulaten im Einsatz ist. Davon lagen 19 in europäischen Städten, etwa in Paris, Madrid, Rom, Prag und Genf. Neben Berlin unterhält die US-Regierung laut den internen NSA-Unterlagen eine zweite Spionageniederlassung in Frankfurt am Main (Der Spiegel, Nr. 44/28.10.2013).
[5] Allein zwischen Anfang Dezember 2012 und Anfang Januar 2013 soll die NSA 70 Millionen Datensätze zu französischen Telefonverbindungen registriert haben, so »Le Monde«. Die diplomatischen Vertretungen Frankreichs in Washington und bei den Vereinten Nationen wurden systematisch ausgespäht.
[6] Der britische Premierminister David Cameron profilierte sich jüngst erneut als Anti-Demokrat. Nach der vorübergehenden Festnahme des Lebensgefährten des Guardian Reporters Greenwald und der Zerstörung von Festplatten der Guardian-Redaktion warnte er im Parlament die Zeitungen seines Landes davor, weitere Enthüllungen von Edward Snowden zu veröffentlichen: »Wenn sie nicht gesellschaftliches Verantwortungsgefühl an den Tag legen, wird es sehr schwer für die Regierung, sich zurückzuhalten und nicht tätig zu werden« (Süddeutsche Zeitung vom 29.10.2013).